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Das Christbäumchen des Monsieur Dubois

„Du fehlst mir, Élaine“, murmelte Monsieur Dubois leise vor sich hin.

Seit Tagen hielt sich die Sonne hinter einer grauen Wolkenwand versteckt, die hin und wieder Regen in allen möglichen Variationen herabfallen ließ. Das Wetter war so trübe wie seine Stimmung. Die Erde hatte sich bereits etwas gesenkt auf dem Grab seiner Frau. Er legte ihr eine rote Rose nieder und wischte sich beim Gedanken an die schöne gemeinsame Zeit, die sie gehabt hatten, eine kleine Träne aus dem Gesicht. Die kahlen Bäume wippten leicht im Wind.

Sie hatten schon sehr jung geheiratet. Letztes Jahr feierten sie noch ihre goldene Hochzeit. Nur zu zweit, denn leider war ihre Ehe nie mit Kindern gesegnet worden, obwohl sie sich so sehr welche gewünscht hatten. Doch Élaine hatte dieses Los angenommen, wie es war. Sie kümmerte sich stattdessen jahrelang hier im Dorf um die Kinder, deren Eltern viel arbeiten mussten. Damals war das Betreuungsangebot noch ziemlich dürftig. Nie hatte sie ihre Freude verloren. Sie war beliebt gewesen bei Alt und Jung. Das Leben mit ihr war schön gewesen. Umso mehr fehlte sie Monsieur Dubois jetzt. Knapp drei Monate war es her, da sie plötzlich verstorben war. Ohne Vorwarnung. Ohne sich groß zu verabschieden. Der einzige Gedanke, der Monsieur Dubois ein bisschen tröstete, war der, dass ihr wenigstens ein großes Leiden erspart blieb. Sie fehlte ihm schrecklich. Seit sie nicht mehr war, fühlte er sich seltsam einsam.

Er war so anders gewesen als sie und doch hatten sie sich perfekt ergänzt. Jeden Tag hatte er ihr ein Stück auf dem Klavier vorgespielt. Er war Musiker, was ihm zwar nie großen Reichtum beschert hatte, aber ein glückliches Herz. Gefehlt hatte es ihnen trotzdem an nichts. Doch nun, da Élaine nicht mehr war, war auch sein Klavier verstummt und verstaubte langsam in der Ecke seines kleinen Häuschens. Er hatte die Freude verloren. Nicht nur an der Musik, irgendwie auch am Leben. Alles war auf einmal so trist geworden. So trist wie dieser Tag. Die Lücke, die Élaine hinterlassen hatte, war heute noch mehr zu spüren als sonst, denn es war Heilig Abend. Die Erinnerung an die Vergangenheit drückte ihn besonders und er fühlte sich unendlich einsam.

In Gedanken an unwiederbringliche Tage verließ er den Friedhof und stapfte auf dem matschigen Feldweg entlang, der durch das kleine Wäldchen führte, wo er fast täglich spazieren ging, sonst würde er das Haus wohl überhaupt nicht mehr verlassen. Plötzlich lag auf dem Weg die Spitze eines Tannenbaums, die der Sturm, der die letzten Tage gewütet hatte, abgerissen hatte. Er betrachtete sie eine ganze Weile. Sie erinnerte ihn an das kleine Christbäumchen, das Élaine jedes Jahr mit viel Liebe zum Detail geschmückt hatte, während er die kleine Weihnachtskrippe aufstellte, die noch von seinem Großvater stammte. Dieses Jahr hatte er nicht vorgehabt, Weihnachten zu feiern. Zu sehr schmerzte ihn noch der Verlust seiner Frau. Vielleicht würde er nie wieder Weihnachten feiern. Welchen Sinn hatte Weihnachten, wenn man alleine war? Es war einfach ein Tag wie jeder andere. Doch als er die abgebrochene Spitze des Tannenbaums so betrachtete, kam er nicht umhin, sie mitzunehmen. Es war, als würde ihn eine innere Kraft dazu anleiten.

Zu Hause angekommen, holte er den Christbaumständer aus dem Keller. Keine Ahnung, warum er das tat. Wie jedes Jahr stellte er ihn auf das kleine Tischchen im Wohnzimmer, das neben der wuchtigen Schrankwand stand. Irgendwie gab ihm dieses Ritual plötzlich Halt. Er steckte die Spitze des Tannenbaums hinein und betrachtet sein Werk. Furchtbar krumm war das Bäumchen und ein Ast war auch schon abgeknickt. Doch das störte ihn nicht. Er ging nochmals in den Keller und holte einen Karton herauf, in dem sich der Weihnachtsschmuck befand. Dann begann er, wie sonst immer Élaine, den Baum zu schmücken. Es war nicht so, dass es ihm Spaß machte, vielmehr reflektierte sich in jeder Christbaumkugel, die er aufhängte das Gesicht seiner Frau, wenn auch nur in seiner Fantasie. Wehmut begleitete ihn.

Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, heute zum Gottesdienst zu gehen, wie sonst immer. Doch als er den kleinen improvisierten Christbaum auf dem Tischchen stehen sah, überkam ihn irgendwie doch das Bedürfnis. Gemächlich zog er sich seinen Mantel und seinen Schal an, dann ging er nach draußen auf die Kopfsteinpflasterstraße, die zur alten Kirche führte. Es war bereits dunkel und ziemlich kalt. Die hohen Fenster des Kirchengebäudes waren vom Licht der Kerzen warm erleuchtet. Langsam bewegte er sich darauf zu.

„Monsieur Dubois!“, wurde er plötzlich gerufen, kurz bevor er das Portal zur Kirche betrat. „Monsieur Dubois! Wie gut, dass Sie da sind.“

Verwundert drehte er sich um und blickte in die aufgeregten Augen der Mesnerin.

„Ich?“, fragte er verwundert.

„Ja, Sie. Sie müssen Weihnachten retten.“

„Ich weiß nicht, ob ich der Richtige dafür bin“, trotze er.

„Die Organistin ist kurzfristig erkrankt. Könnten Sie nicht die Orgel spielen?“, bat sie ihn.

„Ich? Tut mir leid. Ich habe die Musik an den Nagel gehängt“, gab er ihr forsch eine Abfuhr.

„Monsieur Dubois! Bitte!“, flehte sie ihn an.

Er atmete tief ein und hielt für einen Moment die Luft an.

„Na gut“, pfiff er nicht gerade mit Begeisterung aus, was die Mesnerin jedoch dazu animierte, ihn zu umarmen und ein mehrfaches „Danke“ in sein Ohr zu säuseln.

Er hatte ein wenig Angst, dass sein Spiel mittlerweile eingerostet war. Doch als er schließlich an dem altehrwürdigen Instrument saß und die erste Taste drückte, war er recht schnell wieder in seinem Element. Die weihnachtlichen Melodien flossen ihm nur so aus den Fingern. Als dann am Ende des Gottesdiensts nur noch die Kerzen die Kirche erleuchteten und er die ersten Tönte des Liedes „Douce nuit“ anstimmte, welches von einem Chor begleitet wurde, überkam ihn kurz ein Gefühl voller Glückseligkeit.

„Monsieur Dubois, wie schön Sie gespielt haben“, wurde er von etlichen Menschen freudig angesprochen, die ihm nach dem Gottesdienst noch ein schönes Weihnachtsfest wünschten.

Manche umarmten ihn sogar dafür. In diesem Moment fühlte er sich ein klein bisschen weniger einsam. Langsam machten sich die Leute auf den Heimweg, um mit ihren Familien Weihnachten zu feiern. So ging auch Monsieur Dubois die Straße entlang zu seinem Haus. Es hatte zu schneien begonnen, was die dunkle Umgebung etwas freundlicher erscheinen ließ. Als er schließlich das leere Wohnzimmer betrat mit dem kleinen geschmückten Christbaum, erwärmte es ihm die Seele. Er zündete die Kerzen an seinem Bäumchen an, wie er es jedes Jahr gemacht hatte, setzte sich in seinen bequemen Lehnstuhl und beobachtete die Lichter, die sich in den glitzernden Kugeln spiegelten. Vielleicht sollte er doch mal wieder auf dem Klavier spielen, überlegte er ernsthaft und der Gedanke behagte ihm.

„Frohe Weihnachten, Élaine“, flüsterte er leise, denn er war sich in diesem Moment ganz sicher, dass sie es gewesen war, die ihm dieses Bäumchen auf den Weg gelegt hatte und dafür gesorgt hatte, dass er sich trotz seiner Einsamkeit an diesem Tag ein bisschen weniger alleine fühlte.

Impressum

Texte: C. Eberhardt
Bildmaterialien: C. Eberhardt
Cover: C. Eberhardt
Lektorat: C. Eberhardt
Korrektorat: C. Eberhardt
Übersetzung: C. Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Geli. Ich wünsche dir schöne Weihnachten. ❤️

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