Müdigkeit machte sich in mir breit. Derweil war es erst 18 Uhr. Die lange Dunkelheit signalisierte meinem Körper, dass es Zeit war zu schlafen. Sie wollte mich offensichtlich von dem abhalten, weswegen ich eigentlich hierhergefahren war, in diese einsame Landschaft im Norden Schwedens, wo es wohl mehr Rentiere gab als Menschen. Ein paar verschneite Fichten durchzogen das weite, wilde Land. In der Ferne lagen kleine Nadelwälder.
Dick eingepackt watete ich durch den hohen Schnee, der mir bis zu den Knien reichte. Ich war zwar eine Abenteurerin, hatte schon einige Länder bereist und so manche Extreme erlebt, doch die Kälte hier brachte mich langsam an meine Grenzen. Minus 42 Grad. Die Luft war so kalt, dass sie mir den Atem abschnitt. Ich zog mir meinen Schal vor das Gesicht und schaute zum Himmel auf der Jagd nach Polarlichtern. Doch sie wollten sich mir einfach nicht zeigen.
Zu allem Überfluss hatte ich auch noch die Orientierung verloren. In meiner Naivität hatte ich mich fürs Zelten entschieden. Meine Ausrüstung war immerhin Himalaja erprobt. Doch was nützte mir die beste Ausrüstung, wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, wo ich war. Verzweifelt griff ich nach meinem Mobiltelefon. Die Hoffnung auf ein Netz hatte ich zwar nicht, aber vielleicht war es möglich, einen Notruf abzusetzen. Doch bei diesen Temperaturen streikte die Technik komplett.
Leichte Panik stieg in mir auf. Ich war völlig auf mich allein gestellt. Abgeschnitten von jeglicher Zivilisation. Lediglich die Sterne am Himmel spendeten mir mit ihrem schwachen Licht ein wenig Trost. Ich kämpfte mich weiter durch den tiefen Schnee, der pulverig unter meinen Schuhen krachte. Wäre doch nur Magnus an meiner Seite. Ach, Magnus. Warum bist du nicht hier bei mir? Magnus hatte selbst für die ausweglosesten Situationen immer eine Lösung parat. Es war unser gemeinsamer Traum gewesen, hierher zu reisen in das Land der Samen. Die Polarlichter zu beobachten. Doch nun war ich hier alleine. Am Ende der Welt. Einsam. Gefangen in der eisigen Hölle. Den Tränen nahe.
„Wie konntest du mich nur so hängen lassen, Magnus“, schimpfte ich leise vor mich hin, während ich ziellos in der eisigen Dunkelheit umherirrte und nicht wusste, was ich sonst noch tun könnte.
Mein Magen knurrte. Ich musste meine Energiereserven schonen, wenn ich dieses Abenteuer, das mittlerweile zu einem Survival Trip mutiert war, irgendwie überleben wollte. Doch konnte ich jetzt nicht einfach aufgeben. Ich rieb meine in dicke Handschuhe verpackten Hände aneinander, um wenigsten etwas Reibungswärme zu erzeugen. Vor meinem inneren Auge verfestigte sich die Vision, wie mein zu Eis erstarrter Körper von Wölfen als abwechslungsreiche Mahlzeit betrachtet wurde. Erschöpft ließ ich mich in den tiefen Schnee sinken.
Eine ganze Weile kniete ich so da, konnte keinen Gedanken mehr fassen. Blickte, ohne etwas Bestimmtes zu fixieren in die Dunkelheit, die mich in diesem Moment nicht nur physisch gefangen hielt. Ich schloss die Augen. Langsam sog ich die eisige Luft in meine Lungen, als ich plötzlich aus der Ferne ein leises Trommeln vernahm. Zu den dumpfen Schlägen fügten sich Laute wie von Tieren. Fantasierte ich bereits? Fühlte sich so das Ende an?
Erst langsam kam mir der Gedanke, dass es vielleicht der Jojkgesang der Samen sein könnte. Das würde ja bedeuten… Menschen. Zivilisation. Rettung. Ich merkte, wie sich mein inneres Notstromaggregat mobilisierte, ich mich aufrappelte und versuchte das Geräusch zu orten. Wie ferngesteuert folgte ich dem Gesang, der immer deutlicher wurde. Mühsam kämpfte ich mich durch den Schnee, bis ich am Horizont ein schwaches Licht vernahm. Wie eine Getriebene stapfte ich zielstrebig darauf zu.
Je näher ich dem Licht kam, desto mehr erkannte ich. Auf einer Lichtung stand ein kleines einsames Holzhaus. Ochsenblutrot, wie es so typisch war für Schweden. Im fahlen Schein erkannte ich einen Mann, dunkel gekleidet mit einer Fellmütze. Inbrünstig schlug er auf eine Trommel, die mit Tierfell bespannt war, und sang dazu sein Lied, das in diesem Moment meine Seele tief berührte.
„Hej“, schrie ich laut in seine Richtung, woraufhin er seine Musik unterbrach, seine Laterne zur Hand nahm und zu mir leuchtete.
Mit großen Augen blickte er mich an, als könne er nicht so recht fassen, hier in dieser Ödnis auf einen Menschen getroffen zu sein. Ich schlotterte am ganzen Körper vor Kälte und gleichzeitig auch vor Aufregung.
„Wer bist du? Was machst du hier?“, waren seine prompten Fragen an mich.
Seine Stimme war trotz der Verwunderung angenehm und gefasst, was auch auf mich irgendwie eine beruhigende Wirkung hatte.
„Ich wollte die Polarlichter beobachten. Dann habe ich mich irgendwie verlaufen und mein Zelt nicht mehr gefunden. Mein Name ist Ebba“, antwortete ich erleichtert darüber, in dieser Wildnis auf einen Menschen getroffen zu sein.
Er beäugte mich von oben bis unten, als müsse er sich erst überzeugen, dass dies hier kein Traum und ich keine Fata Morgana war.
„Als Kinder hat man uns Samen vor den Polarlichtern gewarnt und damit eingeschüchtert“, meinte er mit ernstem, aber freundlichem Tonfall zu mir. „Komm erst einmal herein ins Haus. Du siehst so aus, als könntest du einen Teller Rentiersuppe vertragen, um dich ein bisschen aufzuwärmen.“
Wenig später saß ich an dem Esstisch in der kleinen Hütte. Ein Holzofen spendete angenehme Wärme. Weiße Gardinen mit Stickereien gaben dem Raum die nötige Wohnlichkeit. Der etwas wortkarge Fremde stellte mir unaufgefordert einen Teller dampfender Suppe vor die Nase. Er hatte sich mittlerweile seiner dicken Fellmütze entledigt. Sein Haar war braun und fein. Anders als seine Augenbrauen und sein markanter Gesichtszug. Seine Lippen waren schmal, sein Körper wirkte muskulös. Ein Naturbursche durch und durch. Dankbar machte ich mich über die Suppe her, die kräftig und ursprünglich im Geschmack war und mich von innen wärmte.
„Ich heiße übrigens Mikkal“, meinte er lächelnd zu mir.
Ich schätzte ihn auf Ende 30. Nicht viel älter als ich. Irgendwie sympathisch.
„Man erzählt sich, dass die Nordlichter Eiskristalle sind, die von den Flügeln der Schwäne fallen, wenn sie fliegen“, erzählte er weiter.
„Diese Vorstellung finde ich irgendwie schön.“
Obwohl ich ihn nicht kannte, herrschte zwischen uns sofort diese Vertrautheit.
„Und wie kommt eine junge Frau wie du auf die Idee, bei solch eisigen Temperaturen am Ende der Welt in einem Zelt nach Polarlichtern zu jagen?“, wollte er weiter von mir wissen.
Unweigerlich musste ich wieder an Magnus denken und eine Melancholie stieg in mir auf, die ich nicht so recht beherrschen konnte. Einsamkeit umschlag mein Herz. Unauffällig fuhr ich mir über das Auge, um eine aufwallende Träne wegzuwischen. Doch Mikkal entging nichts.
„Es tut mir leid. Das geht mich natürlich nichts an“, sagte er leise zu mir.
Schweigend blickten wir uns in die Augen. Seine Augen waren so grün wie die Polarlichter, die ich mir erhofft hatte zu sehen.
„Und du? Was machst du an diesem einsamen Ort?“, fragte ich ihn, um das Thema zu wechseln und die Stille zwischen uns zu beenden, die mir allerdings nicht unangenehm war.
„Ich wohne hier“, antwortete er schmunzelnd. „Ich bin Rentierzüchter.“
„Alleine?“
Er nickte und wirkte dabei nachdenklich.
„Hat man die Einsamkeit erst einmal für sich entdeckt, will man sie nicht wieder hergeben“, philosophierte er.
„Einsamkeit ist ein Feind, den man alleine nur schwer besiegen kann“, konterte ich ihm ernst.
Die Hand ins Kinn gestützt schien er über meine Worte zu sinnieren.
„Man kann es so oder so sehen. Doch sollte man sich von der Einsamkeit nicht auffressen lassen.“
Unrecht hatte er damit wohl nicht. Doch war das leichter gesagt als getan. Magnus hatte in meinem Leben eine große Lücke hinterlassen, die sich nur schwer wieder füllen ließ. Ich hatte mit ihm so viel erlebt. Wir hatten uns auf eine ganze intuitive Weise ergänzt. Wie Yin und Yang. Yoko und John. Wasser und Erde. Während des Studiums hatten wir uns kennengelernt und waren seitdem zusammen gewesen. Tickten irgendwie gleich und doch anders. Reisten viel. Erlebten viel. Das schweißte uns noch mehr zusammen. Schließlich hatte er mir einen Antrag gemacht. Wir wollten heiraten. Doch dieser Unfall hatte verhindert, dass unsere Zukunft zu einer gemeinsamen Erinnerung werden sollte. Er konnte nichts dafür. War noch so jung. Das war nun schon fast 5 Jahre her. Trotzdem tat es immer noch irgendwie weh. Als ich diese Reise hierher plante, die unser gemeinsamer Traum gewesen war, hatte in mir auch die Hoffnung mitgeschwungen, endlich loslassen zu können. Doch stattdessen war ich auf grausame Weise einmal mehr mit meiner Einsamkeit konfrontiert worden.
„Sie sind da“, riss mich Mikkal aus meinen trüben Gedanken.
„Wer ist da?“, fragte ich irritiert.
„Die Polarlichter.“
Hastig sprang ich auf, blickte aus dem Fenster und konnte es kaum glauben. Grüne Lichtsäulen waberten wie Geister über den Nachthimmel und erhellten die schneebedeckte Landschaft auf mystische Weise. Tränen stiegen mir in die Augen.
„Sie sind wundervoll“, sagte ich mehr zu mir als zu Mikkal, der dicht neben mir stand und genauso ergriffen zu sein schien wie ich, obwohl er dieses Naturschauspiel sicherlich nicht zum ersten Mal beobachtete.
„Sie sind immer wieder faszinierend. Auch für mich.“
Vorsichtig legte er mir seinen Arm um die Schulter und nahm mich schließlich in den Arm, was sich in diesem Moment seltsamerweise kein bisschen falsch anfühlte. Er gab mir für einen kurzen Augenblick den Halt, nach dem ich so lange gesucht hatte. Kurz berührten sich unsere Lippen, bevor wir uns wortlos wieder voneinander lösten.
„Ich werde dir zeigen, wo du heute Nacht schlafen kannst“, meinte er fürsorglich zu mir.
Ich folgte ihm über die knarzende Holztreppe in das Obergeschoss der kleinen Hütte. In einer Kammer unter der Dachschräge stand ein altmodisches Bett mit dicker Daunendecke und einem warmen Rentierfell als Unterlage. Lediglich eine Kommode und ein alter Schrank hatten in dem kleinen Raum noch ihren Platz gefunden. Auf dem Boden lag ein roter Teppich mit bunten Mustern.
„Hoffe, das ist okay für dich. Bekomme nicht so oft Besuch. Ich werde heute Nacht unten schlafen.“
Unsere Blicke trafen sich kurz.
„Gute Nacht“, wollte er sich von mir verabschieden.
„Bitte bleib bei mir“, bat ich ihn aus einem plötzlichen Impuls heraus, den ich mir selbst nicht so genau erklären konnte.
Er sagte nichts darauf. Schloss die Tür hinter sich, umschlang meine Hüften und begann mich vorsichtig am Hals zu küssen. Eine angenehme Wärme breitete sich in mir aus, während wir uns in meditativer Weise von unseren Kleidern befreiten und uns schließlich nackt gegenüberstanden. Ich streichelte liebevoll über seinen Oberarm. Seine Haut fühlte sich weich an. Sanft drückte er mich auf das kleine Bett und liebkoste mit seinen Lippen meinen ganzen Körper. Wie lange hatte ich solche Nähe schon nicht mehr zugelassen? Es war wie ein Befreiungsschlag. Ich ließ mich ganz in diesen Augenblick fallen und genoss jede Sekunde davon.
Es war immer noch dunkel draußen, als ich am nächsten Morgen erwachte. Engumschlungen lagen wir beieinander, uns gegenseitig wärmend. Seine Haut auf meiner. In dieser Nacht hatte für mich die Einsamkeit ein wenig von ihrem Schrecken verloren.
Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Erst in der Einsamkeit wird dir bewusst, was Nähe bedeutet.