Konstantin Schwarz ist mittlerweile Mitte dreißig und musste nach dem frühen Tod seines Vaters mehr oder weniger freiwillig das familiengeführte Bestattungsinstitut mitten in München übernehmen, was er auch halbwegs auf die Reihe bekommt, im Gegensatz zu seinem Leben. Er ist therapieerfahren, bekämpft seine Schlafstörungen gerne mal mit Tabletten, raucht zu viel und immer wieder spricht seine tote Großtante, die zu Lebzeiten Tante Fanny genannt wurde, mit ihm. Nach Tante Fannys Ableben ist Konstantin in deren Mansardenwohnung gezogen. Viel verändert hat er dort aber nicht, denn Veränderung ist nicht so sein Ding. Im gleichen Haus wohnt noch seine Mutter, die sich immer wieder um ihn Sorgen macht und seine neun Jahre jüngere Schwester Chrissy, die mit ihrer lockeren Art so ganz anders ist wie Konstantin. Auch Rudi, Konstantins Qi-Gong-Lehrer und neuer Lebensgefährte seiner Mutter, gehört mittlerweile zur Familie. Viele Freunde hat der neurotische Bestatter nicht. Einer davon ist jedoch der unorthodoxe und etwas behäbige Gebäudereiniger Franz, der auch Leichen-Franz genannt wird, da er sich beruflich auf Leichenfundort- und Tatortreinigung spezialisiert hat. Zu Flora Kalischek fühlt sich Konstantin immer wieder stark hingezogen. Mit ihr verbinden ihn allerdings mehr als nur seine Gefühle für sie, sondern auch die Zwillinge Annika und Tommy, was Konstantins Leben nicht unbedingt einfacher macht.
„Konni, du musst sofort hierherkommen! Sofort!“, drang die mit leichter Panik versetzte Stimme meines bestens Freundes Leichen-Franz durch das Telefon an mein Ohr und ich hatte kurz das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben, da mich seine Worte an diese Grabowski-Sache erinnerten, die ebenso begonnen hatte und für uns beide beinahe ziemlich übel geendet hätte.
Bis zu dem Moment, als mein Telefon zu klingeln begonnen hatte, war ich recht entspannt auf dem alten Schellackbett von Tante Fanny in meiner kleinen Mansarden Wohnung gelegen, hatte mir die siebte Staffel Friends reingezogen und in nahezu meditativer Weise Rauchkringel in die nikotingeschwängerte Luft meines Schlafzimmers geblasen. Seitdem meine Verlobte Nelly mich verlassen hatte, war mein Zigarettenverbrauch wieder in schwindelerregende Höhen geschnellt, was zwar nicht unbedingt lobenswert war, aber ich tröstete mich wenigstens damit, dass ich meinen Schlaftablettenkonsum ganz gut im Griff hatte, wenngleich mein Leben gerade wieder Kapriolen schlug.
Kerzengerade hockte ich nun im Bett und meine Trübsal, die ich bis gerade eben noch geblasen hatte, war zusammen mit meinem erst halbgerauchten Glimmstängel im Aschenbecher verraucht.
„Was ist passiert? Wo soll ich hinkommen?“, fragte ich aufgeregt in den Hörer.
„Ich bin in einer akuten Notlage. Bei mir zu Hause. Es ist schwer zu erklären. Komm einfach möglichst schnell vorbei und nimm den Ersatzschlüssel für meine Wohnung mit, den ich dir gegeben habe. Ich kann dir nämlich nicht die Türe öffnen“, wimmerte er wehleidig zu mir.
„Ich bin sofort bei dir“, tönte ich heldenmütig und legte sofort auf, um den Schlüssel für die Wohnung von Leichen-Franz zu suchen.
Den Schlüssel vermutete ich in der alten Heringsdose im Küchenschrank, die schon leichte Rostflecken angesetzt hatte und noch aus dem Inventar von Tante Fanny stammte. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass der Wohnungsschlüssel meines Kumpels an einem Anhänger mit einem adipösen Einhorn hing, von dem ich mich schon immer gefragt hatte, wie es in seinen Besitz gekommen war, da es so gar nicht zu ihm passte. Die einzige Gemeinsamkeit, die das Einhorn und meinen Freund verband, war ein gewisses Figurproblem, was ihn allerdings noch nie sonderlich gestört hatte und mich ebenso wenig. In meinem Schlüsselsammelsurium kramte ich nun nach diesem Fabelwesen, das sich allerdings unsichtbar gemacht hatte. Entnervt leerte ich den Inhalt der Dose aus und stieß dabei immerhin auf meinen eigenen Wohnungsschlüssel, den ich ebenfalls schon seit geraumer Zeit vermisst hatte. Doch das Einhorn hielt sich weiterhin versteckt.
„Verdammt!“, fluchte ich laut vor mich hin und versuchte mich zu erinnern, wo der Schlüssel von Franz bloß abgeblieben war, gleichzeitig stellte ich mir horrormäßig vor, was meinem Kumpel in seiner eigenen Wohnung wohl passiert sein könnte und was noch alles passieren würde, wenn ich nicht bald dort auftauchte.
Nach weiteren drei Minuten vergeblicher Einhornsuche ratterte mein Hirn, um eine Alternative zu finden. Nervös stolperte ich die Treppen hinunter ins Bestattungsinstitut, wo ich schließlich in den kleinen Werkzeugraum stürmte und in einer Schublade der alten Werkbank nach dem Dietrich-Set suchte. Schnell hatte ich es gefunden und spurtete damit zum Leichenwagen, um umgehend zu meinem Kumpel zu fahren, doch musste ich feststellen, dass mein Autoschlüssel noch in der Hosentasche meines Bestatteranzugs war, den ich aber heute, weil Sonntag war, gegen meine Jogginghose eingetauscht hatte. Hurtig joggte ich wieder die Treppen in meine Wohnung hinauf, die sich drei Etagen über dem Bestattungsinstitut befand. Dabei merkte ich auf erbarmungslose Weise, dass meine Kondition auch schon mal besser gewesen war, was wohl nicht unerheblich mit meinem explodierten Zigarettenkonsum zusammenhängen mochte. Doch Zeit zum Jammern hatte ich nicht. Ich musste Franz helfen. Und zwar ziemlich schnell. Wenn ihm wegen meiner Schlamperei etwas passieren würde, könnte ich mir das niemals verzeihen. Zielsicher griff ich nach dem Autoschlüssel in der Hosentasche meines Anzugs, der ordentlich auf einem Bügel an dem alten Holzschrank in meinem Schlafzimmer hing und trat dann auch sofort wieder den Rückweg an.
„Alles klar?“, fragte meine Schwester, die im ersten Stock aus der Haustür lugte, während ich eilig an ihr vorbei tippelte.
„Nichts ist klar!“, rief ich ihr im Vorbeigehen zu, bevor ich schnurstracks das Haus verließ und in meinen Leichenwagen hechtete, der schließlich mit durchdrehenden Reifen über den gekiesten Innenhof des Bestattungsinstituts durch den Torbogen auf die Straße fuhr.
Obwohl heute zumindest nicht mit starkem Pendlerverkehr gerechnet werden musste, hatten sich jedoch alle Sonntagsfahrer Münchens gegen mich verschworen. Genervt blickte ich auf den Wackeldackel vor mir, der mir hämisch neben einer quietschbunt eingehäkelten Klopapierrolle zunickte. Kurzerhand betätigte ich den Blinker und setzte zum Überholen an, was normalerweise nicht zu meinen Spezialitäten gehörte und mit dem sperrigen Leichenwagen eine Kunst für sich war. Gerade noch rechtzeitig konnte ich vor dem Schleicher einscheren, bevor ich beinahe mit dem Gegenverkehr zusammengestoßen wäre, der mich bereits mit Lichthupe getadelt hatte.
Schweißgebadet parkte ich schließlich nach einer nervenaufreibenden Fahrt den Mercedes auf der Straße vor der Halle, in der sich die Gebäudereinigungsfirma meines Kumpels befand, die auf Leichenfundort- und Tatortreinigung spezialisiert war und hinter deren Gemäuer sich auch gleichzeitig die Wohnräume meines Kumpels befanden. Nervös zückte ich mein Dietrich-Set, mit dem ich allerdings nicht sehr vertraut war und stocherte mit dem Werkzeug etwas planlos in dem Türschloss der schweren Metalltür herum, die sich jedoch nicht von mir öffnen lassen wollte.
„Lassen Sie mich mal ran“, erklang plötzlich eine Männerstimme hinter mir, die mir nicht ganz unbekannt war.
Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht von Professor Hackspiel. Seinem Outfit zu urteilen, hätte man wohl vermuten können, dass er direkt von den Karl-May-Festspielen hierhergekommen war. In einem Tipi hätte man sich den großen dürren Rechtsanwalt auf jeden Fall eher vorstellen können als in seinen Kanzleiräumen.
„Was machen Sie denn hier?“, fragte ich ihn verwundert.
„Ich war zufällig gerade in der Gegend“, meinte er mit einem schelmischen Lächeln zu mir.
„Zufällig?“
Meine Augenbrauen flatterten wie zwei Elektrojalousien in die Höhe.
„Sie sind nie zufällig irgendwo“, stellte ich schließlich misstrauisch fest, worauf der Professor allerdings nicht weiter einging und mir sogleich das Werkzeug abnahm, um im Türschloss herumzustochern.
„Das ist doch komplizierter, als ich gedacht hatte“, murmelte er konzentriert arbeitend vor sich hin, ohne mir unangenehme Fragen gestellt zu haben, warum ich an einem Sonntagnachmittag mitten in München in die Räumlichkeiten meines Kumpels einbrechen wollte.
Mit einem metallischen Klacken sprang die Tür schließlich auf und ich war auch schon auf dem Sprung, um meinen Kumpel aus seiner bisher nicht näher definierten Notlage zu befreien, als ich plötzlich ein lautes markdurchdringendes „Stopp“ nachgeschrien bekam, das eindeutig nicht dem Professor zuzuordnen war.
„Hände hoch und langsam umdrehen“, brüllte mir eine Frauenstimme zu, was ich instinktiv und in Zeitlupe befolgte, bevor ich schließlich in den gezückten Lauf einer Pistole schaute, während der Professor wie vom Erdboden verschluckt war.
„Was machen Sie hier?“, verhörte mich eine uniformierte Polizistin und blickte dabei ziemlich böse zu mir.
„Ähm. Ich… Ich muss meinem Freund helfen“, rechtfertigte ich mich stotternd und mit schlechtem Gewissen.
„Für mich sieht das eher aus wie ein Einbruch“, konterte sie ernst und ohne Gnade, wobei sie keine Anstalten machte, die Pistole von mir abzuwenden.
„Ich habe seinen Wohnungsschlüssel verlegt“, gab ich kleinlaut zu.
„Was ist denn mit Ihrem Freund?
„Das weiß ich auch nicht so genau“, stammelte ich weiter vor mich hin und wusste, dass meine Argumentationskette ziemlich schlecht war.
„Wo finde ich denn Ihren Freund?“, hakte sie im Militärton nach.
„Ich vermute, in seiner Wohnung“, meinte ich zu ihr und deutete mit meinen erhobenen Armen hinter mich.
„Sie gehen voraus und die Hände bleiben über Kopf, dass das klar ist“, wies sie mich forsch an, während ich mich langsam zu den Wohnräumen von Leichen-Franz bewegte.
„Franz?“, fragte ich vorsichtig in das großzügige Zimmer, das sich hinter seiner großen Gewerbehalle befand und ihm als Wohn-Ess-Küche diente, deren Interieur allerdings sehr funktional gehalten war und jedem Innenarchitekten die Nackenhaare aufstellen würde.
„Wo bleibst du denn so lange?“, hörte ich seine gedämpfte Stimme mutmaßlich aus dem Schlafzimmer tönen. „Komm und hilf mir endlich. Lange halte ich das nicht mehr aus.“
Kopfnickend deutete mir die Polizistin an weiterzugehen. Mit zittrigen Händen öffnete ich die Tür, hinter der ich meinen Kumpel vermutete. Mit einem Quietschen sprang sie schließlich auf und ich staunte nicht schlecht, als ich ihn erblickte.
„Wieso hast du denn die Polizei dabei?“, fragte er mich verwundert.
Leichen-Franz lag wie ein hilfloser Käfer in den Trümmern seines Bettes, dessen Lattenrost ihn wie eine überdimensionale fleischfressende Pflanze verschluckt hatte.
„Was ist denn hier passiert?“, wollte ich perplex wissen.
„Tammy kommt“, grinste er mich glücklich verliebt an, was allerdings nicht erklärte, warum er in seinem zerstörten Bett lag, aus dessen Überreste er sich nicht befreien konnte.
„Nun helft mir doch mal“, brummelte er die Polizistin und mich an, was wenigstens dazu führte, dass sie ihre Pistole sinken ließ und ich auch gleichzeitig meine Hände.
Mit vollem Körpereinsatz zogen wir meinen Kumpel mühevoll aus seiner völlig zerstörten Schlafstatt. Ein erleichtertes „Danke“ kam ihm zusammen mit einem seligen Lächeln über die Lippen, als er aus den Fängen des Bettmonsters befreit war, während er sich ein paar Spinnweben von seinem weißen Anzug wischte und seinen Hut auf dem Kopf wieder zurechtrückte.
„Sie kennen diesen Herrn?“, fragte die Polizistin auch gleich bei ihm nach und zeigte auf mich.
„Ja. Das ist Konni, mein bester Freund“, erklärte er mit Stolz in der Brust und klopfte mir dabei auf die Schulter.
„Und es ist in Ordnung, dass er in Ihre Räume einbricht?“, hakte sie weiter nach.
„Ich habe die Schlüssel nicht gefunden“, erklärte ich kleinlaut. „Und es war doch eine Notlage.“
„Na gut, dann will ich mal ein Auge zudrücken. Aber lassen Sie sich bloß nicht noch mal von mir bei so einer Aktion erwischen. Klar?“, raunzte sie mich unwirsch an, bevor sie uns wenig später mit einem „Schönen Sonntag“ verließ.
Ich setzte mich auf das abgewohnte Sofa vor den Couchtisch, das sich in Ausrichtung zu einem überdimensionierten Heimkino befand und beobachtete, wie Leichen-Franz in seiner sprenkelgrauen Küche, die schon mindestens 20 Jahre auf dem Buckel hatte, für uns einen Kaffee kochte.
„Und was hat jetzt Tammys Besuch mit deinem zerstörten Bett zu tun?“, wollte ich schließlich wissen und zündete mir, ohne zu fragen zur Beruhigung eine Zigarette an.
„Muss das sein? Das ist ein Nichtraucherhaushalt“, kommentierte er, nahm es jedoch billigend hin.
„Ich habe mich darüber, dass Tammy bald kommt, so sehr gefreut, dass ich mich wohl etwas zu energisch in mein Bett habe fallen lassen. Du musst mit mir nächste Woche unbedingt ins Schwedenmöbelhaus fahren. So kann ich sie ja wohl schlecht empfangen. Ich brauche dringend ein neues Bett“, meinte er schließlich zu mir und stellte eine Tasse mit dampfendem Kaffee vor mir ab.
„Das trifft sich gut, ich muss auch noch ein paar Möbel kaufen“, gestand ich ihm und sah ihn mit Hundeblick an.
„Du? Möbel? Was ist passiert? Du brauchst doch keine Möbel. Oder bekommst du etwa auch Besuch?“, fragte er verwundert nach und hatte mich auch sofort durchschaut.
Meine Mansardenwohnung war prinzipiell komplett möbliert, wobei das Mobiliar bis auf wenige Neuerwerbungen noch von Tante Fanny stammte, die meine Wohnung vor mir bis zu ihrem Tod bewohnt hatte, eigentlich bloß meine Großtante war, mir gelegentlich im Kopf herumspukte und die sich hauptsächlich in den 50er- und 60er-Jahren eingerichtet hatte, weswegen ich relativ museal hauste, was mich allerdings nicht störte. Ein wesentlich größeres Problem hatte ich dagegen mit Veränderung. Und diese stand mir nun tatsächlich ins Haus.
„Besuch trifft es wohl ganz gut. Vielleicht auch ein bisschen mehr.“
Leichte Verzweiflung sprach aus meiner Stimme.
„Wer ist es?“, wollte Leichen-Franz wissen und ich überlegte angestrengt, wie ich anfangen sollte.
Es war schon ein paar Wochen her, als ich Flora zufällig beim Bäcker entdeckte. Sie war mit den Zwillingen im Urlaub in Frankreich an der Côte d'Azur gewesen. Dass sie schon wieder zurück war, verwunderte mich ein wenig. Zurückgemeldet hatte sie sich bei mir zumindest nicht. Aber ich hatte wohl auch keinen Anspruch darauf. Unsere einzigen Berührungspunkte waren die Kinder. Und auch dabei ging es eher sporadisch zu. Mir war sofort aufgefallen, dass sie ihr rotbraun gefärbtes Haar ein gutes Stück kürzer trug, als ich es in Erinnerung hatte, was ihr allerdings ziemlich gut stand und sofort meine immer noch unkontrollierbaren Gefühle für sie in Wallung brachte. Ich stand in der Schlange drei Personen hinter ihr. Sie hatte mich noch nicht gesehen und war gerade damit beschäftigt, der Bäckereifachverkäuferin hinter der gläsernen Theke ihre Bestellung mitzuteilen. Ungeniert beobachtete ich sie dabei und träumte ein wenig vor mich hin. Ein leichtes Kribbeln breitete sich in meinem Magen aus.
„Schlog dir die endlich amoi aus am Kopf“, motzte Tante Fannys Stimme auch schon in meinem Kopf.
Ich wollte meiner toten Großtante gerade mental widersprechen, als sich Flora an der Theke umdrehte und mich ihre leuchtend grünen Augen trafen, wie der Strahl eines Laserschwerts.
„Konstantin“, meinte sie etwas verwundert zu mir, als wäre es völlig absurd, mich beim Bäcker zu treffen.
„Hi“, antwortete ich ihr mit einem verlegenen Lächeln. „Wie geht’s so? Bist du wieder zurück aus dem Urlaub?“
Ihr Teint war etwas dunkler als sonst, was wohl der französischen Urlaubssonne geschuldet war.
„Ähm. Ja. Alles klar bei mir. Der Urlaub ist leider schon wieder vorbei. War schön. Und bei dir so?“, sprach sie etwas betreten, was eigentlich so gar nicht ihrem Naturell entsprach.
„Passt.“
„Hättest du diese Woche vielleicht mal Zeit, dass wir uns treffen?“, fragte sie mich plötzlich und dabei wirkte sie irgendwie unsicher.
„Klar.“
„Dann melde dich einfach, wenn es bei dir reinpasst. Wäre super.“
Mit diesen Worten umarmte sie mich flüchtig, und ehe ich es begriffen hatte, war sie auch schon wieder verschwunden. Lediglich ihr betörender Duft lag noch in der Luft, der heute allerdings irgendwie ein wenig anders roch als sonst, was ich der Seeluft der Côte d'Azur zuschrieb, die noch an ihr zu haften schien.
Leicht beschwingt und mit einer Leberkässemmel in der Hand machte ich mich wenig später wieder zurück ins Bestattungsinstitut, wo in der Sarghalle bereits Kundschaft auf mich wartete. Schnell schluckte ich den letzten Bissen hinunter und versuchte den seriösen Bestatter zu mimen, was mir allerdings wohl nicht so recht gelungen war.
„Was sollte denn das Dauergrinsen?“, zischte mich meine jüngere Schwester an, kaum dass sie den älteren Mann, dessen Mutter kürzlich verstorben war, aus dem Bestattungsinstitut begleitet hatte.
Dabei schüttelte sie ungläubig ihr fliederfarben gefärbtes Haar und blickte mich mit ihren von künstlichen Wimpern umrandeten Augen genervt an.
„Ich hab doch nicht gegrinst“, versuchte ich mich zu rechtfertigen.
„Doch. Wie ein Vollidiot. Das kommt bei den Hinterbliebenen nicht so gut an“, schimpfte sie weiter.
„Sorry“, entschuldigte ich mich kurz und verkrümelte mich ins Nebengebäude, wo in einem der Kühlfächer noch eine Leiche auf ihr letztes Make-up wartete, die mir meine gute Laune hoffentlich nicht madigmachen würde.
Routiniert zog ich den kalten Körper der Verblichenen aus der Kühlung und besprühte ihn mit der Reinigungsflüssigkeit, die im Licht der grellen Deckenlampe zu glitzern begann. Eine Kippe zwischen den Lippen steckend, grübelte ich dabei nach, was Flora von mir wollen könnte. Hatte sie mich vielleicht während ihres Urlaubs vermisst? War sie sich endlich ihrer Gefühle für mich bewusst geworden? Diesbezüglich war sie zwar meist nüchtern gestrickt, aber ich wusste, dass sie tief in ihrem Inneren mindestens genauso viel für mich empfand wie ich für sie.
Als ich am frühen Abend schließlich in meinem Bett lag und gedankenabwesend durch das Fernsehprogramm zappte, beschloss ich relativ spontan die ganze Sache jetzt hinter mich zu bringen, bevor mich diese Ungewissheit noch mürbe machte. Außerdem hatte ich ein Bedürfnis, die Kinder mal wieder zu sehen. Was war auch schon dabei?
„Du wirst doch ned de Weiber hinterher springan?“, mahnte mich Tante Fanny, was ich allerdings dezent ignorierte.
Ihre veralteten Ansichten konnte ich in diesem Moment wirklich nicht teilen. Im 21. Jahrhundert war alles möglich. Ich wollte schließlich nicht ebenso verschroben enden wie meine Großtante, die zeitlebens ihre Gefühle unter den Teppich gekehrt hatte und sich einen Panzer aus Strenge und Disziplin zugelegt hatte.
Schnell schlüpfte ich in meine Jeans und zog mir ein bequemes Sweatshirt über den Kopf. Kurz huschte ich noch in mein rosagekacheltes Badezimmer, das den Charme der 50er versprühte, und betrachtete mich im Spiegel. Dabei zupfte ich mir noch meine Haare zurecht und spritzte mir etwas Parfum auf. Kurz überlegte ich, ob ich nicht noch eine Flasche Barolo mitnehmen sollte, ließ es aber dann doch bleiben und spurtete zielstrebig die Treppen hinunter. Im ersten Stock traf ich auf Rudi, den Lebensgefährten meiner Mutter, der mittlerweile auch im Haus wohnte.
„Möchtest du etwas von der asiatischen Reispfanne haben, mein Junge?“, fragte er mich beim Vorbeigehen und grinste mir dabei erwartungsvoll zu.
„Nein. Danke“, lehnte ich sein Angebot ab und verließ recht eilig das Haus.
Bis zu Floras Wohnung waren es keine zehn Minuten zu Fuß. Voller Vorfreude spazierte ich durch die Straßen bis ich schließlich vor ihrem Wohnblock stand und erwartungsvoll den Klingelknopf drückte, neben dem der Name „Kalischek“ stand. Sogleich surrte auch schon der Türöffner und ich machte mich beschwingt auf in den zweiten Stock, wo ich nochmals kurz an die Tür klopfte, um Einlass zu erhalten. Doch staunte ich nicht schlecht, als mir plötzlich ein völlig fremder Mann öffnete. Hatte ich mich etwa im Stockwerk vertan?
„Sie wünschen?“, meinte der Typ zu mir, dessen Stimme rauchig maskulin klang und einem Whiskywerbespott entspringen hätte können.
Er hatte grau meliertes Haar und einen gepflegten Dreitagebart. Obwohl er wesentlich älter war als ich, sah er mit seiner löchrig modernen Jeans und dem enganliegenden Rollkragenpullover, der sein darunterliegendes Muskelpaket vorteilhaft abzeichnete, ziemlich gut aus. Kurz reckte ich meinen Hals und schielte auf den Namen an der Türe. Kalischek. Ich hatte mich leider nicht geirrt.
„Ähm. Ich wollte eigentlich zu Flora“, stammelte ich etwas hilflos vor mich hin und versuchte einen Blick in die Wohnung zu erhaschen, was mir allerdings nicht so recht gelang, da dieser sexy Muskelprotz geschätzt zwei Köpfe größer war als ich.
„Wer sind Sie?“, verhörte er mich weiter und beäugte mich dabei kritisch wie ein Türsteher vor der Disco.
„Konstantin“, war alles, was ich noch herausbrachte.
„Ah. Der Vater von Tommy und Annika. So jung hätte ich Sie mir gar nicht vorgestellt“, meinte er anerkennend, während mir bewusstwurde, dass er ganz offensichtlich mehr über mich wusste als ich über ihn.
In diesem Moment tauchte Flora hinter ihm auf und ihre Verwunderung über meinen spontanen Besuch stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben.
„Was machst du denn hier?“, wollte sie etwas irritiert von mir wissen und stellte mir gleichzeitig den Rollkragenpullovertypen vor. „Das ist übrigens Rémy.“
„Ich dachte, du wolltest mich diese Woche noch sehen?“, stammelte ich verunsichert weiter.
Mein Dauergrinsen war mittlerweile so tot wie meine Leichen in den Kühlfächern.
„Aber eigentlich nicht sofort. Ich wusste ja gar nicht, dass du so spontan bist“, meinte sie kopfschüttelnd zu mir. „Aber wo du schon mal da bist. Komm doch rein. Die Kinder freuen sich sicher, dich zu sehen. Und wir können die Sache ja auch gleich besprechen.“
„Die Sache?“, fragte ich verdutzt und wusste nicht so recht, was nun kommen würde.
Fakt war, dass dieser Abend auf einmal so ganz anders verlief, als ich mir das den Tag über vorgestellt hatte. Und in diesem Moment stieg mir wieder der Duft der Côte d'Azur in die Nase, den ich heute Mittag bei Flora wahrgenommen hatte und bei dem ich nun feststellen musste, dass er zu Rémy gehörte.
Lächelnd begrüßten mich die Zwillinge, als ich die Wohnung betrat. Flora separierte mich sofort in ein kleines Zimmer, bei dem es sich um ihr Büro handelte, von wo aus sie ihr Hochzeitsplanungsgewerbe betrieb.
„Setz dich“, bot sie mir einen Stuhl vor dem kleinen weißen Schreibtisch an, bevor sie sich mir gegenüber hockte.
„Ernsthaft? Rémy? Wie alt ist der Typ überhaupt?“, flüsterte ich ihr energisch entgegen. „Ist das die Sache?“
„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig“, fauchte sie zurück. „Aber er ist 68 und du wirst sehen, er ist echt ein netter Kerl. Wir waren zusammen im Urlaub.“
„Der Typ ist ja fast doppelt so alt wie ich!“, entrüstete ich mich.
„Ich mag ihn. Und schlag dir endlich mal deine Fantasien mit mir aus dem Kopf. Das mit uns wird niemals klappen. Es genügt schon, dass uns die Kinder verbinden“, holte sie mich wieder auf den Boden der Tatsachen. „Und da wären wir auch schon bei der Sache.“
„Die Kinder sind also die Sache?“, fragte ich verwundert nach, zog meine linke Augenbraue nach oben und wetterte los, was für mich eigentlich völlig untypisch war. „Willst du etwa mit Rémy einen auf heile Kleinfamilie machen? Da störe ich wohl! Oh. Aber da hast du dich ganz schön geschnitten, meine Liebe. Das werde ich nämlich nicht zulassen. Ich bin vielleicht nicht der beste Vater der Welt und ja, ich habe gelegentlich immer noch so meine Zweifel, ob ich für Kinder überhaupt geschaffen wurde. Aber das heißt noch lange nicht, dass hier Rémy einen auf Ersatzvater machen kann, wie es ihm gefällt. Das sind immerhin auch noch meine Kinder. Ich habe mich mittlerweile an sie gewöhnt. Und das werde ich jetzt nicht so einfach aufgeben, wegen diesem Opa da draußen.“
Mit verschränkten Armen saß Flora mir gegenüber und hörte sich geduldig meinen kleinen Gefühlsausbruch an. Für eine kurze Weile herrschte absolute Stille zwischen uns, bis Flora schließlich tief Luft holte.
„Das trifft sich gut. Tommy möchte nämlich zu dir ziehen“, meinte sie schließlich zu mir, dabei kam ihr ein gönnerisches Schmunzeln über die Lippen.
„What!“
Entgeistert schaute ich zu ihr und wusste nicht, was ich darauf sagen oder wie ich das überhaupt finden sollte. Mal ein paar Stunden mit den Kindern verbringen war für mich mittlerweile okay. Das bekam ich gebacken. Aber komplett für so einen kleinen Menschen verantwortlich zu sein, war schon noch mal eine andere Hausnummer. Zumal ich ja meist mit mir selbst nicht so recht klarkam. Und wo sollte Tommy bei mir wohnen? Meine Mansardenwohnung war größenmäßig relativ überschaubar. Sollte er in der anderen Betthälfte meines Schellackbetts schlafen? Oder gar in dieser Rumpelkammer, die noch mit Unrat von Tante Fanny vollgestellt und alles andere als einladend war? Leichte Panik machte sich in mir breit, gepaart mit einem unbändigen Verlangen nach frischer Luft und Nikotin.
„Ich finde, du hast gerade ein super Plädoyer auf deine Kinder gehalten. Und es muss ja auch nicht die ganze Woche sein. So drei oder vier feste Tage wären schon mal ein Anfang“, sprach Flora weiter auf mich ein. „Tommy ist jetzt eben in einem Alter, wo er ein männliches Vorbild braucht.“
Ein nervöses Lachen stieg meine Kehle empor.
„Und du meinst, dass ich der Richtige dafür bin?“
„Mir fällt es auch nicht leicht. Aber du bist nun mal sein Vater und Tommy möchte das so. Außerdem seid ihr euch vom Wesen her unglaublich ähnlich. Vielleicht kann er ja tatsächlich etwas von dir lernen“, meinte sie und schlug einen versöhnlichen Ton an. „Und wegen Rémy brauchst du keine Konkurrenz zu fürchten. Seine Familienplanung ist schon lange abgeschlossen. Er hat sogar bereits Enkel.“
„Sag ich doch. Opa“, grummelte ich wie ein beleidigtes Kleinkind zu Flora, die mir daraufhin auch prompt die Zunge rausstreckte.
Wenig später befand ich mich wieder auf dem Nachhauseweg, immer noch durcheinander von den Ereignissen, die dieser Abend so unverhofft mit sich gebracht hatte. Ein frischer Wind wehte mir um die Nase. Ich hatte bei Flora noch um eine Bedenkzeit wegen der Sache mit dem Einzug gebeten, wusste aber bereits jetzt, dass eine Ablehnung dieses Wunsches fast nicht möglich war, schon allein deshalb, weil ich Tommys Gefühle nicht verletzen wollte.
„I hobs dir glei gsogt, de Weiber springt ma ned hinterher“, gab schließlich auch noch Tante Fanny ihren Senf dazu.
Und in zwei Wochen war es nun soweit, dass Tommy zu mir in die Mansardenwohnung ziehen würde. Zumindest von Samstagabend bis Dienstagnachmittag. Und es war höchste Zeit, Tante Fannys Rumpelkammer auszumisten und für meinen neuen Mitbewohner eine passende Zimmereinrichtung zu finden. Dass Leichen-Franz ein neues Bett für Tammys Besuch brauchte und wir somit im gleichen Boot saßen, machte mir wenigstens den Punkt mit dem Möbeleinkauf etwas leichter.
Zusammen waren wir nun auf dem Weg ins Möbelhaus. Kurz vorher hatten wir noch eine kurze Diskussion, ob es vom Stauraum her besser wäre, seinen Transporter für diese Aktion zu nehmen oder doch lieber meinen Leichenwagen. Da sein Vehikel allerdings bis unters Dach mit Gerätschaften vollgestopft war und er keine Lust hatte, diese auszuladen, war die Wahl dann doch auf meinen Mercedes E 220 gefallen. Gemächlich fuhr ich mit meinem Kumpel auf dem Beifahrersitz über den Mittleren Ring.
„Ich meine, er hat sich für sein Alter zwar noch ganz gut gehalten. Aber was will Flora mit diesem Tattergreis? Ich bin ihr angeblich zu jung. Aber dass dieser tolle Rémy gut zwanzig Jahre älter ist als sie, das spielt ganz offensichtlich keine Rolle“, schüttete ich meinem Freund mein Herz aus.
„Liebe hat doch nichts mit dem Alter zu tun“, intervenierte Franz.
„Das dachte ich auch mal“, wimmerte ich wehmütig vor mich hin, bevor ich auf den großflächigen Parkplatz vor dem blaugelben Möbelhaus einbog.
Eine große schwedische Fahne wehte im Wind und verlieh dem grauen Himmel wenigstens ein bisschen Farbe. Ich parkte das Auto auf einem dieser Parkplätze, die für Autos mit Anhänger vorgesehen waren und sich strategisch günstig in Nähe des Eingangs befanden. Ein paar Passanten schauten etwas irritiert, als wäre es ganz und gar unmöglich, dass ein Leichenwagen vor dem Möbelhaus parken könnte. Da ich allerdings nicht im Dienst war, trug ich lediglich eine Jeans und ein Sweatshirt, was mir zumindest während meines Einkaufs fragende Blicke ersparen sollte. Bevor wir durch die große Glastür das Gebäude betraten, zündete ich mir noch eine Zigarette an. Leichen-Franz sagte nichts dazu und stellte sich neben mich.
„Ich habe beschlossen, mit dem Rauchen aufzuhören“, tönte ich zu ihm, während ich den Rauch aus meinen Lungen in die frische Luft blies.
„Das sieht man“, erwiderte er auch prompt und mit einer großen Spur Ironie in seiner Stimme. „Ich finde diese Entscheidung ja gut. Aber was hat dich dazu gebracht? Der Einzug von Tommy?“
„Natürlich muss ich auch für Tommy ein Vorbild sein. Aber Flora hat mir neulich erzählt, dass Rémy ein militanter Nichtraucher ist. Er muss sowieso ein absoluter Gesundheitsfreak sein. Du musst mir unbedingt dabei helfen, damit aufzuhören. Das wird nicht leicht werden“, meinte ich zu ihm, während meine Zigarette zwischen meinen Lippen klemmte.
Mit großen Augen blickte Leichen-Franz mich an und schüttelte seinen Kopf, bevor er mir wortlos meine Kippe aus dem Mund zog und auf dem Boden austrat.
„Hey!“, beschwerte ich mich. „Was soll denn das?“
„Ich dachte, ich soll dir helfen, mit dem Rauchen aufzuhören“, meinte er gelassen zu mir.
„Aber doch nicht jetzt“, maulte ich weiter und folgte ihm schließlich ins Möbelhaus.
Langsam schritten wir zur Möbelausstellung empor, deren Angebot mich bereits auf den ersten paar Metern förmlich erschlug, derweil waren wir von der Bettenabteilung noch weit entfernt.
„Kaufst du eigentlich ein Stockbett?“, fragte mich Leichen-Franz, als er sich langsam von den Strapazen des Treppenaufstiegs erholt hatte.
„Stockbett? Wie meinst du das?“, fragte ich verunsichert.
„Na, sind doch Zwillinge“, meinte er lapidar.
„Aber nur Tommy zieht bei mir ein.“
„Meinst du nicht, dass Annika dann beleidigt ist, wenn sie kein Bett bei dir bekommt?“
„Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch gar keine Gedanken gemacht“, gab ich kleinlaut zu.
Ich hatte sowieso keine Ahnung vom Bettenkauf, da ich immer noch sehr gut auf Tante Fannys altem Schellackbett schlief. Und so massiv und gut, wie das Bett gebaut war, würde ich wohl auch die nächsten hundert Jahre kein neues Bett benötigen. Für den Fall, dass sich jemals wieder eine Frau in meine Mansardenwohnung verirren würde, wäre auch eine nahezu unbenutzte zweite Betthälfte vorhanden. Umso mehr überforderte mich nun diese Sache mit dem Stockbett. Leichte Panik beschlich mich, als die ersten Betten vor uns auftauchten, die mit kuschligen Decken und Kissen bestückt waren und eine behagliche Gemütlichkeit vermitteln sollten, was bei mir allerdings ganz anders ankam.
„Das sieht doch gar nicht schlecht aus.“
Leichen-Franz hatte vor einem breiten Doppelbett mit weißem Hochglanzrahmen Halt gemacht und beäugte es mit Zufriedenheit. Dann blickte er kurz nach links und rechts, bevor er Anlauf nahm und mit einem graziösen Hechtsprung, den ich ihm gar nicht zugetraut hätte, sich mitten auf die Matratze gleiten ließ. Ein ungutes Ächzen drang aus dem Bereich des Lattenrosts hervor.
„Was machst du denn da?“, zischte ich nervös zu meinem Kumpel und hatte gleichzeitig Angst, dass jeden Moment ein Security-Mensch hinter uns auftauchte, der uns aus dem Möbelhaus werfen würde.
„Na hör mal, meinst du, ich will, dass mir noch mal ein Bett auseinanderfällt? Ein kleiner Belastungstest wird doch wohl noch erlaubt sein. Wenn das Bett nicht mal mit mir fertig wird, wie soll das dann erst werden, wenn Tammy da ist“, rechtfertigte er sich mit Unschuldsmiene. „Und dieses Ding hier ist schon mal haushoch durchgefallen.“
Als wäre nichts gewesen, rappelte er sich wieder auf, strich sich seinen weißen Anzug zurecht und rückte seinen Hut gerade, dann spazierte er zum nächsten Bett und ich folgte ihm unauffällig.
„Das sieht aber gut aus. Ist sogar aus Massivholz und der Preis stimmt auch“, meinte er zufrieden, bevor er erneut mit Anlauf auf die Matratze hüpfte.
Diesmal stöhnte das Gestell zwar nicht unter dem Aufprall meines nicht gerade leichtgewichtigen Kumpels, jedoch schnellte plötzlich, wie bei einer alten Registrierkasse, die Unterbettschublade unter dem Bett hervor, die auch noch gut gefüllt war. Allerdings anders als erwartet, nicht mit Bettzeug.
Es dauerte circa drei Sekunden, bis mein Hirn realisierte, was sich mir da gerade offenbarte, während mein Kumpel noch gar nicht begriffen hatte, was er mit seinem Bettsprung ausgelöst hatte. In dem Bettkasten vor mir lag eine Frau in gestauchter Pose, deren Mund mit Hotdog-Brötchen ausgestopft war und die mich mit ihren großen leeren Augen anblickte. Ich wäre wohl kein guter Bestatter, wenn ich nicht sofort erkannt hätte, dass die Frau vor mir alles andere als lebendig war.
„Ich glaube, das Bett hier nehme ich“, meinte Franz überglücklich zu mir. „Gefällt es dir auch?“
Immer noch konnte ich meinen Blick nicht von der toten Frau abwenden, die wie ein Clown aus der Box unter dem Bett hervorgesprungen war. Gleichzeitig war ich wie erstarrt vor Schock. Unfähig auf die Frage von Franz zu antworten, tat ich schließlich das, was ein seriöser Bestatter wie ich bei Anblick dieser Leiche tun musste: Ich übergab mich in einen aus Wasserhyazinthen und Seegras geflochtenen Korb, der 15,99 Euro kostete.
„Geht´s dir nicht gut?“, fragte mich Franz ganz verwundert, während ich in einer kleinen Kotzpause versuchte, auf die Leiche im Bettkasten zu zeigen.
Langsam blieben die ersten Leute stehen und schauten neugierig zu uns beiden.
„Verdammte Scheiße!“, entfuhr es meinem Kumpel, als er begriff, was da unter seinem Traumbett versteckt war. „Sag mal, ist das nicht Ella?“
Ich nickte kurz und übergab mich ein weiteres Mal.
Ella Lang. Ex-Supermodel, welches in meiner jugendlichen Hormonumstellungsphase des Öfteren meine Fantasie beflügelt hatte. Außerdem eine gute Freundin von Flora und Ehefrau von Hanno die Mauer, dem deutschen David Beckham. Wobei die beiden in letzter Zeit vor allem wegen massiver Eheprobleme für Schlagzeilen in der Boulevardpresse gesorgt hatten. Ich hatte Ella vor geraumer Zeit über Flora auf einer Party in deren Villa kennengelernt, als ich im Grabowski-Fall Nachforschungen angestellt hatte.
„Wie kommt denn die hierher?“, hörte ich plötzlich die unverkennbare Stimme von Professor Hackspiel hinter mir.
„Wie kommen Sie hierher?“, konterte ich verwundert und wischte mir dabei mit dem Ärmel meines Sweatshirts über den Mund.
Ein Möbelhaus war der letzte Ort, an dem ich den Professor vermutet hätte, aber er war wie immer für eine Überraschung gut. Was mich außerdem verwunderte, dass er mir schon wieder ganz offensichtlich zufällig in der Millionenstadt München über den Weg gelaufen war und wie ein Phantom immer dann aufzutauchen schien, wenn ich mich in einer ungünstigen Situation befand.
„Ich wollte eigentlich nur nach einer neuen Bettwäsche schauen“, meinte er etwas verlegen und ich hatte fast das Gefühl, als hätte ich ihn bei etwas ertappt.
„Code 300 in der Bettenabteilung. Code 300 in der Bettenabteilung“, ertönte es plötzlich aus der Lautsprecheranlage des Möbelhauses und ehe ich mich fragen konnte, was Code 300 wohl bedeuten könnte, stand auch schon ein Tross aus blaugelb gekleideten Mitarbeitern um uns und schirmte den Bereich großräumig vor den Blicken der Schaulustigen ab.
Mit dem Auftauchen der Helfer hatte sich Professor Hackspiel so schnell wieder in Luft aufgelöst, wie er vorhin erschienen war. Was danach geschah, spielte sich wie ein Film im Zeitraffer vor mir ab, ohne dass ich es so richtig fassen konnte. Einer der Helfer bot mir einen Stuhl an, auf den ich mich apathisch setzte, bevor ich damit begann, Löcher in die Luft zu starren. Franz hockte neben mir, die Hände vor dem Gesicht, während er mantramäßig das Wort „Scheiße“ wiederholte.
„Um Gotts wuin! Sie scho wieder“, ertönte plötzlich eine rauchige Frauenstimme in mein Bewusstsein, die ich sofort Frau Dünnbier von der Mordkommission zuordnen konnte.
Ihre pechschwarze 80er-Jahre-VoKuHiLa-Haarpracht hatte sie mit feuerroten Strähnchen durchwoben. Während die hautenge Jeanshose ihre schlanken Beine vorteilhaft betonte, schaffte das die nachfolgende Bluse, die ihren mächtigen Bauch-Busen-Vorbau bedeckt hielt, leider nicht mehr. Eine gefährliche Spannung zwischen Knopfloch und Knopf, konnte jeden Moment dazu führen, zum Geschoss zu werden. Instinktiv ging ich in Deckung.
„Wos ham´S denn?“, fragte sie mich verwundert, worauf ich jedoch nur mit undefinierbaren Lauten antwortete, weil ich noch immer unter einem leichten bis mittelschweren Schock stand.
„Schaugt aus wia a Ritualmord mit de ganzen Hotdogs in der Goschn“, sinnierte sie vor sich hin.
„Ritualmord?“, wiederholte ich und konnte in diesem Moment so gar nichts damit anfangen.
Das mit mir im Moment ebenfalls nicht viel anzufangen war, merkte dann auch die Kommissarin rasch.
„Morgen seng mir uns dann im Präsidium“, waren ihre abschließenden Worte an mich.
Es war bereits dunkel, als ich wieder zu Hause war. Und so dunkel wie es draußen war, war auch unser Haus im Hinterhof. Es wirkte irgendwie verlassen. Mama und Rudi waren zurzeit auf einem Roadtrip in den USA unterwegs. Und auch meine Schwester Chrissy war ausgeflogen. Vermutlich bei ihrem Freund. Mit noch etwas zittrigen Händen versuchte ich die Tür aufzusperren, was mir nach wenigen Minuten auch gelungen war. Ich drückte den Kippschalter, um das Licht im Treppenhaus anzumachen und trottete mit hängenden Schultern die Stufen zu meiner Mansardenwohnung hinauf.
„Lass di ned so gehn. I bin ja schließlich aa no do“, versuchte mich Tante Fanny in meinem Kopf aufzubauen, was für mich allerdings nur ein mäßiger Trost war.
Ich war allein und lediglich die Gedanken in meinem Kopf, die sich der Stimme meiner verblichenen Großtante bemächtigten, hielten mich davon ab, völlig durchzudrehen. Normalerweise hatte ich kein Problem mit Leichen, was mein Berufsbild so mit sich brachte. Allerdings verhielt es sich ganz anders, wenn jemand verstorben war, den ich gekannt hatte. Meine Gefühle waren kurz davor, mich zu übermannen. Völlig fertig mit der Welt zog ich ein Bier aus dem roten Kühlschrank, der das einzige Indiz der Moderne in meiner 50er-Jahre-Küche darstellte. Mit einem Zischen hüpfte der Bierdeckel über den kleinen Esstisch und ich leerte die Flasche in einem Zug aus. Danach pulte ich mir eine Zigarette aus der Schachtel, setzte mich auf einen der Esszimmerstühle, streckte meine Füße weit von mir und ließ den Rauch vor mir aufziehen. Ich konnte und wollte jetzt einfach nicht alleine sein. Nachdem ich ein weiteres Bier geext hatte, machte sich diese Entspanntheit in mir breit, die zwar die Gesamtsituation nicht unbedingt verbesserte, mir jedoch die Angst nahm, eine Dummheit zu machen. Ich schlüpfte in meine Jacke, zog meine Schuhe wieder an und verließ die leere Wohnung.
Der Wind wehte mir um die Nase, als ich die Straße entlangging. Viele Menschen waren nicht mehr unterwegs. Dafür brannten in den Wohnungen der Stadthäuser immer wieder Lichter oder man sah das Flimmern eines Fernsehgeräts. In regelmäßigen Abständen fuhren Autos vorbei. Von Weitem hörte ich das Rattern der Tram. Meine Hände hatte ich tief in meinen Hosentaschen vergraben.
Eine Weile stand ich vor dem Wohnblock. Die Wohnung im zweiten Stock war hell erleuchtet. Für wenige Sekunden beschlichen mich Zweifel. War es eine gute Idee, hergekommen zu sein? Doch ehe ich Gefahr laufen konnte, dass mich Tante Fanny noch davon abhielt, drückte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: C. Eberhardt
Cover: C. Eberhardt
Lektorat: C. Eberhardt
Korrektorat: C. Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2023
ISBN: 978-3-7554-5048-1
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