In Gedanken versunken saß ich in meinem Liegestuhl am Strand und zupfte belanglose Melodien auf meiner Ukulele, die ich mit einem sanften Summen begleitete. Unentwegt wurden Wellen vom Meer angespült. Eine leichte Brise blies vom dunkelblauen Pazifik auf die Insel und machte diesen warmen, sonnigen Tag recht angenehm.
Das ganze Dorf war in Aufregung. Mahina würde am Abend ein Freiluftkonzert geben. Lange war sie nicht mehr hier gewesen. Sie lebte schon seit vielen Jahre in Europa und war dort mittlerweile eine erfolgreiche Sopranistin, um die sich die berühmtesten Opernhäuser bemühten. Doch heute Abend würde sie nur für uns singen. Denn auch wenn sie am anderen Ende der Welt ein großer Star war, so war sie doch noch immer eine von uns. Ein hawaiianisches Herz blieb ein hawaiianisches Herz. Egal, wo in der Welt es sein Glück gefunden hatte.
Mahina. Leichter Wehmut beschlich mich, als mir ihr Name durch den Kopf ging. Ihr langes schwarzes Haar, das immer mit einer roten Blume geschmückt war, als wir noch Kinder waren, war mir noch in guter Erinnerung. Wir hatten oft zusammen gespielt und im Meer nach Fischen getaucht. Später hatte sie mich angefeuert bei zahlreichen Surfwettbewerben. War wie eine Schwester gewesen. Und nun lagen nicht nur geografische Welten zwischen uns. Ihre Stimme war schon immer etwas Besonderes gewesen.
„Und? Hast du es dir überlegt? Willst du heute Abend nicht doch kommen?“
Mein bester Freund Jaden war plötzlich am Strand aufgetaucht und hielt mir eine gekühlte Bierdose entgegen. Ich legte die Ukulele neben meine Liege und nahm sie gerne an.
„Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre“, meinte ich pragmatisch zu ihm und öffnete mit einem Zischen die Dose.
„Ach, komm. Das alles ist doch so lange her. Vor was hast du Angst?“, wollte er von mir wissen und setzte sich in den freien Stuhl neben mich.
War es tatsächlich die Angst, die mich davon abhielt, ihr zu begegnen? Diese Frage konnte ich mir selbst nicht so genau beantworten. Unsere letzte Begegnung war über fünfzehn Jahre her. Wir waren uns so vertraut gewesen und als ich daran zurückdachte, roch ich ihren lieblichen Duft, den ich auch nach all den Jahren nicht vergessen konnte.
Es war, nachdem ich meinen ersten Surfwettbewerb gewonnen hatte. Lediglich mit Shorts und einem Bikini-Oberteil bekleidet stand sie am Strand und hüpfte jubelnd. Dabei fiel ihr das schwarze lange Haar in Wellen über die Schultern. Sie umarmte mich stürmisch, als sie mich kommen sah und ihre Freude war mindestens so groß wie meine. Ich legte meine Arme um ihre Hüfte und zog sie ganz nah zu mir, dabei spürte ich ihre warme Haut unter meinen Händen. Und da war es auf einmal, dieses Gefühl, dass da mehr war zwischen uns, auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ. Damals war ich noch ein schüchterner Junge, was sich mit den Jahren allerdings gelegt hatte. Es bedurfte Mut, den ersten Schritt zu machen. Und mein Mut brauchte Zeit. Fast ein halbes Jahr. Sie hatte längst bemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmte, auch wenn mir das gar nicht so bewusst war. Es war eine laue Nacht gewesen. In der Strandbar herrschte noch ausgelassene Stimmung. Bunte Lampen tauchten die Palmen in warmes Licht. Ein älterer Mann mit buntem Hemd und einem Lei um den Hals spielte voller Inbrunst auf seiner Ukulele und sang dazu seine Lieder.
„Lass uns zum Strand gehen“, meinte sie schließlich lächelnd zu mir und nahm mich an die Hand.
Ich folgte ihr ohne ein weiteres Wort, bis wir uns schließlich in den weichen Sand fallen ließen. Der Mond schien hell und reflektierte sein Licht wie Perlen auf dem nächtlichen Pazifik.
„Heute ist Vollmond“, meinte sie zu mir und schaute dabei verträumt in den Nachthimmel.
„Mhm“, stimmte ich ihr zu und konnte meinen Blick nicht von ihr wenden.
Ich wusste, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen war, um ihr meine Gefühle zu offenbaren. Doch obwohl ich das Szenario schon tausendmal in meinem Kopf durchgespielt hatte, war ich in diesem Moment total überfordert damit. Letztendlich war es Mahina, die sich zu mir drehte, mir kurz über die Wange streichelte und mich küsste.
„Aloha wau iā ʻoe“, flüsterte sie mir in mein Ohr und in diesem Augenblick durchfuhr mich ein wohliges Kribbeln, von dem ich hoffte, dass es nie wieder aufhören würde.
An all das musste ich zurückdenken, als ich nun neben Jaden in meinem Liegestuhl hockte und geistesabwesend an meinem Bier nippte und den Wellen lauschte, die von der Sonne langsam in ein sanftes Orange getaucht wurden. Dabei kam es mir gar nicht so vor, dass dieses Ereignis bereits fast zwei Jahrzehnte zurücklag und seitdem viel passiert war. Es mochte kitschig klingen, aber ich wusste sofort, dass Mahina die Frau war, mit der ich mein Leben verbringen wollte. Aber so einfach war das Leben nun mal nicht. Drei Jahre hielt unser Glück und ich war es, der es zerstört hatte. Ich hatte es tun müssen. Für Mahina.
Auf dem ganzen Archipel kannte man Mahina damals mittlerweile. Ihre Stimme war so außergewöhnlich, sodass sie immer wieder Auftritte hatte. Die Leute liebten sie. Ich stand an eine Palme gelehnt und beobachtete die Gesichter der Menschen, die von ihrem Gesang ganz verzaubert waren und der auch mich in seinen Bann zog.
„Sie muss weg von hier“, hatte mich ihr Gesangslehrer unverblümt mit dieser unbestrittenen Tatsache konfrontiert, die ich eigentlich gar nicht hören wollte, obwohl ich es ebenfalls lägst gespürt hatte. „Sie könnte ein Arrangement an der Oper in Wien haben. Aber sie will nicht gehen. Wegen dir.“
Ich musste schluckten, als er mir das gestand. Mahina hatte mir nichts davon gesagt. Nein, ich wollte sie nicht gehen lassen. Aber ich musste. Das war mir in diesem Moment klar.
An diesem Abend hatten wir unseren ersten richtigen Streit.
„Ich will nicht gehen. Ich will nicht von dir getrennt sein“, warf sie mir an den Kopf und in ihren Augen sammelten sich Tränen und am liebsten hätte ich ihr gestanden, dass ich das eigentlich auch nicht wollte.
Oft hatte ich mich gefragt, was geschehen wäre, wenn ich es ihr tatsächlich gesagt hätte, wenn ich nicht das getan hätte, was ich dann getan hatte. Wie wären unsere Leben dann wohl verlaufen? Wären wir heute noch glücklich zusammen? Oder hätte sie mir Vorwürfe gemacht, dass ich sie um diese Chance und ihre Träume gebracht hatte? Ich konnte es nicht sagen und ich konnte es verdammt noch mal nicht rückgängig machen. Es brachte nichts, in der Vergangenheit zu verharren.
„Es wird langsam Zeit“, riss mich Jaden aus meinen Gedanken. „Das Konzert beginnt bald. Kann ich dich denn gar nicht umstimmen?“
„Ich fürchte nicht“, antwortete ich ihm mit Wehmut in der Stimme, während ich auf das weite Meer blickte.
Ich war froh, wieder alleine zu sein. Jaden war zwar mein bester Freund, aber mich hatte die ganze Sache doch ziemlich aufgewühlt. Wie Sand, der von der Flut aufgewirbelt wurde. Vom Dorf her hörte ich schließlich die Leute klatschen und dann herrschte Stille. Und in diese Stille klang plötzlich leise wie ein Wiegenlied, die Stimme von Mahina. Ein Prickeln durchfuhr meinen Magen. Während ich andächtig der Melodie lauschte, die sanft zu mir an den Strand getragen wurde, musste ich immer wieder an sie denken.
Sie hatte vor sechs Jahren geheiratet. Einen bekannten Medienunternehmer, der ihr ein Leben bieten konnte, von dem ich nicht einmal zu träumen wagte. Zu meinem Bedauern musste ich zugeben, dass er auch noch ziemlich attraktiv war. Immer wieder tauchten die beiden auf Fotos in der Regenbogenpresse auf. Sie wirkten glücklich. Es tat mir manchmal weh, das zu sehen. Nicht, weil ich es ihr nicht gönnte, sondern weil ich sie immer noch irgendwie vermisste.
Unsere Leben waren in völlig verschiedene Richtungen verlaufen. Sie war auf den großen Opernbühnen der Welt zu Hause und lebte in einer großen Stadtvilla mitten in Wien, während ich in einem kleinen Strandhaus am Pazifik wohnte und mich mit meiner Surfschule halbwegs über Wasser hielt. An Frauen hatte es mir zwar nicht gemangelt, vor den Traualtar hatte ich es allerdings nie geschafft. Aus einer meiner Beziehungen war mein Sohn Hoku hervorgegangen, den ich sehr liebte, auch wenn ich schon länger von seiner Mutter getrennt lebte. Er hatte die gleiche Begeisterung fürs Surfen wie ich. Und auch sonst war er mir sehr ähnlich. Ob Mahina und ich wohl auch Kinder gehabt hätten, wenn es anders gekommen wäre?
Die Sonne war bereits am Horizont im Meer versunken. Ihr Schatten hatte das Wasser langsam ins Dunkel getaucht. Lediglich der weiße Schaum der Wellen brach sich noch im fahlen Licht des Mondes. Der Gesang war bereits verstummt, ebenso wie der Applaus. Es war nun auch für mich Zeit, ins Haus zu gehen, um zu schlafen. Ich griff nach meiner Ukulele und erhob mich aus meinem Liegestuhl. Und gerade als ich mich umdrehte, stand sie plötzlich vor mir.
„Mahina“, entfuhr es mir und mein Herz begann wie wild zu pochen.
War sie es wirklich oder war es nur ein Traum? Sie war noch genauso hübsch, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte, obwohl sie reifer geworden war. In ihrem Haar steckte eine rote Blume.
„Ich hoffe, ich störe nicht“, meinte sie etwas verlegen zu mir.
„Nein. Nein“, stammelte ich ziemlich überrumpelt vor mich hin. „Setz dich“
Ich zeigte auf den Liegestuhl.
„Danke. Ich stehe lieber“, lehnte sie mein Angebot ab. „Ich habe lange überlegt, ob ich hierherkommen soll.“
„Verstehe.“
„Ich hätte es auch gerne verstanden“, meinte sie zu mir. „Warum bist du damals einfach gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Ich hatte gedacht, du liebst mich. Dachte, das zwischen uns sei etwas Besonderes. Ich habe es bis heute nicht verstanden.“
Hals über Kopf hatte ich mir damals einen Flug nach New York gebucht. Mein Onkel lebte dort und betrieb ein kleines Buchgeschäft. Er freute sich über meinen unverhofften Besuch und meine Mithilfe im Laden. Es war Sommer und die Stadt hatte sich aufgeheizt wie ein Pizzabackofen. Ja, ich war gegangen, ohne ein Wort und ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Dass ich gehen musste, damit auch sie gehen konnte? Dass ich eigentlich gar nicht wollte, dass sie nach Europa flog, aber auch nicht zuschauen konnte, wie sie diese einzigartige Chance verstreichen ließ? Ich hatte die Hoffnung, dass ich sie an diesem weit entfernten Ort einfach vergessen konnte. Aber mein Plan ging nicht auf. Sie geisterte mir unentwegt im Kopf herum und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Drei Wochen hatte ich es letztendlich in New York ausgehalten, dann bekam ich Heimweh. Heimweh nach dem Meer, nach dem Strand, nach den Palmen und vor allem nach Mahina. Für einen kurzen Augenblick hatte ich die Zuversicht, dass wir es schaffen könnten. Doch als ich wieder zurück war, erklärte mir ihr Gesangslehrer, dass sie bereits auf dem Weg nach Europa war. Wir hatten uns nur knapp verpasst. Und so fügte ich mich in mein Schicksal, das ich selbst verschuldet hatte. Dass es für sie wohl der richtige Weg gewesen war, konnte ich nur wenige Wochen später aus der Presse entnehmen, auch wenn es sich in meinem Herzen immer noch nicht so angefühlt hatte.
„Es war gut so. Glaub mir“, meinte ich mit ruhigem Ton zu ihr.
„Das beantwortet nicht meine Frage“, gab sie zurück.
„Wäre ich geblieben, wärst du nie zu der geworden, die du heute bist.“
„Soll das heißen, du bist um meinetwillen abgehauen?“
Das Mondlicht glitzerte in ihren Augen.
Ich nickte beklommen. Endlich war es gesagt und es war, als hätte ich mich von einer großen Last befreit.
„Ein besseres Leben hätte ich dir wohl nicht bieten können“, meinte ich zu ihr.
„Ja, ich hatte schöne Zeiten. Das möchte ich nicht bestreiten. Aber wer sagt, dass es nicht auch einen anderen Weg gegeben hätte, um glücklich zu werden? Einen Weg mit dir glücklich zu werden.“
„Mahina, jede Frau hier auf Hawaii würde dich um dein Leben beneiden.“
„Erfolg und Geld sind nicht alles im Leben. Ich musste dafür meine geliebte Heimat verlassen. Und auch dich. Das war nicht einfach für mich.“
„Einfach ist es nie. Aber du hast dein Glück gefunden, lebst in einem großen Haus und bist verheiratet.“
„Wir lassen uns scheiden“, gestand sie mir leise.
„Tut mir leid.“
„Klingt es komisch, wenn ich dir jetzt sage, dass ich dich nie vergessen konnte?“
Ich schüttelte den Kopf. Mir war klar, was sie damit meinte.
„Aloha wau iā ʻoe“, flüsterte sie mir in mein Ohr und in diesem Augenblick durchfuhr mich wieder dieses wohlige Kribbeln, von dem ich hoffte, dass es nie wieder aufhören würde.
Langsam legte ich meinen Arm um ihre Hüfte und zog sie vorsichtig zu mir her.
„Aloha wau iā ʻoe“, erwiderte ich leise, bevor sich unsere Lippen zärtlich berührten.
Texte: Coco Eberhardt
Cover: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 13.07.2022
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wir sind nicht auf der Welt, um perfekt zu sein. Wir sind da, um glücklich zu sein. (Unbekannt)