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Die spanische Braut

***

 

Ich saß bereits am Küchentisch meiner kleinen Studentenwohnung, die mitten in Florenz lag. Es war schon höchste Zeit, wenn ich nicht zu spät zur Vorlesung kommen wollte. Schnell schob ich mir den letzten Bissen meiner Brioche in den Mund, als plötzlich meine Schwester Emma im Türrahmen stand. Gähnend lächelte sie mich an. Ihre dunklen Locken standen wild vom Kopf ab und ihre Augen wirkten noch etwas müde.

„Auf dem Herd in der Espressokanne ist noch Kaffee für dich“, meinte ich kauend zu ihr und nahm gleichzeitig meine Tasche vom Hocker.

„Danke“, erwiderte sie.

Emma war zwei Jahre jünger als ich und hatte gerade die Berufsschule erfolgreich abgeschlossen. In wenigen Tagen würde sie ihren ersten richtigen Job antreten. Und bevor es so weit war, wollte sie noch die Toskana ein wenig erkunden. Ihre Mittel waren begrenz und so bot es sich an, dass sie sich bei mir einquartiert hatte. Ich freute mich über ihren Besuch. Wir stammten von einem Bergbauernhof aus Südtirol und das Reisen war uns nicht gerade in die Wiege gelegt worden. Der Hof war Dreh- und Angelpunkt unseres bisherigen Lebens gewesen. Und ich hatte das Gefühl, Emma wollte sich nun ein wenig von dieser Enge befreien. Die Neugier auf die große weite Welt, die so viel mehr zu bieten hatte, war ihr förmlich anzusehen.

„Was hast du heute vor?“, wollte ich von ihr wissen und war schon auf dem Sprung zur Uni.

„Keine Ahnung“, meinte sie schulterzuckend und grinste mich frech an.

„Dann bis später“, verabschiedete ich mich mit einer kurzen Umarmung von ihr.

Als ich am späten Nachmittag wieder zurückkam von der Uni, lag ein Zettel von Emma auf dem kleinen klapprigen Küchentisch.

 

Bin nach Siena.

Bis später.

Liebe Grüße Emma

 

Siena war keine 100 Kilometer von Florenz entfernt. Die Anbindung war recht gut, auch mit dem Zug. Bald dürfte sie wohl wieder zurückkommen, dachte ich kurz bei mir. Doch in diesem Moment wusste ich noch nicht, dass ich damit falschliegen sollte.

Als sie an jenem Abend nicht wieder zurückgekehrt war aus Siena, hatte mich bereits eine innere Unruhe erfasst. Und als sie auch am nächsten Morgen noch nicht aufgetaucht war, ging ich zur Polizia und stellte eine Vermisstenanzeige.

Ein Wachmann vor dem Studentenwohnheim war wohl der Letzte gewesen, der sie gesehen hatte, bepackt mit ihrem Rucksack, in dem sie stets ihren Pass und ein paar Lire hatte.

Mittlerweile waren über 30 Jahre vergangen und von Emma hatte immer noch jede Spur gefehlt. In all der Zeit hatte ich mich oft gefragt, was wohl damals geschehen war. Lebte sie noch? Oder war ihr etwas passiert? Es hatte keinen Tag gegeben, an dem ich nicht an sie hatte denken müssen. Wie konnte ein junger Mensch mitten in Italien am helllichten Tag einfach so verschwinden und nie wieder auftauchen? Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

Doch vor fünf Minuten hatte mich mein Vater angerufen. Ich wohnte mittlerweile in Bozen. Als ich das Telefonat annahm, beschlich mich irgendwie ein komisches Gefühl und ich konnte nicht sagen warum. Eine Vorahnung? Mein Vater atmete schwer am anderen Ende der Leitung, bevor er schließlich ohne ein Wort der Begrüßung die folgenden zwei kurzen Sätze sagte:

„Sie haben Emma gefunden. Nach all den Jahren haben sie endlich Emma gefunden.“

Waren es Tränen der Erleichterung, die durch den Hörer an mein Ohr drangen? Ich ließ mich in meinen Wohnzimmersessel fallen und wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

 

***

 

Die große Hitze war mittlerweile einer angenehmen Wärme gewichen, als Javier an diesem spätsommerlichen Morgen die Promenade entlang zur Arbeit lief. Vom Meer her wehte ein sanfter Wind in das kleine spanische Bergdorf. Sein Blick fiel kurz auf die Wellen, deren schaumige Kronen unablässig an den Strand gespült wurden. Dann schaute er auf das Wogen der Bäume auf dem Friedhofshügel. Doch da war etwas, was sein Auge irritierte. Etwas, was dort nicht hingehörte, auch wenn er in diesem Augenblick noch nicht wusste, was es war.

Langsam stieg er die steinige, staubige Treppe zum Friedhof hinauf, die gesäumt war von Kaktusfeigen, Pinienbäumen und wilden Sträuchern, hin zu dem Objekt, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte und das sanft pendelnd an einem der Bäume hing. Schon als er die Treppen hinaufgegangen war, hatte ihn ein seltsames und mulmiges Gefühl beschlichen. Doch nun, da er unmittelbar davorstand, wusste er auch warum. Im ersten Moment konnte er gar nicht fassen, was er da sah. Dann übergab er sich neben einer Kaktusfeige auf die staubige Erde. Gleichzeitig war er erstarrt vor Angst. Vor ihm im Baum hing der leblose Körper einer jungen Frau. Sie war bekleidet, doch ihre Füße waren nackt. Ihre dunkeln Locken wippten mit dem Wind. Sie war hübsch und doch ließ dieser Anblick Javier tief erschaudern.

Als er wenige Minuten nach diesem grausigen Fund wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, rannte er die Friedhofstreppe hinab und klopfte wie ein Irrer an die nächste Haustür, die er erreichte.

„Policia! Policia!“, war alles, was er der verdutzt dreinblickenden Frau entgegen schmetterte, die auch sofort zu telefonieren begann.

Wenig später war ein Großaufgebot an Polizisten vor Ort und sperrte das Gebiet großflächig ab.

Wer war die junge Hübsche, fragte man sich in den Tagen danach im ganzen Dorf und darüber hinaus. Keiner kannte sie und sie hatte keinerlei Papiere bei sich, die Aufschluss über ihre Identität geben konnten. Weil ihr einer der Polizisten, noch bevor sie vom Baum genommen wurde, ein Tuch über den Kopf gelegt hatte, wurde sie ab diesem Moment als „Die spanische Braut“ bezeichnet.

Die Polizei hatte alles versucht, um mehr über die unbekannte Tote zu erfahren. Wer war sie? War es ein Suizid gewesen? Oder war sie das Opfer eines Verbrechens geworden?

Zwei junge Männer und eine Frau hatten wenige Stunden zuvor in der Nacht ihr Zelt am Strand aufgeschlagen, nicht weit entfernt vom Fundort. Man befragte sie, ob sie von dem Vorfall etwas mitbekommen hatten. Doch die Kommunikation gestaltete sich schwierig, denn es waren österreichische Touristen und die Ermittler konnte nur gebrochen Englisch. Und so ließ man sie recht bald wieder in Ruhe, ohne neue Erkenntnisse erlagt zu haben.

Nach wenigen Wochen steckten die Ermittlungen fest. Die unbekannte Tote wurde auf dem Friedhof bestattet, auf dem man sie gefunden hatte und auf ihrem Grab prangten die Buchstaben „NN“.

 

***

 

Seit diesem schrecklichen Tag waren nun über 30 Jahre vergangen. 30 Jahre, in denen die Identität der jungen Frau nie geklärt werden konnten. 30 Jahre, in denen sie ganz offensichtlich von niemandem vermisst wurde, was die Verschwörungstheorien um ihren mysteriösen Tod befeuerten. Aus dem Ermittlungsfall war mittlerweile eine Cold Case geworden, an den sich immer weniger Leute erinnerten.

Mittlerweile stand fest, es war nahezu auszuschließen, dass es sich um Suizid handelte. Experten waren sich sicher, dass sich so niemand selbst erhängen hätte können. Außerdem wiesen die Füße der jungen Frau keinerlei Verletzungen auf, was zwangsläufig hätte geschehen müssen, wenn sie barfuß über das steinige und mit Stacheln versehene Friedhofsareal gegangen wäre. Um ihre Lippen konnte man Spuren erkennen, die darauf hindeuteten, dass ihr jemand den Mund zugehalten haben musste. Leider waren ihre sterblichen Überreste nur wenige Wochen, bevor bessere Ermittlungsmethoden neue Erkenntnisse bringen hätten können von einem übereifrigen Friedhofsmitarbeiter ohne Autorisierung in ein Massengrab umgebettet worden. Es wurde immer unwahrscheinlicher, diesen Fall jemals aufklären zu können.

Und doch gab es einen, der nicht lockerließ. Es war der Journalist Carlos Torres. Es war damals einer seiner ersten Einsätze für die Lokalzeitung gewesen und den Anblick der spanischen Braut hatte ihn bis heute nicht wieder losgelassen. Mittlerweile war er ein Mann, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte. Doch hatte er über die Jahre gute internationale Beziehungen aufbauen können und das Interesse eines österreichischen Privatsenders geweckt, der nun über diesen alten Fall in seiner Sendung berichten wollte, die von unaufgeklärten Verbrechen handelte und um die Mithilfe der Bevölkerung bat. Gebannt blickte Carlos auf den Bildschirm seines Laptops und wartete darauf, dass die Folge endlich startete. Verstehen würde er zwar kein Wort, aber das machte nichts. Er kannte jedes noch so kleine Detail dieses seltsamen Falls und er hoffte inständig, dass die Identität der spanischen Braut endlich geklärt werden konnte.

 

***

 

Zeitgleich mit Carlos saßen noch vier weitere Personen erwartungsvoll vor ihren Fernsehgeräten.

Das aus Südtirol stammende Ehepaar Kofler war gerade im Urlaub in Österreich. Frau Kofler war eine bekennende Krimiliebhaberin, dabei konnte es ihr gar nicht brutal genug sein. Eine solche Cold-Case-Sendung, wie sie hier in Österreich gleich ausgestrahlt wurde, kam ihr da gerade recht. Ihr Mann saß geduldig und ruhig neben ihr auf dem kleinen Sofa des Hotelzimmers und starrte auf den großen Flachbildfernseher mit HD. Die Lust am Verbrechen seiner Frau konnte er nicht so recht teilen, trotzdem nahm er sie hin.

Knapp 100 Kilometer vom Ehepaar Kofler entfernt hockte auch Andreas Jovanovic auf der Couch im Wohnzimmer seiner kleinen, aber exklusiven Altbauwohnung in Wien und wartete darauf, dass die Sendung endlich begann. Seit Wochen hatte er jeden Freitag die neue Fernsehzeitschrift durchkämmt, um genau diese Folge nicht zu verpassen. Es war erst wenige Monate her, als ihn ein junger Journalist kontaktiert hatte. Er recherchierte für diesen Privatsender und hatte ihn als einen der Camper ausfindig gemacht, die in der Nacht, als dieses Mädchen dort in Spanien gefunden worden war, am Strand gezeltet hatte. Sofort hatte er alles abgeblockt. Es gab nichts dazu zu sagen. Sie sollten ihm bloß seine Ruhe damit lassen. Trotzdem ließ ihn das Ganze nicht los, sodass er nun mit gemischten Gefühlen vor dem Fernseher saß und darauf wartete, dass die Folge begann. Er hatte ein wenig Angst davor, dass der Fall eventuell durch diese Sendung neue aufgerollt werden würde.

Eine Landesgrenze weiter saß schließlich auch Dr. Helmut Pircher in seiner Bozener Wohnung vor seinem Computer und wartete auf den Beginn dieser österreichischen Sendung, von der er durch Zufall von einem Kollegen erfahren hatte. Dr. Pircher war einer der besten Profiler von ganz Italien. Darauf war er sehr stolz. Sein Privatleben hatte er dafür allerdings schon früh seiner Arbeit geopfert, in der er ganz und gar aufging und der er alles unterordnete. Wie hypnotisiert starrte er auf den Bildschirm. Außer an seiner Arbeit hatte er noch großen Gefallen an gutem Essen und italienischen Rotwein, was seiner Figur mittlerweile deutlich anzusehen war. Doch der Alkohol ließ ihn immerhin das Grauen vergessen, das ihm täglich durch den Kopf ging.

Endlich startete der Trailer. Carlos hatte die tiefe Hoffnung in sich, dass diese Sendung nun endlich den erhofften Durchbruch bringen würde, wenngleich ihm bewusst war, dass damit nur ein relativ kleiner Teil der möglichen Menschen angesprochen wurde, die etwas über die spanische Braut wissen könnten. Vielleicht hatten ja doch diese Österreicher am Strand etwas mit ihr zu tun, auch wenn diese bis heute alles abstritten. Nicht einmal für diese Sendung waren sie bereit gewesen, etwas auszusagen, was sie ja auch gleichsam wieder sehr verdächtig machte.

Ein Schauer durchströmte Frau Kofler, als die Bilder des am Pinienbaum hängenden Mädchens gezeigt wurden, dessen Kopf mit einem Tuch abgedeckt worden war. Sie musste schlucken. Und auch wenn man es Herrn Kofler nicht ansah, so erregten diese Bilder auch sein Gemüt, wenngleich vielleicht auf eine andere Art, die er niemals zeigen würde.

Fast zeitgleich kamen bei Jovanovic wieder die Gefühle von damals hervor, als die spanischen Polizisten ihn und seine beiden Bekannten recht ruppig am nächsten Morgen geweckt hatten, um sie zu diesem Mädchen zu befragen. Beklemmungen stiegen in ihm hoch und seine Hände begannen leicht zu zittern. Am liebsten hätte er die Sendung ausgeschaltet und doch konnte er es nicht. Wie ein Getriebener musst er wissen, was diese sensationslustigen Journalisten aus diesem Fall gemacht hatten. Nervös rieb er seine Hände aneinander.

Dr. Pircher saß hingegen ruhig vor dem Computerbildschirm. Neben ihm stand ein Glas Rotwein, von dem er gelegentlich nippte. Gleichzeitig saugte er jegliche Information, die in der Sendung über den Fall der spanischen Braut berichtet wurde, wie ein Schwamm in sich auf. Spanien war eines der wenigen Länder in dem Mord nach 20 Jahren verjährte. Diese Frist war längst abgelaufen. Nur wenn die Identität des Opfers oder des Mörders einem Land zugeordnet werden konnte, in dem Mord nicht verjährte, könnten die Ermittlungen wieder aufgerollt werden. Doch bisher wusste auch nach über 30 Jahren niemand, wer die junge Frau war, die dort am Pinienbaum in diesem spanischen Bergdorf gehangen hatte. Und da ihre sterblichen Überreste mittlerweile in einem Massengrab verscharrt wurden, würde es wohl auch sehr schwer werden, dies jemals nachzuweisen. Er ließ sich seinen Rotwein auf der Zunge zergehen. Gleichzeitig durchzuckte ihn dieser Kick, den er immer hatte, wenn er sich mental in die Lage eines Mörders versetzte.

Währenddessen zeigte der österreichische Sender nun unverpixelte Bilder der Toten, die damals in den Räumlichkeiten der Gerichtsmedizin aufgenommen worden waren und auch in der Lokalpresse veröffentlicht worden waren, in der Hoffnung, die Identität der jungen Frau klären zu können. Ihr Gesicht war rund und hübsch. Beinahe machte sie den Eindruck, als würde sie nur friedlich schlafen. Beim Anblick der Bilder musste Frau Kofler schlucken. Damit hatte sie nun nicht gerechnet. Mit großen Augen blickte sie zu ihrem Mann und fand zuerst keine Worte.

„Das ist Emma“, brachte sie schließlich hervor und der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Emma?“, fragte Herr Kofler irritiert nach.

„Du musst sie doch auch gekannt haben. Sie hat nur zwei Dörfer weiter gewohnt und ist vor über 30 Jahren plötzlich spurlos auf dem Weg nach Siena verschwunden“, versuchte Frau Kofler ihrem Mann auf die Sprünge zu helfen.

„Das sagt mir nichts. Bist du dir da sicher? Außerdem dürften zwischen Siena und diesem spanischen Dorf gut und gerne 1000 Kilometer liegen. Wie soll das gehen?“, meinte er recht gefasst zu seiner Frau.

„Ich bin mir totsicher“, meinte sie entschlossen zu ihrem Mann. „Ich werde jetzt die Polizei anrufen.“

„Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?“, versuchte er sie zur Vernunft zu bringen.

Es war keine Stunde später, als ein Carabinieri vor dem Bergbauernhof von Emmas Eltern stand und an die schwere alte Holztür klopfte. Ein hagerer Mann mit ergrautem Haar öffnete ihm arglos und bat ihn herein. Als er wenig später die Fotos der spanischen Braut auf den Tisch in der alten Bauernstube ausbreitete, brauchte es keine weiteren Worte. Die Tränen des alten Bergbauern, die lautlos über seine Wangen liefen, waren Gewissheit genug.

 

***

 

Mittlerweile war Emmas Schicksal kein Geheimnis mehr. Das Fernsehen und sämtliche Zeitungen des In- und Auslands hatten sich wie Hyänen auf den Fall gestürzt und übertrafen sich in reißerischer Berichterstattung. Vor ein paar Tagen hatte auch ein übereifriger Journalist an der Tür von Emmas Schwester geklingelt, um sie zu der Angelegenheit zu befragen. Sie blockte sofort ab. Doch der junge Mann ließ sich erst vertreiben, als sie mit der Polizei gedroht hatte.

Gerne hätte sie mit jemandem über die ganze Sache gesprochen. Aber nicht, um dann am nächsten Tag in der Zeitung zu stehen. Die ganze Sache hatte ziemlich viel Emotionen in ihr aufgewirbelt. Es war irgendwie erleichternd, endlich Gewissheit über Emmas Schicksal zu haben. Gleichzeitig stellten sich aber auch wieder neue Fragen. Wie hatte es Emma geschafft, in nicht mal 24 Stunden über 1000 Kilometer nach Spanien zu kommen? Wem war sie begegnet? Wer hatte ihr das angetan? War sie vielleicht freiwillig mit dieser Person mitgegangen? Kannten sie sich? Sie hatte immerhin zwei Landesgrenzen passiert. Und das zu einer Zeit, als in Europa die Grenzen noch kontrolliert wurden. Es hätte doch jemandem auffallen müssen, wenn sie gegen ihren Willen im Fahrzeug gesessen wäre. An einen Suizid glaubte Emmas Schwester nicht. Es hatte keinerlei Anzeichen gegeben, dass sie depressiv war. Und wieso sollte sie dafür extra nach Spanien reisen? Sie war noch nie vorher dort gewesen. Es gab einfach keinen Sinn.

Ihr Vater hatte bereits verlauten lassen, dass er kein großes Interesse mehr hatte, die Sache weiterzuverfolgen. Er war mittlerweile ein alter Mann. Ihm genügte die Tatsache, dass seine Tochter tatsächlich tot war. In wenigen Tagen war eine kleine Gedenkfeier für Emma geplant. Auf dem Friedhof würde ein kleines Metallkreuz für sie errichtet werden. Endlich ein Ort zum Trauern.

Emmas Schwester überlegte, ob sie nicht zu diesem Typ im 4. Stock gehen sollte. Er war zwar ein sehr seltsamer Kauz, aber so viel sie wusste, war er auch einer der besten Profiler dieses Landes und hatte schon bei etlichen namhaften Mordfällen erfolgreich mitgewirkt. Ob er ihr Antworten geben konnte? Sie war hin- und hergerissen.

Letztendlich fasste sie sich aber doch ein Herz und stieg die Betontreppe zur Wohnung des Mannes hinauf. Dr. Helmut Pircher prangte auf dem Klingelknopf, den sie, nachdem sie nochmals tief durchgeatmet hatte, drückte. Beinahe wäre sie schon wieder gegangen, weil sie dachte, der Mann wäre nicht zu Hause. Doch dann hörte sie behäbige Schritte aus dem Wohnungsinneren und schließlich öffnete er ihr die Tür. Sie hätte ihn auf Mitte 50 geschätzt, nur wenig älter als sie selbst. Sein Haar war grau meliert und er trug eine Brille. Seine Augen waren stechend grün und irgendwie geheimnisvoll. Über seinen runden Bauch spannte sich ein rot kariertes Hemd, das in eine funktional geschnittene Hose gestopft worden war. Dazu trug er Birkenstockschlappen. Außer höflichen Grußformeln, wenn man sich im Treppenhaus begegnete, hatten sie noch nie eine weitergehende Konversation geführt. Umso seltsamer kam sich Emmas Schwester nun vor, als sie vor diesem Mann stand.

„Sie wünschen?“, fragte sie der Mann etwas überrascht.

„Ich… Ich würde gerne mit Ihnen reden“, stammelte sie unsicher vor sich hin und kam sich dabei vor wie ein kleines Schulmädchen.

Er hob eine Augenbraue und blickte sie fragend an.

„Haben Sie in den letzten Tagen die Presse verfolgt? Der Fall über das vor 30 Jahren verschwundene Mädchen?“, fuhr sie schließlich fort, was ihr allerdings nicht leichtfiel. „Ich bin ihre Schwester. Sie sind doch Profiler. Ich möchte von Ihnen wissen, wie ich mir ihren Mörder vorstellen muss. Ich möchte es einfach nur verstehen.“

Eine ganze Weile stand er nur da und sagte nichts. Dann deutete er mit seiner Hand an, dass sie in seine Wohnung hereinkommen solle.

 

***

 

Ich wusste, dass ich es hatte tun müssen. Es wäre nicht anders gegangen. Sonst wäre ich nicht der, der ich heute war. Über dreißig Jahre war ich der Einzige gewesen, der über Emmas Schicksal Bescheid gewusst hatte. Als wäre es gestern gewesen, sah ich sie noch immer vor meinem inneren Auge auf dem Gehweg an der viel befahrenen Straße mitten in Florenz stehen mit ihrem Rucksack auf dem Rücken und einem Schild in der Hand, auf dem „Siena“ geschrieben stand. Sie war jung, hübsch und hatte so eine offene Art. Das hatte man ihr sofort angesehen. Sie war perfekt. Binnen Sekunden hatte sich eine innere Erregung in mir breit gemacht. Endlich war es also so weit. Langsam lenkte ich meinen Wagen an den Straßenrand. Sie war ein paar Jahre jünger als ich. Nicht viel. Im Laufschritt kam sie zu meinem Auto und öffnete die Beifahrertür.

„Können Sie mich nach Siena mitnehmen?“, fragte sie mich freudestrahlend und mit ihrem Südtiroler Akzent.

„Steig ein“, bot ich ihr lächelnd an. „Und bitte lass das Siezen, sonst komme ich mir schon so alt vor.“

Es dauerte nicht lange, bis sie meiner Aufforderung folgte. Ihren Rucksack nahm sie zwischen ihre Beine. Ihr süßlicher Duft lag plötzlich in der stickigen Luft der Karosserie. Von nun an hatte ich knapp 80 Kilometer Zeit, um sie davon zu überzeugen, mit mir zu kommen. Oft hatte ich eine solche Szene durchgespielt, Verhaltensmuster studiert und überlegt, wie ich es machen sollte. Doch Emma machte es mir leicht mit ihrer zutraulichen Art. Sie erzählte mir voller Begeisterung, dass sie ein bisschen die Toskana bereisen wollte. Sie hatte nicht viel Geld dabei.

„Falls du Lust hast auf Spanien. Ich fahr da übers Wochenende hin“, warf ich ganz beiläufig ein. „Ich besuche da Freunde von mir.“

Mit großen ungläubigen Augen schaute sie zu mir, so als könne sie nicht glauben, was ich gerade gesagt hatte. Für einen Augenblick hatte ich Angst, dass sie mich durchschauen könnte oder dass sie ablehnen würde. Doch die Vernunft hatte schnell über ihre Neugier gesiegt. Zu verlockend war mein Angebot.

Man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Die lange Fahrt erschien mir kurzweilig. Beinahe hätte ich Zweifel an meinem Vorhaben bekommen. Sollte ich es wirklich tun? Aber ich musste, drängte mich immer wieder diese innere Stimme. Alles lief reibungslos. Mühelos passierten wie die beiden Landesgrenzen. Keiner schien sich groß für uns zu interessieren. Es war bereits Nacht, als wir das spanische Küstendorf in den Bergen erreichten. Ich stellte das Auto an einem recht unbeobachteten Parkplatz ab, dann gingen wir langsam Richtung Strand. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen. Es war herrlich. Geradezu perfekt. Eine leichte Brise wehte vom Meer her und der Mond spiegelte sich im Wasser.

„Ich muss noch kurz nach Hause telefonieren. Nicht, dass sich meine Familie Sorgen um mich macht“, meinte sie glücklich lächelnd zu mir.

Und in diesem Moment wusste ich, dass ich schnell handeln musste. Ich war ihr körperlich überlegen und hielt sie am Arm fest.

„Was soll das?“, fragte sie erschrocken.

Ehe sie schreien konnte, drückte ich sie in den Sand, setzte mich auf sie und hielt hier Mund und Nase zu. Sie versuchte sich zu wehren, doch sie hatte keine Chance. Ich schaute zu, wie ihr langsam das Leben aus dem Körper rann. Ein nie da gewesenes Gefühl durchfuhr mich. Ich fühlte mich so stark und überlegen. Ich hatte es getan und niemand würde mir das je wieder nehmen können. Es war unbeschreiblich. Niemals hätte ich es mir so vorgestellt. Diese Macht über das Leben verlieh mir einen unglaublichen Kick, den keine Droge der Welt hätte hervorrufen können. Auch wenn mir bewusst war, dass sie bereits tot sein musste, drückte ich ihr noch meine Hand auf ihr Gesicht. Erst langsam ließ ich von ihr ab. Pures Adrenalin durchströmte meinen Körper. Sie sah so friedlich aus. Von dem Kampf, den sie die letzten Minuten ihres Lebens geführt hatte, war nichts mehr zu spüren. Vorsichtig nahm ich ihren leblosen Körper in meine Arme. Sie war noch warm. Ich holte das Seil aus meinem Auto, dass ich extra für diesen Anlass bereits seit Längerem mitführte und legte es ihr um den Hals. Dann trug ich sie im Schutz der Dunkelheit die Treppen zum Friedhof hinauf. Angst erwischt zu werden hatte ich keine, so machtvoll fühlte ich mich in diesem Moment. Danach ging ich zurück in mein Auto und trat den Rückweg an. Ihren Rucksack und die Schuhe verbrannte ich wenige Stunden später auf einem abgelegenen Parkplatz in Frankreich. Ich war gespannt, wie lange es dauerte, bis ihr Verschwinden mit meiner Tat in Verbindung gebracht würde.

In allen Zeitungen konnte man in den nächsten Wochen über das rätselhafte Verschwinden von Emma lesen. Eine Weile erschien sie mir noch in meinen Träumen, doch mit der Zeit ließ es nach. Zu Beginn schreckte ich jedes Mal auf, wenn es an der Wohnungstür klingelte. Doch mit jedem Jahr, das verging, wusste ich, dass die Wahrscheinlichkeit, enttarnt zu werden geringer wurde.

Als es dann vor wenigen Jahren neue Ermittlungsmethoden gab, ließ ich einem der Friedhofsarbeiter anonym ein bisschen Geld zukommen, damit er ihre sterblichen Überreste in dieses Massengrab überführte, das eine Identifizierung unmöglich machte. Es war alles viel zu einfach gewesen.

Über dreißig Jahre hatte es gebraucht, um Emmas Vermisstenfall mit dem Mordfall in Spanien in Verbindung zu bringen. Und eigentlich war es nur Zufall gewesen. Eine Touristin aus Südtirol, die in Österreich Urlaub machte, hatte zufällig diese Cold-Case-Sendung im Fernsehen angeschaut und Emma sofort erkannt. Angst davor, dass bei einer erneuten Aufnahme der Ermittlungen eine Spur zu mir führen würde, hatte ich nicht.

Aber nun saß sie vor mir, Emmas Schwester, und wollte wissen, wie sie sich den Mörder vorzustellen hatte. Sie sah Emma auch jetzt noch unglaublich ähnlich. Sofort tauchten die Bilder von damals wieder in meinem Kopf auf. So real, als wäre es eben erst geschehen. Ich konnte ihr doch nicht einfach sagen, dass ich es gewesen war, der ihre Schwester umgebracht hatte. Ich konnte ihr nicht sagen, dass es kein Zufall war, dass wir schon so viele Jahre im gleichen Haus wohnten. Ich konnte ihr auch nicht sagen, dass der Tod ihrer Schwester nötig gewesen war. Sie hätte es wohl nicht verstanden. Nicht umsonst war ich der beste Profiler Italiens geworden. Ich, Dr. Helmut Pircher. Denn niemand konnte sich besser in die Gedanken eines Mörders hineinversetzen als ein Mörder selbst.

Impressum

Texte: Coco Eberhardt
Cover: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Inspiriert von einem realen Fall. Handlung und Personen dieser Geschichte sind jedoch frei erfunden.

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