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Der standhafte Soldat

Immer mal wieder hatte ich an ihn gedacht. Er war mir nie so richtig aus dem Sinn gegangen. Dabei erinnerte ich mich vor allem an seine blaugrünen Augen und dieses sanfte Lächeln, obwohl er sicherlich nichts zu Lachen gehabt hatte. Oft hatte ich mich gefragt, was aus ihm wohl geworden war. Und dann sah ich ihn plötzlich da sitzen vor diesem gemütlichen Eck-Café nahe dem Viktualienmarkt, an dem ich schon so oft vorbeigekommen war.

Es war ein wundschöner Tag im Frühling und die zart wärmenden Sonnenstrahlen lockten die Menschen nach einem langen Winter wieder auf die Straßen der Stadt. Vor ihm, auf dem kleinen runden Tisch, stand ein Kännchen mit Kaffee, aus dem unmerklich der Dampf stieg. Er rauchte gedankenversunken eine Zigarette und starrte auf einen kleinen Block, den er in der Hand hielt. Er trug eine Anzughose und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er locker hochgekrempelt hatte. Sein Jackett hing über dem Stuhl und sein nussbraunes Haar hatte er mit Pomade in Form gebracht. Er sah gut aus. Ich überlegte, ob ich ihn ansprechen sollte. Aber erinnerte er sich überhaupt noch an mich? Es war schon über fünf Jahre her, als wir uns zuletzt begegnet waren. Instinktiv verlangsamte ich meinen Schritt. Und gerade als ich an seinem Tisch vorbeiging, hob er seinen Kopf und blickte mir ins Gesicht.

„Elisabeth“, entfuhr es ihm überrascht.

„Georg.“

Ich blieb vor seinem Tisch stehen. Ein verlegenes Lächeln huschte mir über das Gesicht, das auf eine dezente Weise von ihm erwidert wurde. Mein Herz begann wild zu pochen. Ein seltsames Gefühl durchfuhr mich, das ich lange nicht mehr so empfunden hatte. Es war so wunderbar. Doch gleichzeitig stieg die Erinnerung an die Vergangenheit wieder in mir auf und dämpfte meine Euphorie.

„Wie geht es dir?“, wollte er von mir wissen. „Setz dich doch. Oder bist du in Eile?“

„Nein. Ich komme gerade von der Arbeit.“

Ich zögerte kurz, dann setzte ich mich einfach zu ihm an den Tisch.

„Oh, was arbeitest du denn?“, wollte er interessiert von mir wissen und stieß eine kleine Rauchwolke aus seinem Mund, bevor er den Stummel seiner Zigarette im Aschenbecher ausdrückte.

„Im Krankenhaus. Scheint, als hätte ich dort meine Berufung gefunden. Und wie geht es dir so?“

Verlegen strich ich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr, während er kurz an seiner Tasse nippte.

„Ich habe eine Anstellung bei einer Zeitung erhalten. Ein wahrer Glücksfall, wenn ich so schaue, wie es anderen ergangen ist“, meinte er nachdenklich.

Nickend stimmte ich ihm zu, denn ich wusste, wovon er sprach. Die letzten Jahre hatte sich zwar viel zum Positiven gewendet und eine zaghafte Leichtigkeit hatte sich in das Leben der Leute geschlichen, doch waren die Narben des Krieges noch immer allgegenwärtig. Ruinen zogen sich noch immer durch viele Straßen. Bauliche und menschliche.

„Ich habe jetzt dann eine Verabredung im Kino“, wechselte er abrupt das Thema.

„Oh“, entfuhr es mir, denn damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich wusste nicht, wieso ich angenommen hatte, dass die Zeit seit unserer letzten Begegnung stehen geblieben war. Wieso sollte ein Mann wie er nicht in festen Händen sein?

„Dann wünsche ich dir viel Vergnügen“, meinte ich etwas reserviert und machte Anstalten, mich von meinem Platz zu erheben.

Als wollte er mich davon abhalten, legte er seine Hand auf meine. Ein angenehmer Schauer durchfuhr mich, als ich seine warme Haut auf meiner spürte.

„Ich bin dort mit einem Freund verabredet. Sie zeigen einen Tonfilm mit Zarah Leander. Wenn du möchtest, kannst du uns gerne begleiten. Ich lade dich ein“, bot er mir mit einem Lächeln an, das jedoch beim Blick in meine Augen plötzlich erstarb. „Oder wartet jemand zu Hause auf dich?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Es wartet höchstens der kleine Streuner auf mich, dem ich jeden Abend einen kleinen Napf mit verdünnter Milch vor das Fenster stelle. Aber der kommt auch ganz gut ohne mich zu Recht. Meine Mutter ist gerade auf Erholung. Sie hat immer noch Probleme mit der Lunge“, erklärte ich ihm sachlich, ohne dabei Mitleid erheischen zu wollen.

„Dann kommst du mit?“, fragte er nochmals nach, während er dem Ober winkte, um zu zahlen.

Nickend stimmte ich zu, obwohl mich für einen kurzen Augenblick der Anflug eines schlechten Gewissens überkam, ohne dass ich sagen konnte, wieso. Er erhob sich, zog sein Jackett an und deutete mir ihm zu folgen. Ein leichtes Humpeln fiel mir an ihm auf.

 

***

 

Sein Freund war nett. Als ich zwischen den beiden im Kino saß, fühlte ich mich keine Sekunde unwohl. Immer wieder blickte Georg während des Films zu mir, während Zarah Leander mit ihrer markanten Stimme und ihrem eindrucksvollen Erscheinungsbild über die Leinwand flimmerte.

„Gefällt dir der Streifen?“, flüsterte er mir zu.

„Ja.“

Als wir am Ende des Films den Kinosaal wieder verließen, war es bereits dunkel draußen. Ich wohnte zwar nicht weit weg von hier, doch beschlich mich ein Unbehagen bei dem Gedanken, alleine durch die dunklen Gassen gehen zu müssen.

„Ich werde Elisabeth noch nach Hause begleiten“, erklärte er seinem Freund, als hätte er meine Gedanken gewittert.

„Das ist doch nicht nötig“, meinte ich verlegen zu ihm, doch insgeheim war ich froh, dass er sich von meinen Worten nicht beeindrucken ließ.

Einträchtig gingen wir die dunkle Straße entlang, die nur von wenigen Laternen und etwas Mondlicht erhellt wurde. Unsere Wohnung befand sich in einem Hinterhofgebäude. Die Fassade des Hauptgebäudes trug noch deutliche Spuren des Kriegs. Zwei Zimmer konnten wir bewohnen, was ich als puren Luxus empfand, wenn ich mich in der Gegend so umblickte. Kaum stand ich vor der Haustür, strawanzte auch schon der kleine Streuner schnurrend um meine Füße. Georg bückte sich zu ihm und streichelte ihn liebevoll.

„Ein süßer Kerl“, meinte er schmunzelnd.

„Ich bin froh, dass es dir wieder so gut geht“, meinte ich zu ihm. „Ich hätte nicht gedacht, dass du wieder…“

„Ich auch nicht“, fiel er mir ins Wort und richtete sich wieder auf. „Es schmerz immer noch, obwohl es doch eigentlich nicht mehr schmerzen sollte. Oder?“

Ganz nah standen wir uns gegenüber.

„In der Wohnung hätte ich eine Salbe, die gut dagegen hilft“, meinte ich zu ihm.

Leise, um bei den Nachbarn keine Aufmerksamkeit zu erregen, stiegen wie die Treppen hinauf. Erst jetzt merkte ich, wie schwer er sich damit tat. Doch er versuchte sich nichts anmerken zu lassen. In der Wohnung bot ich ihm das alte Sofa an. Eine kleine Glühbirne erhellte den Raum nur spärlich. In einer Schublade kramte ich nach der Salbe.

„Du müsstest dich nun frei machen“, kam der Satz über meine Lippen, den ich in meiner Funktion als Krankenschwester schon so oft gesagt hatte, doch spürte ich, dass er sich ein wenig genierte. „Hast du ein Problem damit?“

„Als ich dich ins Kino eingeladen habe, hatte ich ja irgendwie die Hoffnung, dass wir uns ein wenig näherkommen würden. Aber so hatte ich mir das nicht vorgestellt“, erklärte er mir genüsslich.

„Oh“, entfuhr es mir überrascht.

„Mir ist es immer noch unangenehm, obwohl ich weiß, dass ich dieses Schicksal mit vielen anderen teile. Und obwohl es tragisch ist, hätte es noch viel schlimmer kommen können“, erklärte er mir mit ruhiger Stimme, während er langsam die Knöpfe seiner Hose öffnete.

Ich musste zurückdenken an die Kriegszeit, als ich im Lazarett arbeitete und die vielen verwundeten Soldaten versorgen musste. Die Bilder hatten sich in meinen Kopf gebrannt. Junge Burschen, oftmals mehr tot als lebendig. Für manche kam jede Hilfe zu spät. Auch Georg war schwer verwundet gewesen, als er eingeliefert worden war. Seine Prognose war nicht unbedingt die beste und mit den Ärzten hatte er so einiges zu erdulden. Er war mir sofort ans Herz gewachsen, obwohl ich wusste, dass ich das nicht sollte. Er war noch so jung. Kaum älter als ich. Niemand sollte in diesem Alter mit der Hässlichkeit eines Kriegs konfrontiert werden. In keiner Weise.

Seine Hose rutschte über seine Schenkel auf den Boden und offenbarte seine Beinprothese, die auf seiner Haut Abdrücke hinterlassen hatte. Mit geübter Hand nahm ich sie ab.

„Jetzt bin ich dir hilflos ausgeliefert“, meinte er zu mir, während ich die Salbe auf meine Hände gab und ihm langsam unterhalb des linken Knies über den Stupf seines Beines massierte. „Es tut so gut.“

„So soll es auch sein.“

Er schloss seine Augen und lehnte sich zurück. Sanft ließ ich meine Hände auf und ab gleiten.

„Jeden Tag versuche ich zu verhindern, dass jemand mitbekommt, dass ich ein Krüppel bin“, sprach er langsam. „Das ist anstrengend. Doch bei dir fühlt es sich so selbstverständlich an. Ich darf sein, wie ich bin.“

„Es ist eben nicht so einfach ein Held zu sein“, erwiderte ich mitfühlend.

„Ob die Menschen etwas gelernt haben aus diesem Krieg?“, philosophierte er.

„Momentan haben sie vielleicht genug davon. Aber sagt ihnen in ein paar Jahren jemand, dass es für eine gute Sache ist, stehen doch alle wieder Gewehr bei Fuß, den Sieg vor Augen“, meinte ich seufzend zu ihm, während ich weiter seine Haut massierte.

„Jedem Sieg sind unzählige Verluste vorausgegangen“, meinte er nachdenklich. „Bei mir ist es nur ein Bein. Doch wie viele mussten ihr Leben lassen, egal auf welcher Seite. Wie kann man da von einem Sieg sprechen? Kanonenfutter kostet nicht viel.“

Ich hielt inne und blickte in seine Augen, die trotz der ganzen schrecklichen Erlebnisse der letzten Jahre ihr Leuchten nicht verloren hatten.

„Könntest du jemals mehr in mir sehen als den verwundeten Soldaten, der gesund gepflegt werden muss?“, wollte er von mir wissen.

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Hatte ich nicht schon immer etwas anderes in ihm gesehen? Langsam zog er mich zu sich her und seine Lippen legten sich zärtlich auf meine, was ich geschehen ließ und gleichzeitig eine ganz neue Gefühlsebene in mir eröffnete. Ich vergas, was gewesen war. In diesem Moment gab es nur noch ihn und mich und eine Welt voller Glück.

 

***

 

„Machst du so etwas eigentlich öfter?“, wollte ich von ihm wissen, als er mich am nächsten Morgen mit müden Augen anblinzelte.

Ein weißes dünnes Laken bedeckte unsere nackten Körper. Sein Haar, das gestern noch so akkurat frisiert gewesen war, stand nun lustig von seinem Kopf ab. Liebevoll streichelte er mir über meine Brust und meinen Bauch, dabei lächelte er sanft zu mir. Viel Schlaf hatte wir in dieser Nacht nicht gefunden. Die schönen Berührungen der vergangenen Stunden schwangen noch in mir nach. So etwas hatte ich noch nie erlebt.

„Nein“, antwortete er leise und küsste mich zärtlich auf mein Ohr, was ein angenehmes Kitzeln in mir auslöste. „Und du?“

Seine Haut war so schön warm und weich.

„Was denkst du denn von mir?“, antwortete ich mit gespielter Empörung und zog das Laken zu mir her, sodass er schutzlos vor mir lag.

Seine Oberarme wirkten stark und muskulös.

„Das Gleiche könnte ich dich fragen“, konterte er und suchte sich wieder seinen Weg zu mir. „Ich bin froh, dass deine Mutter nicht da ist.“

„Wieso denn?“

„Ich könnte nicht mal flüchten, wenn sie jetzt in der Tür auftauchen würde“, grinste er mich frech an und ich musste lachen.

„Du wirst doch jetzt nicht flüchten wollen.“

„Nein. Ich würde gerne bleiben, wenn du mich lässt. Und nicht nur für heute“, meinte er verlegen zu mir.

Ich lächelte ihn an, nahm seinen Kopf zwischen meine Hände und küsste ihn.

 

Impressum

Texte: C. Eberhardt
Bildmaterialien: C. Eberhardt
Cover: C. Eberhardt
Lektorat: C. Eberhardt
Korrektorat: C. Eberhardt
Übersetzung: C. Eberhardt
Satz: C. Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Krieg herrscht solange über den Frieden bis wir wieder die Liebe in uns finden. (Unbekannt)

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