Žižkov. Unweit vom Zentrum Prags hatte sich dieser Ortsteil, der zum Großteil aus alten Mietshäusern bestand, über die letzten Jahre hinweg zu einer Art Künstlerviertel gewandelt, was mit der Zeit auch Kneipen wie Pilze aus dem Boden sprießen ließ. Jeden Abend trieb es mich hierher zurück, nachdem ich auf der Karlsbrücke und den umliegenden Gassen die Laternen entzündet hatte. Laternenanzünder war kein Beruf, für den man sich einfach so entschied. Es war ein Privileg. Es war nicht so, dass man mich unbedingt bräuchte. Die Laternen konnten mittlerweile ferngesteuert entzündet werden. Doch um den Stadtbesuchern etwas bieten zu können, leistete man sich diesen Luxus, was besonders in der dunklen Jahreszeit seinen ganz besonderen Reiz hatte. Eine moderne Beleuchtung konnte mit dem stimmungsvollen Licht einer Gaslaterne niemals mithalten. Manchmal fühlte ich mich wie ein Star. Die Leute machten Selfies mit mir. Ich trug eine Uniform und um die Schultern ein rotes Cape. Doch immer, wenn ich zurück nach Žižkov kam, wurde ich wieder zu Jan, dem Kerl, der mit seinem besten Freund in einer kleinen Mietwohnung hauste, die ihre besten Zeiten längst hinter sich gebracht hatte und trotz unserer Renovierungsversuche stark an die Zeiten erinnerte, als die Stadt noch tief hinter dem Eisernen Vorhang verborgen lag.
Fast jede Nacht schritt ich die dunkle Straße entlang. Auf meinem Weg lag das kleine Atelier von Jitka. Wie so oft brannte bei ihr noch Licht. Jedes Mal verlangsamte ich meinen Gang und beobachtete sie für einen kurzen Moment. Vertieft saß sie vor einer Leinwand und ich fragte mich, was sie wohl gerade malte. Und manchmal wünschte ich, sie würde mir die gleiche Beachtung schenken wie ihrer Kunst. Doch war ich nur ein Schatten, der allabendlich an dem großen Schaufenster vorbeihuschte, hinter dem sie ganz versunken mit dem Pinsel in der Hand saß. Ihr dunkles, gelocktes Haar hatte sie lose zu einem Pferdeschwanz gebunden. Über ihrer bunten Pluderhose trug sie ein Hemd, das ihr viel zu weit und mit Farbspritzern bedeckt war. Mit etwas Wehmut ging ich weiter, die nächtliche Straße entlang bis zum Bukowski´s, einer Bar, die nicht nur für mich zu einem zweiten zu Hause geworden war. Meist waren es die gleichen bekannten Gesichter, die sich hier herumtrieben. Ein großes Bücherregal zog sich über die ganze Wand bis zur Decke, welches mit Teelichtern eine schummrige Gemütlichkeit verströmte. Runde Holztische waren im Raum verteilt. Mein Stammplatz war jedoch an der langen Theke. Von außen war die Wohnlichkeit der Bar nur schwer zu erahnen. Vergitterte Fenster und eine schmucklose Fassade schreckten eher ab. Wäre da nicht das Schild über der Eingangstür, man würde glatt vorbeigehen. Ich musste mittlerweile nicht einmal mehr sagen, was ich bestellen wollte. Ohne große Worte stand eine Flasche gekühltes Pilsner vor mir.
„Das ist vorhin für dich abgegeben worden“, meinte Tomáš, der hinter der Zapfanlage stand, beiläufig zu mir und schob mir ein weißes Kuvert über den Tresen.
Es stand kein Absender und auch kein Empfänger darauf, was mich verwunderte.
„Von wem ist das?“, wollte ich wissen.
„Mach es auf, dann weißt du es.“
Tomáš zwinkerte mir zu, während er gerade frisches Bier zapfte. Neugierig riss ich den Briefumschlag auf und eine Karte kam hervor, die aussah, als wäre das Papier dafür von Hand geschöpft worden. Darauf las ich die folgenden Worte:
Herzliche Einladung zu meiner Vernissage,
heute in drei Tagen,
nach Einbruch der Dunkelheit.
Mit freundlichen Grüßen
Jitka
War das möglich? War diese Karte tatsächlich von Jitka? Oder wollte mich einer meiner Freunde in der Kneipe mal wieder aufziehen, wegen meiner einseitigen Schwärmerei zu der eigenbrötlerischen Künstlerin ein paar Häuser weiter. Ich versuchte zu erkennen, ob die Karte handgeschrieben war. Doch heutzutage konnte so etwas auch sehr gut maschinell gefertigt worden sein und man würde es nicht einmal merken. Als wäre es ein Schatz, schob ich die Einladung ganz vorsichtig in meine Manteltasche, bezahlte und ging die Straße hinauf zu meiner Mietwohnung. Wenig später lag ich in meinem Bett und die Karte auf dem Nachttisch. Ich blickte aus dem großen, alten Fenster in den sternenklaren Himmel und dachte an Jitka. Vielleicht wäre die Vernissage eine gute Gelegenheit, sie besser kennenzulernen, ihr endlich etwas näher zu kommen.
***
Wie lange doch drei Tage sein konnten. Jeden Abend blickte ich beim nächtlichen Vorübergehen in das Atelier. Und jeden Abend war es der gleiche Anblick. Ganz versunken saß Jitka im Licht der fahlen Scheinwerfer vor ihrer Leinwand und führte den Pinsel routiniert darüber, doch nahm sie mich mit keinem Blick wahr. Langsam schlich ich an ihrem Fenster vorüber.
Schließlich war der Tag gekommen, nach dem ich mich, seit ich die Einladung erhalten hatte, sehnte. Ich weiß nicht, was ich von einer Vernissage zu erwarten hatte. Viele, wichtige Leute. Ein Galerist, der eine lobende Rede auf die Künstlerin hielt. Häppchen und Sekt. Diese Gedanken verfolgten mich an diesem Abend, als ich noch auf der Karlsbrücke die Laternen entzündete. Ich stellte mir das kleine Atelier vor, wie es für einen Abend von seinem Dornröschenschlaf erwachen würde. Jitka in einem hübschen Kleid, das Haar kunstvoll frisiert. Etwas hektisch verrichtete ich meine Arbeit, die an diesem Abend kein Ende nehmen wollte. Die mit Gaslaternen gesäumten Gassen kamen mir endlos vor. Ich konnte es kaum erwarten.
Ein Gefühl von erwartungsvoller Aufregung stieg in mir auf, als ich schließlich die nächtlichen Straßen Žižkovs entlang eilte. Doch als ich vor dem Fenster des Ateliers angekommen war, bot sich mir in keiner Weise das Bild, das ich mir den ganzen Abend ausgemalt hatte. Der Raum war leer. Kein Mensch war da. Für einen kurzen Moment hatte ich Zweifel, ob es sich bei meiner Einladung nicht doch um einen schlechten Scherz handelte. Doch war etwas anders als sonst. Jitka saß nicht vor ihrer Leinwand. Statt ihrem alten Hemd mit den Farbflecken trug sie ein hübsches Cocktailkleid. Sie saß auf einem Stuhl und hatte die Hände ins Gesicht gestützt. Sie wartete, das war nicht zu verkennen. Irgendwie tat sie mir leid. Wie es schien, war keiner gekommen zu ihrer Vernissage. Ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Unbehagen machte sich in mir breit. Obwohl ich mir seit Langem nichts sehnlicher wünschte, als mit Jitka allein zu sein, verließ mich in diesem Moment der Mut. Sollte ich einfach weiter gehen? In dem Wissen, dass ich meine einzige Chance vertan haben würde? Nein, das konnte ich nicht zulassen. Es kostete mich ein wenig Überwindung, hineinzugehen. Vorsichtig drückte ich die alte Türklinke und ehe ich es recht realisieren konnte, stand ich vor Jitka.
„Ich dachte schon, du kommst nicht mehr“, meinte sie zu mir und ein Lächeln erhellte ihr feines Gesicht.
Ihre Augen waren tiefbraun und erinnerten an Kastanien. Ich trug noch meine Uniform.
„Wo sind denn die Gäste?“, wollte ich mit unsicherer Stimme von ihr wissen.
„Sie sind alle da“, erwiderte sie mir mit sanfter Miene.
„Ich sehe niemanden“, meinte ich zu ihr.
Sie verwirrte mich in diesem Moment noch mehr, als sie es eh schon tat. Doch Jitka blieb ganz ruhig.
„Ich habe nur eine Einladung verschickt.“
Erst jetzt begriff ich.
„Aber warum?“
„Weil ich dir meine Bilder zeigen möchte. Das macht man so auf einer Vernissage.“
„Ich dachte immer, du siehst mich nicht. Du wirkst so vertieft in deine Bilder.“
„Künstler haben einen guten Blick für das Besondere.“
Seltsam war mir zumute. Ihre Nähe verursachte ein unverhofftes, aber wohliges Kribbeln in mir. Mit einem leisen Knall öffnete sie eine Sektflasche und schenkte zwei Gläser ein, wovon sie eines mir reichte.
„Na zdraví.“
Hinter Leinentüchern hatte sie ihre Gemälde versteckt und ich fragte mich, warum. Warum das alles? Auf einmal kam ihre Hand auf mich zu. Vorsichtig fuhr sie mir über das Gesicht. Ihrer Finger fühlten meine kurzen Bartstoppeln. Ich ließ es geschehen, schloss dabei die Augen und genoss ihre warme Berührung. Sie fuhr weiter bis zu meiner Brust. Mein Herz pochte wie verrückt. Ich legte meine Hand auf die ihre und zog sie behutsam zu mir her. Ihr Haar duftete nach Magnolie. Mit ihren Lippen liebkoste sie meinen Hals, streifte kurz mein Ohr. Und ehe ich es realisierte, küssten wir uns.
***
Am nächsten Morgen blinzelte die Sonne durch die dicken Stoffvorhänge des Ateliers. Eng umschlungen lagen wir auf der Matratze auf dem alten Parkettboden. Ihr Cocktailkleid lag neben meiner Uniform auf einem alten, wurmstichigen Holzstuhl. Lediglich ein dünnes Laken bedeckte unsere nackten Körper, die sich gegenseitig wärmten.
„Eine Vernissage habe ich mir immer ganz anders vorgestellt“, flüsterte ich zu ihr.
„Möchtest du jetzt meine Bilder sehen?“, fragte sie mich sanft lächelnd.
Eine Haarsträhne hing ihr ins Gesicht. Nickend stimmte ich zu. Langsam erhoben wir uns von unserm Nachtlager und Jitka entfernte die Tücher von den Leinwänden. Ich war gespannt, was sich darunter verbarg und staunte nicht schlecht als ich ihre Bilder betrachtete.
„Ist das…?“, stammelte ich.
„Ja. Das bist du“, meinte sie und lächelte zu mir.
Ich, wie ich jeden Abend an ihrem Atelier vorbei geschlichen war.
„Es wurde höchste Zeit für eine neue Perspektive“, ergänzte sie, schlang ihre zarten Hände um meinen Körper und gab mir einen innigen Kuss.
Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2022
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kunst. (J. Beuys)