Ihr Blick schweifte in unbestimmte Ferne, war ganz weit weg von diesem Ort hier, gefangen in der Erinnerung der Vergangenheit und des gestrigen Tages. Es war nicht irgendein Tag. Es war ihr Tag gewesen. Zusammen mit ihrem Franz. Er hatte einen schönen schwarzen Anzug getragen mit Krawatte. Sie dieses umwerfend schöne weiße Kleid, das ihr das Gefühl gegeben hatte, eine Prinzessin zu sein. Zumindest für einen Tag. Ihre Cousine hatte es ihr geliehen. Ein eigenes hätte sie sich nicht leisten können. Doch das tat dem Ganzen keinen Abbruch. Es war eine schöne Feier gewesen. Ihr Brautstrauß hatte herrlich nach Sommerblumen geduftet. Der alte Pfarrer, der sie beide im Säuglingsalter schon getauft und bei ihrer Kommunion zelebriert hatte, hatte ihnen nun auch seinen Segen für ihre Ehe gegeben. Hoffentlich eine lange, gute, glückliche Ehe.
Alle waren gekommen. Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten, Vettern und Basen. Alle, die noch hier lebten, hatten diesen glücklichen Tag mit ihnen gefeiert. Obwohl man dem Leben noch die Kriegsjahre anmerkte, es an allem mangelte, hatte es bei ihrer Hochzeit an nichts gefehlt. Die Ehe ist der Anfang eines Weges. Doch gleichzeitig war sie auch das Ende. Das Ende ihres bisherigen Lebens und gewissermaßen auch das Ende ihrer Kindheit, obwohl sie schon lange kein Kind mehr gewesen war. Denn sie wusste nicht, wann oder gar, ob sie ihre Eltern und ihre Geschwister jemals wieder sehen würde. Bei diesem Gedanken wurden ihre Augen ein wenig feucht. Sie versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass sie mit ihrem Franz nun ein ganz neues Leben beginnen würde. Träumte von einer Familie. Von den gemeinsamen Kindern.
Die Kriegsjahre waren nicht einfach gewesen. Sie hatte im Lazarett geholfen, Verwundete zu versorgen. Hatte viel Elend gesehen. Immer auch in der Angst, wie es wohl ihrem Franz geht, der weit weg an der Front seinen Dienst tun musste. Immer in der Angst, ob er wohl wieder kommen würde. Und er kam wieder. Fast unbeschadet stand er eines Nachts vor der Tür ihres Elternhauses. Mit zwei Freunden war er von Russland bis nach Hause zurück geflüchtet. Sie waren nur nachts gelaufen. Wochenlang. Hatten sich tagsüber versteckt. Die Angst, erwischt zu werden, war immer präsent gewesen. Doch sie war nichts gegen die Angst an der Front elendiglich zu verrecken. Die Strapazen der letzten Wochen sah man ihm am. Und doch war es pures Glück, was sie in diesem Moment empfunden hatte, als er so vor ihr stand. Eine Weile mussten sie Franz noch verstecken. Es waren die Tage vor dem Kriegsende. Fahnenflucht war kein Kavaliersdelikt. Es war so schön, als er sie in den Arm nahm, sie sich an seine starken Schultern anlehnen konnte, ihre Lippen sich kurz und fast unmerklich berührten. Er war groß, größer als die meisten jungen Männer hier am Ort. Und hübsch. Seine braunen Knopfaugen hatten sie vom ersten Augenblick an verzaubert. Dieser treuherzige Blick dieses in sich ruhenden Mannes, den sie so sehr liebte und den sie so sehr vermisst hatte. Sie fuhr ihm durch das dunkle, dichte Haar.
Ruhig saß er nun neben ihr. Wortlos legte sie ihre Hand in seine und lehnte sich an ihn. Ein wohlwollendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Das monoton metallische Geräusch der Gleise unter ihrem Waggon nahm sie kaum noch wahr. Ebenso wenig wie die stickige Luft und die verschiedensten Ausdünstungen ihrer Mitreisenden. Ein kleines Kind heulte. Doch sie war gefangen in ihrer Welt, erfüllt von großem Glück und Wehmut zugleich.
Ihre Mutter hatte ihr am Tag der Hochzeit das Haar zu einer kunstvollen Frisur gesteckt. Einzig für diesen besonderen Moment. Obwohl es erst gestern gewesen war, war es schon so weit weg. Mit jedem Kilometer, den der Zug über die Gleise ratterte, entfernte sie sich weiter von ihrem bisherigen Leben hinein ins Ungewisse. Der Schmerz, die Eltern und die Geschwister zurückgelassen zu haben, wallte wieder kurz in ihr auf. Es war ihre Entscheidung gewesen. Sie hätte dableiben können, hätte sie nicht ihren Franz geheiratet. Bleiben in ihrer Heimat. Ihr Vater und ihr Bruder waren im Bergwerk beschäftigt, wodurch sie nicht gezwungen waren, ihr Dorf zu verlassen. Es nicht einmal verlassen durften, obwohl die anderen alle wegmussten. Die Tschechen hatten gemerkt, dass sie noch ein paar Arbeiter brauchten. Die Gewalt des Beginns war mittlerweile einer organisierten Routine gewichen. Doch es war immer noch eine Vertreibung. Und es war trotzdem nicht angenehm. Es würde nie mehr so sein, wie es gewesen war.
Der Fahrtwind zog durch die Ritzen des Viehwaggons, in dem sie beide saßen. Obwohl sie nicht alleine waren, hatten sie jetzt nur noch sich. Ihre weißen Armbinden, ein Symbol ihrer Rechtlosigkeit, hatten sie bereits kurz nach der Abfahrt abgezogen und aus dem fahrenden Zug geworfen. Die 20 Kilogramm Gepäck in dem Koffer an ihrer Seite waren alles, was sie aus ihrem bisherigen Leben mitnehmen hatte dürfen. 20 Kilogramm waren nicht viel. Man musste genau überlegen, was einem heilig war. Mehr war nicht erlaubt. Es musste reichen, um sich ein neues Leben aufzubauen. Ein Leben, das völlig im Ungewissen lag und bei dem sie nicht wusste, wo es weiter gehen würde. Nur ihren Franz an ihrer Seite.
Es war wie ein Schnitt, ein Ende. Und gleichzeitig auch ein Anfang. Wenn es auch einer war, der ihr Angst bereitete. Doch wusste sie eines gewiss: Mit der Liebe, die sie füreinander empfanden, würden sie jede Hürde meistern.
Tag der Veröffentlichung: 31.12.2021
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Widmung:
Jedes Ende ist ein neuer Anfang. (Unbekannt)