Ihr Name war Ida. Einfach Ida. So einfach wie sie selbst. Von ihren Geschwistern war sie die Jüngste gewesen. Ihre Jugend hatte sie im Krieg verbracht. Sie lebte auf dem Land auf dem Bauernhof, der nach dem Tod des Vaters an ihren zehn Jahre älteren Bruder übergeben worden war. Hunger hatte sie nie leiden müssen. Selbst in den Jahren der größten Not war immer etwas auf dem Tisch. Doch ihr Stellenwert war nie mehr gewesen als der einer Magd. Gezeichnet durch eine Hasenscharte wurde sie schon von Kindesbeinen an gehänselt. Demut und Zurückhaltung lernte sie früh, musste in der Landwirtschaft hart mitanpacken. Ihr Bruder ließ ihr keine Sonderbehandlung zu Teil werden. Was er sagte, galt.
Die ihr zugewiesene Kammer hatte sie selten für sich allein. Wo hätte sie einen Mann zum Heiraten finden sollen? Viele Männer ihrer Generation waren im Krieg geblieben. Und die, die wiederkamen, interessierten sich nicht für eine gezeichnete Frau ohne große Mitgift. Tag für Tag molk sie früh morgens bereits die Kühe. Sieben Tage die Woche. Was allerdings nicht heißen sollte, dass sie den Sonntag nicht ehrte. Werktags wie sonntags macht sie sich auf in die Kirche. Ein frommer Mensch. Trug meistens ihre Kittelschürze. Ihr Haar hatte sie streng nach hinten gestreckt. So wie es erwartet wurde.
Sie war schon eine alternde Frau, als ihr Bruder ihr das kleine Austragshaus zuwies, dass von niemandem mehr bewohnt wurde. Zentralheizung oder ein Badezimmer suchte man dort vergeblich. Doch war es ihr Reich, das sie sehr zu schätzen wusste. Mit dem Holzofen konnte man wenigsten die kleine Stube beheizen. Doch war sie die Kälte schon gewohnt, sodass sie ihn selbst im Winter nur selten befeuerte. Lediglich wenn die Eisblumen bis an die Oberkante des zugigen Holzfensters wuchsen, erlaubte sie sich ein wenig Wärme. Was hätte ihr Bruder zu einer übermäßigen Verschwendung des Holzes gesagt? Er war mittlerweile verstorben. Sein Sohn wohnte mit seiner Familie nun auf dem Hof. Sie war nur noch ein Überbleibsel einer vergangenen Zeit.
Jeder im Dorf kannte sie, jeder grüßte sie und doch hatte sie nur wenige Freunde. Von den Freunden, die sie hatte, waren mittlerweile die meisten schon gestorben. Das Laufen fiel ihr mittlerweile schwer. Trotzdem ging sie unermüdlich zur Sonntagsmesse und auch zum Rosenkranz. Erbat sich jedoch nie etwas von ihrem Schöpfer.
Heute war der 24. Heilig Abend. Der Ofen wärmte sanft die durchfrorene Stube. Nicht für sich hatte sie das Feuer gemacht. Jedes Jahr besuchte sie an diesem Tag eine alte Freundin aus Kindertagen. Brachte ihr eine Schachtel Pralinen, die Ida dann mit einer kleinen Tüte selbst gebackener Plätzchen wieder aufwog. Sie beide waren die Einzigen ihres Jahrgangs, die noch lebten. Besuch bekam sie nur selten. Sie wünschte sich manchmal besser sprechen zu können. Die Leute verstanden sie oft nicht, was an ihrem alten Leiden lag. Vielleicht wäre ihr Leben ohne diesen Makel anders verlaufen. Sie hätte einen Mann gefunden und eine Schar Kinder gehabt. Wäre nicht so alleine. Trotzdem war sie dankbar für das, was sie hatte.
Ihr Neffe hatte ihr wie jedes Jahr eine kleine Fichte im Wald geschlagen und ins Haus gebracht. Diese stand nun auf dem alten Kasten in der Stube und trug eine Handvoll Kerzen und die alten bunten Glaskugeln, die schon in ihrer Kindheit den Christbaum geschmückt hatten. Dabei kamen ihr die Erinnerungen an Kindertage wieder hoch. Einmal hatte sie eine Orange zu Weihnachten bekommen. Was für ein Fest. So etwas gab es damals nicht aller Tage. Der süßsaure Geschmack lag ihr wieder auf der Zunge. Und die Großmutter hatte für ihre einzige Puppe aus alter Wolle ein neues Kleid gestrickt. Wenn sie daran dachte, stiegen ihr leichte Tränen des Wehmuts in die Augen.
Neben ihrem Christbaum stand eine kleine Krippe. Die hatte sie nach dem Tod des Bruders bekommen. Josef und Maria schauten glückselig auf das kleine Christuskind. Und der Anblick machte auch sie demütig. Wie jedes Jahr hatte sie sich für heute Abend beim Metzger eine Bratwurst und eine kleine Schale Kartoffelsalat besorgt. Nach der Christmette würde sie sich das Essen zubereiten. Sobald der Abwasch getan war, würde sie die Kerzen des Christbaums entzünden und im Radio der alten Weihnachtslieder lauschen. Stille Nacht, heilige Nacht. Ja, in dieser Nacht war alles etwas stiller, etwas friedlicher als sonst. Sie würde dann das kleine Geschenk öffnen, das ihr die Frau ihres Neffen jedes Jahr vorbeibrachte. Wahrscheinlich warme Socken. Die konnte Ida immer gut gebrauchen. Doch viel schöner war das Gefühl, dass jemand an diesem Tag an sie gedacht hatte.
Wie oft würde sie der Herrgott wohl noch Weihnachten feiern lassen? Das wusste sie nicht. Doch war sie dankbar für diesen Tag heute. Lächelnd und in Gedanken versunken saß sie auf dem Stuhl am Esstisch, die Arme aufeinanderliegend und blickte aus dem Fenster. Es hatte zu scheinen begonnen. Kleine weiße Flocken flogen wie Federn auf den Boden und überdeckten ganz lautlos den Schmutz der Erde mit ihrem glänzenden Kleid.
Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Das Geheimnis der Weihnacht besteht darin, dass wir auf unserer Suche nach dem Großen und Außerordentlichen auf das Unscheinbare und Kleine hingewiesen werden. (Unbekannt)