Dieser Brief erweckte sofort meine Aufmerksamkeit. Er war anders als die anderen Briefe. Keine Werbung, keine Rechnung. Handschriftlich war meine Adresse darauf geschrieben. Ohne Absender. Seit ein paar Jahren war ich sesshaft geworden, nachdem ich mein halbes Leben wie ein Getriebener die Welt erkundet hatte. Mein Vater hatte mir einen alten Bauernhof und ein bisschen Geld vererbt, was ich zum Anlass genommen hatte, mein unstetes Leben in ruhigere Gewässer zu lenken. Mit fast 50 war es dafür wohl auch nicht mehr zu früh. Frauen hatte ich viele gehabt. Manche länger, manche nur für eine Nacht. Ein Mann zum Heiraten war ich jedoch nie gewesen. Dafür liebte ich meine Freiheit und meine Unabhängigkeit einfach viel zu sehr.
Barfuß stand ich nun auf der kalten Eingangstreppe aus Beton und hielt diesen Brief in der Hand. Ich musste ihn öffnen. Sofort. Mit dem Daumen fuhr ich an der oberen Kante entlang und riss ihn recht unsanft auf.
Lieber Veit,
Emilia möchte gerne wissen, woher sie kommt. Ich weiß nicht, ob du dafür bereit bist.
Du kannst dich gerne bei mir melden unter der unten genannten Telefonnummer.
Ich würde mich sehr darüber freuen.
Liebe Grüße Christine
Der Brief war kurz. Doch bedurfte es keines Romans, um ein Leben aus den Angeln zu heben. Keine Ahnung, wer Christine war und auch von Emilia hatte ich bis zu dem Tag, als der Brief ins Haus geflattert war, nichts gewusst. Und doch war es für mich nicht überraschend gewesen. Ich wusste, dass ich mich eines Tages meiner Verantwortung und meiner Vergangenheit stellen musste. Es war nicht so, dass ich bereute, was ich getan hatte. Und doch fühlte es sich auf einmal irgendwie seltsam an.
Die alte Tenne des Bauernhofs hatte ich mit viel Eigenleistung in einen angenehmen, lichtdurchfluteten Wohnraum verwandelt. Viele meiner Mitbringsel aus aller Herren Länder hatten hier ihren Platz gefunden. Eine tibetanische Gebetsfahne spannte sich durch das Zimmer und ein bequemer Hängesessel baumelt von der Decke. Im Schneidersitz setzte ich mich auf den warmen Eichenholzboden zwischen alle den vielen Zimmerpflanzen und begann zu meditieren. Ich musste mich erst neu sortieren. Der Brief lag neben mir. Auch mit geschlossenen Augen spürte ich die wuchtige Aura, die er auf mich ausstrahlte. Henry, ein gescheckter Basset mit langen Schlappohren und ebenfalls Teil des Erbes meines Vaters, kam gemächlich angetrabt und schleckte mir das Gesicht ab.
„Henry“, schimpfte ich mit milder Stimme und streichelte ihm über den Kopf. „Was soll ich nur machen, Henry. Hast du eine Ahnung?“
Als könne er mich verstehen, bellte er und nickte in Richtung Telefon.
„Du meinst, ich soll sie anrufen? Das könnte unser Leben aber für immer ändern. Das weißt du hoffentlich.“
Wieder bellte er, als wolle er mir antworten. Ich wünschte, ich hätte die Entschlossenheit meines alten Hundes gehabt. Denn obwohl ich eigentlich ein spontaner Mensch war, konnte ich in diesem Moment keine beherzte Entscheidung treffen. Hätte ich selbst nicht schon vor geraumer Zeit die Initiative ergriffen, hätten mich wohl weder Christine noch Emilia gefunden. Obwohl ich mir dessen bewusst war, fühlte es sich nun irgendwie seltsam an. Jetzt, wo es real wurde. Ich spürte auf einmal diese Verantwortung auf mir lasten, der ich mein ganzes Leben aus dem Weg gegangen war. Meine Hände waren feucht und zitterten ein wenig, was ungewöhnlich für mich war. Dann griff ich zum Telefonhörer.
Mit klopfendem Herzen saß ich in meinem quietschgelben Mini und blickte auf den Bauernhof, in dessen großzügiger Kieseinfahrt ich nun stand. Ein großer Walnussbaum stand davor. Auf dem neuesten Stand war dieses Gebäude nicht gerade, doch man sah ihm an, dass die letzten Jahre viel gemacht wurde. Eine traditionelle landwirtschaftliche Nutzung hatte diese Einöde wohl schon lange nicht mehr erfahren. Lediglich ein alter Hund trottete gemütlich auf mich zu, als ich die Wagentür öffnete. Ein Wachhund war er sicherlich nicht, denn statt mich mit lautem Bellen anzukündigen, setzte er sich neben mich und ließ sich den Kopf von mir kraulen.
„Na, was bist du denn für einer?“, meinte ich zu ihm.
Ich schaute mich ein wenig um. Überall standen Kunstwerke aus Stahl und direkt vor dem Haus war eine wuchtige Holzbank aufgestellt, von der aus man einen wundervollen Blick auf die Berge hatte. Einen gewissen Sinn für Ästhetik schien er zu haben. Wie Emilia. Das wurde mir in diesem Moment plötzlich bewusst. Langsam schritt ich zu der alten Holzhaustür. Einen Klingelknopf suchte ich vergebens. Lediglich eine alte gusseiserne Schiffsglocke mit einer abgegriffenen Kordel hing neben der Tür, mit der ich meinen Besuch ankündigen konnte. Ihr Ton war laut und durchdringend. Es dauerte nicht lange, bis ich im Inneren Geräusche vernahm. Ich fröstelte ein wenig, was weniger am herbstlichen Wetter lag, als an der Aufregung, die ich tief in mir spürte. Erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass ich eigentlich keine Ahnung hatte, wer dieser Typ war. Trotzdem war er indirekt bereits seit über 16 Jahren Teil meines Lebens. Er war immerhin Emilias Vater. Wenn auch nur in genetischer Hinsicht. Und Emilia war nun in einem Alter, wo sie wissen wollte, wo ihre Wurzeln lagen. Ich wollte ihn vorab treffen. Wollte wissen, auf was sie sich hier einlassen würde. Die Verantwortung für das Wohlergehen meiner Tochter lag schließlich bei mir.
Ich hatte mich für den Business-Look entschieden. Schwarze Thermostrumpfhose, Jeansrock und weiße Bluse. Das Haar, das trotz einzelner weißer Strähnen noch sattes Blond aufwies, hatte ich hochgesteckt. Ich war seit über 12 Jahren geschieden und leitete eine eigene Steuerkanzlei in München. Selten hatte ich vor etwas Angst. Doch nun stand ich hier und hatte das große Bedürfnis, einfach wieder in mein Auto zu steigen und abzuhauen. Ich fürchtete mich vor der Entscheidung, die ich bereits vor über 17 Jahren getroffen hatte. Ich wusste nicht, ob ich das hier noch wollte. Ob ich nicht Geister rief, die nur schwer zu bändigen waren. Doch war es nun zu spät.
Ganz unaufgeregt öffnete er mir die Tür. Er war barfuß, trug eine beige Leinenhose und ein T-Shirt. Sein Haar war schulterlang, dunkelbraun mit grauen Strähnen. Er hatte einen Dreitagebart, wirkte lässig, aber keinesfalls unattraktiv. Er hieß Veit. Jahrelang war er mir nur unter seinem Pseudonym „Sunny“ bekannt gewesen. Obwohl ich ihn nicht kannte, war mir sein Lächeln seltsam vertraut. Es war Emilias Lächeln.
„Komm rein“, meinte er freundlich zu mir und die Frage, ob ich ihn duzen sollte oder nicht, hatte sich damit erledigt.
„Danke“, brachte ich kurz hervor und folgte ihm in den Hausflur, der den Charme der letzten Jahrzehnte ausstrahlte.
Er führte mich in einen großen, hellen Raum. Ein zum Wohnraum umgebauter Stall. Sehr einladend. Gemütlich. Zum Wohlfühlen.
„Ich hab Kräutertee für uns gemacht. Ich hoffe, das ist okay für dich“, meinte er und verschwand kurz in der Küche.
Ich schaute mich um. Die Zimmerpflanzen vermittelten ein Gefühl von Wildnis. Auf einem Regal prangte eine kleine Nachbildung des Tadsch Mahal.
„Du warst in Indien?“, fragte ich ihn unverblümt, als er mit einer getöpferten Teekanne wieder auftauchte.
„Ja. Dürfte so 97 oder 98 gewesen sein. Vor dem Millennium auf jeden Fall. Setz dich“, bot er mir einen Sitzplatz in der gemütlichen Leseecke mit dem großen Panoramafenster an, das einem das Gefühl gab, in direkter Verbindung mit der Natur zu stehen.
Er hockte sich mir im Schneidersitz gegenüber.
„Ich hab keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll. Was du von mir verlangst oder erwartest“, gestand er mir überraschend und schaute mich an mit seinen dunkelbraunen Augen.
Es war, als blickte ich in Emilias Augen, was mich irgendwie irritierte. Was hatte ich da bloß getan?
„Warum?“, fragte ich ihn schließlich.
„Was meinst du damit? Warum ich es getan habe?“
Ich nickte, während ich an meinem Tee blies.
„Ich war jung und brauchte das Geld“, meinte er lachend.
Doch sein Lachen verstummte gleich wieder, als er zu mir sah. Wie gelähmt starrte ich ihn an.
„Sorry, war bloß Spaß. Tut mir leid. Es ist… Ich bin ein gechillter Typ. Liebe meine Freiheit. Ich dachte mir, vielleicht würde es die Welt ein bisschen entspannter machen, wenn ein paar von meiner Sorte hier herumlaufen würden.“
„Hast du noch andere Kinder?“
Er schüttelte den Kopf.
„Keine, von denen ich weiß. Hat sich nicht ergeben. Ich bin aber auch nicht böse darüber. Es ist eben so wie es ist. Die Verantwortung für mein eigenes Leben hat mir meist schon gereicht.“
Der Hund hatte sich wie ein Teppichvorleger auf den Boden gelegt und beobachtete uns aufmerksam.
„Und warum hast du dich dann vor ein paar Jahren eintragen lassen in dieses Register?“, wollte ich weiterwissen.
„Irgendwann muss man nun Mal die Verantwortung übernehmen. Für das was man getan hat. Versteh mich nicht falsch, ich bereue nichts. Doch je älter man wird, desto mehr verändert sich eben auch die Sichtweise auf so manches.“
Zwischen uns war von Anfang an diese Vertrautheit da. Als würden wir uns schon lange kennen. Und irgendwie hatte ich ja auch die letzten 16 Jahre unbewusst mit ihm gelebt. Durch Emilia. Ich mochte ihn, obwohl er so ganz anders war als ich. Seine Worte und seine Art beruhigten mich. Es dämmerte bereits, als er sich mit einer kurzen, aber innigen Umarmung von mir verabschiedete.
Über Familie hatte ich mir erstmals so richtig Gedanken gemacht, als mein Vater gestorben war und ich keine mehr hatte. Das Alleinsein machte mir prinzipiell nichts aus. Ich fand es sogar schön. Brauchte es. Doch dann waren Christine und Emilia in mein Leben geplatzt. Vielleicht nicht ganz unerwartet, aber doch ziemlich unverhofft. Wir sprachen viel. Über die letzten 16 Jahre. 16 Jahre, in denen wir in anderen Welten lebten, ohne dass uns das Leben des anderen irgendwie berührt hätte. Ohne dass wir voneinander wussten.
Ich mochte Emilia von der ersten Sekunde an, wenngleich sie mich mit unangenehmen Fragen konfrontierte. Ein Teenager. Nicht immer einfach. Ich sah in ihr einen Teil von mir. Sie war mir ähnlicher, als ich es je für möglich gehalten hätte. Das war ein ungewohntes, aber dennoch schönes Gefühl.
Mich in Christine zu verlieben, war so eigentlich nicht geplant gewesen. Zu Beginn hatte ich Zweifel, ob es richtig war. Doch nun lehnte sie an meiner Schulter, während wir auf der Holzbank vor dem Haus saßen und zusahen, wie die Sonne hinter den Bergen verschwand. Henry lag neben uns auf dem Boden.
„Habe ich dir schon erzählt, dass ich 97 ein Sabbatical gemacht habe und auch in Indien war. Wieso haben wir uns nicht dort einfach normal kennenlernen können? Wieso so umständlich? Über eine Samenbank“, sie lachte dabei, als sie das sagte und auf ihrer Backe zeichnete sich dabei dieses kleine Grübchen ab.
„Eine ungewöhnliche Liebe nimmt eben auch ungewöhnliche Wege“, meinte ich mit ruhiger Stimme zu ihr, dabei küsste ich sie sanft, was Henry prompt mit einem heiseren Bellen wohlwollend kommentierte.
Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Kein Weg ist zu weit um dort anzukommen, wo das Herz zu Hause ist. (Unbekannt)