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Ein kleiner Gruß von mir

Die Sonne flutete hell und warm durch die engsprossigen, großen Industriefenster der Loftwohnung. Ich lag neben dir im Bett und schaute dir zu, wie du noch seelenruhig vor dich hindöstest. Deine Decke war dir wieder mal während der Nacht auf den Boden gerutscht und dein T-Shirt gab eine kleine Stelle deines Bauches frei, den ich ganz sanft streichelte. Als wäre meine Berührung eine lästige Fliege, wischtest du sie reflexartig im Halbschlaf weg. Ich liebte es immer noch, dir beim Schlafen zuzuschauen.

 

***

 

Wie gut konnte ich mich noch daran erinnern, als wir uns das erste Mal begegnet waren. Harry hatte eine Party gegeben. Obwohl wir beide mit Harry befreundet gewesen waren, hatten wir uns vorher noch nicht gekannt. Deine warmen, braunen Augen hatten mich sofort in ihren Bann gezogen, obwohl du eher ein bisschen unnahbar wirktest. Ich wusste sofort, in dein Innerstes lässt du nicht jeden blicken. Etwas gelangweilt lehntest du auf einem der Sitzsäcke im kleinen Wohnzimmer der Studenten-WG. Die eigentliche Party fand wie immer in der Küche statt. Ich hockte mich neben dich.

„Picasso behauptete einst: Alles, was du dir vorstellen kannst, ist real“, meinte ich ohne ein Wort der Begrüßung zu dir und war gespannt, wie du reagieren würdest.

Doch du bliebst mir eine Antwort schuldig.

„Na, du bist ja sehr gesprächig“, hatte ich nach einer Weile mit ironischem Unterton zu dir gesagt.

„Wer schweigt, stimmt nicht immer zu. Er hat nur manchmal keine Lust, mit Idioten zu diskutieren“, meintest du schließlich mit ernster Miene zu mir.

Ungläubig blickte ich zu dir. Eingebildet und arrogant. Das war mein erster Eindruck von dir. Obwohl mir nur selten die Worte fehlten, wusste ich in diesem Augenblick nicht, was ich erwidern sollte. In meiner impulsiven Art war ich schon kurz davor, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Doch bevor ich loslegen konnte, meintest du:

„Der Satz stammt von Einstein. Jetzt bist du wieder dran mit einem Zitat.“

Du zwinkertest mir kurz zu und über deine Lippen huschte ein kurzes Lächeln.

„Ich habe keine Angst vor dem Tod, weil ich nicht an ihn glaube. Man steigt nur von einem Wagen in den anderen. John Lennon.“

„Na, du gehst ja ganz schön ran“, sagtest du süffisant und überlegtest eine Weile, was du darauf erwidern konntest. „Man lebt nur einmal, aber wenn man es richtig macht, ist einmal genug. Mae West.“

Und damit begann eine hitzige Diskussion zwischen uns beiden, ausgelöst durch die Reibungsenergie, die aus dem Aufeinanderprallen unserer beiden gegensätzlichen Welten freigesetzt worden war. Du, der junge Ingenieur, der bei einem großen Flugzeughersteller auf eine erfolgreiche Karriere hoffen konnte. Ich, die ehemalige Kunststudentin, die ihr Studium kurz vor Abschluss abgebrochen hatte und sich nun mit ihren kreativen Ergüssen irgendwie über Wasser hielt, aber ihr Leben genauso liebte wie es war.

Wir waren so mit uns so beschäftigt, dass wir gar nicht mitbekommen hatten, dass wir die letzten Partygäste waren.

„Macht bitte das Licht aus und zieht die Tür hinter euch zu, wenn ihr hier fertig seid mit quatschen“, meinte Harry mit kleinen, müden Schlitzaugen zu uns, bevor er sich in sein Schlafzimmer verzog.

„Ist wohl Zeit zu gehen“, meintest du zu mir und lächeltest mich an, was ich gerne erwiderte, bevor wir uns zeitgleich aus den Sitzsäcken schälten und schließlich gemeinsam die Wohnung verließen.

„War ein netter Abend mit dir. Ich hasse eigentlich Partys, aber ich konnte Harry nicht schon wieder absagen. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder“, meintest du zum Abschied noch zu mir.

„Wenn es das Schicksal will, werden wir uns hoffentlich wieder sehen“, sagte ich kühn.

„Sag bloß, dass du jetzt noch über das Schicksal philosophieren willst?“, fragtest du mich mit gespielter Entrüstung.

Die langsam aufgehende Sonne kündigte schon den neuen Tag an.

„Ne, passt schon. Mach´s gut.“

Und so trennten sich unsere Wege wieder.

Mit einem Kribbeln im Bauch musste ich die nächsten Tage immer wieder an dich denken, obwohl du eigentlich so gar nichts mit den Typen gemein hattest, in die ich mich sonst immer verknallt hatte.

 

***

 

Ob es Schicksal oder Zufall war, dass wir uns dann wenige Woche später wieder getroffen hatten, war immer ein hitziger Diskussionspunkt zwischen uns gewesen. Aber es war nun mal eine unabänderliche Tatsache, dass es so gekommen war. An einer Currywurst-Bude hattest du dich angestellt, um dir ein Mittagessen zu holen, und ich kam gerade daran vorbei.

„Du wirst doch hoffentlich keine Currywurst essen wollen“, meinte ich fast schon etwas brüskiert und ohne Vorwarnung zu dir.

Erst jetzt hattest du mich erkannt. Warst etwas verlegen, weil du nicht so recht wusstest, was an einer Currywurst verwerflich wäre. Doch als ich dich aus den Fängen der Würstchenbude befreit hatte und wir in dem kleinen Reformhaus-Bistro saßen, das jeden Mittag zwei leckere vegane Mittagsmenüs zur Auswahl hatten, erklärte ich es dir.

Ein Veganer war aus dir bis heute nicht geworden. Jedoch hatten wir irgendwie akzeptieren können, dass wir eben grundverschieden waren. Du, rational und besonnen. Ich, verspielt und etwas verrückt.

 

***

 

Bis wir ein Paar wurden, war es ein langer, aber doch recht spannender Weg. Ich glaube, mit dem Gedanken, dass wir mehr füreinander empfanden, konnten wir uns auch selbst erst ganz langsam anfreunden. Nächtelang hatten wir durchdiskutiert, als wäre es ein Balztanz gewesen, der uns allmählich einander näherbrachte. Zärtlichkeiten waren nichts, was du leichtfertig verschenktest, doch wenn man sie aus dir herauslocken konnte, dann war es einfach nur schön.

Schließlich waren wir sogar zusammen in dieses Loft gezogen, das einem strukturierten Chaos glich und in dem ich mir ein eigenes kleines Atelier einrichten konnte. Das Chaos kam von mir und die Struktur von dir. So ergänzten wir uns auf eine skurrile Weise.

Dass du mich liebst, sagtest du im Gegensatz zu mir nicht oft, doch war das auch nicht nötig, denn ich spürte es in all deinem Sein und deinem Tun.

 

***

 

„Ich liebe dich“, flüsterte ich dir ins Ohr, während du immer noch schlaftrunken in unserem Bett im Loft lagst. „Wird es nicht langsam Zeit aufzustehen?“

Instinktiv hast du dich auch sofort aus dem Bett gerollt und schwerfällig in die Küche geschleppt. Ich folgte dir. Manchmal fiel es mir schwer, dich so zu sehen. Lediglich einen Espresso hast du dir aus der Siebträgermaschine laufen lassen. Das war dein ganzes Frühstück, obwohl du doch heute unendlich Zeit dafür hättest, denn es war schließlich Sonntag. Doch wie jeden Sonntag zogst du deine Jacke an und gingst aus der Wohnung zum Waldfriedhof, wo die Trauerweiden im Wind wippten und ihr sanft säuselndes Lied summten. Im Schatten der Bäume stand ein kleiner Grabstein. Er trug meinen Namen.

Ein Auto hatte mich erfasst, ohne Vorwarnung und ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können. Ich war sofort tot. Es war nicht schlimm. Man steigt tatsächlich nur von einem Wagen in den anderen, so wie es sich John Lennon vorgestellt hatte. Nichts, vor dem man Angst haben müsste.

Das Zitat von Picasso kam mir wieder in den Sinn, als du da mit Tränen in den Augen vor meinem Grab standest. Alles, was du dir vorstellen kannst, ist real. Meine ersten Worte an dich. Und ich wünschte mir in diesem Moment tatsächlich, du könntest es dir vorstellen. Denn dann wüsstest du, dass der kleine Marienkäfer, der gerade auf deiner Jeans gelandet war, nicht zufällig dort saß, sondern ein kleiner Gruß von mir an dich war.

 

Impressum

Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Sinn des Lebens besteht darin, deine Gabe zu finden. Der Zweck des Lebens ist, sie zu verschenken. (Pablo Picasso)

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