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Allein in Montmartre

Montmartre nachts im Niesel. Obwohl ich ein Kind der Straße war, mochte ich Regen jeglicher Art bis heute noch nicht. Normalerweise spiegelte sich das Licht der Bistros und der kleinen Galerien auf dem Kopfsteinpflaster wieder und verlieh dem Viertel einen zusätzlichen Glanz. Doch seit ein paar Tagen war alles anders. Das geschäftige, nächtliche Treiben war verstummt. Lediglich der Mondschein reflektierte sich auf den regennassen Straßen. Die Gassen und Plätze waren menschenleer. Selbst das Moulin Rouge war verwaist. Reingelassen hätte man einen wie mich dort sowieso niemals, doch hatte ich mich immer wieder gerne auf die Rückseite des rot leuchtenden Gebäudes geschlichen und den Tänzerinnen durchs Fenster beim Umziehen zugeschaut.

Wo waren nur alle hin? Selbst der verrückte Straßenmusiker, der so oft mit seiner Geige am Place Dalida stand und darauf wartete, dass ihm die Passanten Geld für seine Darbietungen in seinen Hut warfen, war verschwunden. Die Nacht machte mir meist weniger Angst als der Tag. Doch war es nun gespenstisch still und ich wusste nicht, warum. Am anderen Ende der Straße sah ich einen Polizisten patrouillieren. Schnell weg von hier. Diesem Kerl war nicht zu trauen. Ehe ich mich versah, würde ich wieder hinter Gittern sitzen, so wie es mir schon einmal ergangen war. Nein, meine Freiheit war mir heilig. Sie war der größte Luxus den ich besaß. Den durfte mir keiner nehmen. Für jemanden, der sonst nichts besaß, war die Freiheit unbezahlbar.

Mein Magen knurrte. Es wurde höchste Zeit, sich etwas zu Essen zu besorgen. Über eine kleine Gasse lief ich unauffällig zu dem kleinen Restaurant mit der blauen Holzvertäfelung. Doch auch hier war es ruhig. Lautlos bewegte ich mich in den Hinterhof zu den Mülltonnen. Jeden Abend hatte ich hier noch etwas Gutes zu Essen gefunden. Es war unglaublich, was die Leute alles zurückgehen ließen. Mir konnte das nur recht sein. So kam ich in den Genuss der köstlichsten Köstlichkeiten. Ich scharrte im Unrat, doch fand ich diesmal nichts Essbares. Wenigstens ein Stück trockenes Baguette hätte mir schon gereicht. Es musste ja nicht jeden Abend Hummer sein.

Immer noch hungrig schlich ich mich weiter Richtung Metrostation, wo es wenigstens trocken sein würde und in der Nähe des Lüftungsschachts vielleicht auch etwas wärmer. Dort lag in einer Nische ein alter Schlafsack, der mir als Schlafstätte diente. Unter dem ausladenden Vordach, das im Jugendstil gehalten war, saß Maurice, der alte Straßenkünstler mit dem langen, grauen Haar. Seine Staffelei lag neben ihm. Er war wie ich. Ein Kind der Straße. Ich war froh, wenigstens einen Vertrauten hier zu treffen. Unbedarft setzte ich mich neben ihn. Über die Jahre waren wir so etwas wie Freunde geworden. Er trug seinen langen, braunen Ledermantel, der dick gefüttert war und ihn vor den kalten Temperaturen schützte, die hier nachts auf der der Straße herrschten.

„Na, mein Junge. Wir sind wohl die Einzigen, die jetzt noch hier draußen sind. Alle anderen sind in ihren Wohnungen. Sie haben Angst. Angst vor der Pandemie“, meinte er zu mir.

Entspannt legte ich mich ihm auf seinen Schoß und ließ mir mein nasses Fell von ihm trocken streicheln. Gegenseitig hielten wir uns warm und er teile sogar eine Scheibe Baguettesalami mit mir, wofür ich mich schnurrend bedankte.

Impressum

Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
„Da stehe ich auf der Brücke und bin wieder mitten in Paris, in unserer aller Heimat. Da fließt das Wasser, da liegst du, und ich werfe mein Herz in den Fluss und tauche in dich ein und liebe dich.“ ―Kurt Tucholsky

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