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Félicie & Raphaël

„Gehst du wieder ins Fitnessstudio?“, fragte sie ihr Ehemann, der kaum von seinem Buch aufsah, als er das wissen wollte.

Die Brille saß ihm auf der Nasenspitze, während er auf der ledernen Chaiselongue hockte im antikwirkenden Wohnzimmer der hochgeschossigen Altbauwohnung mit den großen Sprossenfenstern, die mit schweren Schabracken verkleidet waren. Das Bücherregal reichte bis zur Decke und man brauchte eine Leiter, um an die obersten Bücher zu gelangen. Das alte Fischgrätenparkett wurde großflächig von einem Perserteppich geschützt. Eine alte Bankerlampe aus Messing und mit grünem Lampenschirm erleuchtete das Zimmer sanft. Dominique war schon immer ein Bücherwurm gewesen.

„Ja“, meinte sie kurz angebunden zu ihm und prinzipiell war das auch nicht gelogen, denn sie würde ihr Auto tatsächlich vor dem Fitnessstudio parken.

Sie trug ihre Sporttasche in der Hand und konnte nur von Glück sprechen, dass Dominique noch nie in diese Tasche hatte schauen wollen. Er vertraute ihr blind. Es war wohl eine Mischung aus Routine, Desinteresse und blindem Vertrauen, was ihm nicht gestattete, misstrauisch zu werden. Was sollte ihn nach fast 20 Ehejahren auch noch überraschen an ihr. Félicie war keine besonders warmherzig wirkende Frau. Kühl, besonnen und intelligent. Das waren die drei Adjektive, mit der man sie wohl hätte am besten beschreiben können. Und das waren auch die Eigenschaften, die Dominique an ihr so schätzte. Sie trug eine schwarze Marlenehose und eine weiße Bluse dazu. Schnell zog sie sich den karierten Wollmantel über. Ihr dunkles Haar hatte sie sich wie immer zu einem strengen Dutt frisiert.

„Salut Dominique“, verabschiedete sie sich knapp von ihm und eilte durch das Treppenhaus, dessen Architektur noch von alten herrschaftlichen Zeiten erzählte.

Jeden Mittwochabend war es das gleiche Spiel. Sobald sie die eheliche Wohnung verlassen hatte, machte sich in ihr diese schier unglaubliche Aufregung breit. Ein Gefühl, das sie nur selten zuließ und welches sie in Dominiques Gegenwart, wenn überhaupt nur selten verspürte.

Draußen war es bereits dunkel. Sie setzte sich hinter das Steuer ihres nostalgisch wirkenden Citroëns und fuhr durch die holprigen Kopfsteinpflasterstraßen der Altstadt, um sich dann einen Parkplatz vor dem Fitnessstudio zu suchen, über dessen Schwelle sie allerdings noch nie einen Fuß gesetzt hatte.

Eilig huschte sie die Straße hinauf zu einem hohen Art Déco-Gebäude mit roter Fassade, in welchem sie rasch verschwand. Den alten Aufzug benutzte sie nie, aus Angst stecken zu bleiben. Stattdessen hastete sie die Treppen hinauf in den dritten Stock. Nicht weil sie zu spät dran war. Nein, es war das pure Verlangen, welches sie zur Eile trieb.

Sie öffnete die Tür, die sie sofort in den großen Saal mit den hohen Wänden und dem alten Holzboden führte. An der Decke hing ein üppiger Kristallkronleuchter, der den Raum in ein eigentümliches Licht tauchte. Und da stand er wie jeden Mittwochabend: Raphaël.

Raphaël trug zu seinem dunkelgrauen Anzug ein weißes Hemd und eine Krawatte. Sein dunkles volles Haar hatte er sich stilvoll zur Seite gekämmt. Schnell begab sich Félicie in den Nebenraum, um sich umzuziehen. Sie wollte ihn nicht länger als nötig warten lassen.

Raphaël dürfte wohl keinesfalls älter als sie sein. Eher jünger. So genau konnte sie das nicht sagen und es interessierte sie auch nicht weiter. Die beiden hatten sich über eine Chiffre-Anzeige kennengelernt, welche Félicie aufgegeben hatte.

In Windeseile ließ sie ihre Hose zu Boden gleiten, knöpfte ihre Bluse auf und befreite sich von ihrem BH. Stattdessen schlüpfte sie in das schwarze rückenfreie Kleid mit dem roten Saum, das auf einer Seite kürzer geschnitten war, als auf der anderen und fast ihren ganzen Oberschenkel freigab. Ihre flachen Lederschuhe hatte sie in hohe Schuhe mit Pfennigabsatz getauscht und in ihr Haar, das sie nun offen trug, hatte sie sich eine rote Blume gesteckt. Vor sie zurück in den Saal ging, blickte sie noch einmal in den kleinen Spiegel. Der Mascara betonte ihre braunen Augen gekonnt. Dominique war es noch nie aufgefallen, dass sie sich vor ihren angeblichen Fitnessstudioaufenthalten immer schminkte. Ihr konnte das nur recht sein.

Das Schöne bei Raphaël war, dass es keine großen Worte brauchte, um sich zu verstehen. Wenn der erste Ton der Tangomusik erklang, wusste jeder von beiden, was zu tun war. Und so war es auch heute Abend wieder.

Sie standen sich so nahe gegenüber, dass nicht einmal ein Blatt Papier mehr dazwischen gepasst hätte. Er umfasst sie mit der rechten Hand und berührte damit ihren nackten Rücken, was bei Félicie ein Kribbeln auslöste, welches sich bis zu den Spitzen ihrer Brüste ausbreitete. Wie ein Schwan hob sie ihre Hände und fuhr ihm dann mit ihrer linken Hand kurz über seinen Nacken, bevor sie ihren Arm auf seine Schulter legte und sich ihre andere Hand mit seinen Fingern vereinte. Wieder kam er ihrem Gesicht ganz nah und berührte kurz ihre Haut, ohne sie zu küssen. Jedoch konnte sie ihn nun intensiv riechen. Dezentes Parfum verschleierte seinen Eigenduft, der nicht minder anregend war. Dann ließen die beiden ihre Füße kurz auf dem Boden kreisen, bevor sie sich einem Balztanz gleich über das Parkett bewegten.

Sie berührte mit ihrem Fuß sein Bein und fuhr langsam daran hoch. Kurz lehnte sie sich an ihn und er fing sie auf. Sein Blick war dabei ernst. Er hörte der Musik genau zu und hatte Rhythmus, was mehr wert war, als viele Figuren zu inszenieren.

Der Tango war wie eine Schule des Lebens. Wenn Raphaël sie umarmte, war es nicht nur eine Formalie des Tanzes. Es war, als würde sich jede Faser ihres Körpers entspannen. Sie fühlte sich bei ihm geborgen und geliebt zugleich, obwohl sie doch eigentlich gar nicht viel über ihn wusste.

Das Einzige, was die beiden verband, war der Tango. Doch der Tango war weit mehr als nur ein Tanz für Félicie und Raphaël. Durch ihn konnten sie all die Gefühle ausdrücken, die sie sonst nicht zeigen konnten: Liebe, Verachtung, Nähe.

Das Lied war zu Ende. Ihre rechte Hand berührte sanft sein Ohr, während er sie am Rücken festhielt. Sie vernahm seinen pulsierenden Atem ganz nah. Das war der Augenblick, für den sie lebte. Der Augenblick, in dem sie sich so lebendig fühlte wie nie.

Es war nicht so, dass sie für Dominique keine Gefühle mehr hatte. Doch das, was sie mit Raphaël jeden Mittwochabend erlebte, würde er ihr niemals geben können.

 

Impressum

Texte: Coco Ebehardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Tango ist eine Therapie, die die Seele befreit. (Ricardo Vidort)

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