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Im Pagodenwald

Ich war erst sechs Jahre, als ich hierherkam. Es war eine Ehre, hier sein zu dürfen, wenn auch keine leichte. Der rote Tempel war mir mittlerweile vertrauter als meine Heimat. Der Tempel im Wald am Berg Shao, mitten im Herzen Chinas. Viele hatte ich schon scheitern sehen. Viele gaben auf. Doch ich hatte es geschafft. Immer und immer wieder. Wir gingen täglich an unsere Grenzen. Jeden Tag aufs Neue. Jeden Tag Abhärtung. Jeden Tag Training. Meditation. Zu Essen gab es Reis mit Sojagemüse. Kein Fleisch. Welche Farbe mein Haar hatte, wusste ich nicht mehr. Man hatte es mir abgeschnitten, als ich hierhergekommen war. Und so war es bis heute noch.

Der Tag begann jeden Morgen um vier Uhr. Nicht schlimm, wenn man es nicht anders kannte. Wenn die Sonne hinter den Bergen aufging und das Tal in pures Gold tauchte, gab es nichts Schöneres. Volle Körperbeherrschung. Beherrschung des Geistes. Doch seit einiger Zeit hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht mehr stimmte. Etwas war anders, aber ich konnte nicht sagen, was es war. Ich war mittlerweile siebzehn und weit mehr als mein halbes Leben hier. Ich hatte gute Chancen, es zum Kampfmönch zu schaffen. Schon seit Jahrhunderten gab es uns und wir schützten seitdem das Leben unserer Kaiser wie unsichtbare Streitkräfte.

Wieder konnte ich nicht einschlafen, was nicht etwa an meiner harten Pritsche lag, die ich schon seit Anbeginn gewohnt war. Nein, es war diese innere Kraft, die ich bisher nicht gekannt hatte. Lautlos schlich ich mich davon in den Pagodenwald. Ich wusste, würde mich einer dabei erwischen, könnte das mein Ende hier bedeuten. Trotzdem zogen mich die über 1000 Jahre alten Grabpagoden der Shaolin-Mönche an wie ein Magnet. Zeichen einer anderen Zeit. Ein magischer Ort, insbesondere wenn die Zikaden ihr Lied anstimmten.

„Wer bist du? Was machst du hier?“

Ich erschrak zutiefst, drehte mich um und ging in Angriffsstellung. Wie hatte mir so etwas entgehen können? Ich war bekannt für meine messerscharfen Sinne. Vor mir stand ein anderer Kämpfer, den ich noch nie gesehen hatte. Er war keiner von uns, denn er trug langes schwarzes Haar, das zusammengebunden war. Er war mittlerweile auch in Kampfposition gegangen.

„Sag mir erst, wer du bist?“, forderte ich den unbekannten Kämpfer auf. Er trug ein rotes Gewand.

„Mein Name ist Shenmi. Und deiner?“

„Shenmi?“

Ich begann zu lachen.

„Du bist also ein Mädchen?“

Doch diesen Moment meiner Unachtsamkeit wusste Shenmi sofort zu nutzen. Ehe ich mich versah, lag ich wehrlos am Boden. Was war bloß los mit mir? Sie hatten uns auf alles vorbereitet, aber nicht auf die Anwesenheit eines Mädchens. Wortlos ließ sie mich los und ehe ich mich wieder aufgerichtet hatte, war sie wieder verschwunden. Aufgelöst in nichts. Auf leisen Sohlen schlich ich mich zurück in den Schlafraum zu den anderen. Keiner hatte etwas bemerkt. Doch konnte ich nicht so recht in den Schlaf finden, nach all dem, was gewesen war. Vor meinem inneren Auge sah ich immer wieder Shenmi. Ihr schwarzes Haar, ihre dunklen Augen, ihre Entschlossenheit. Ihr Duft stieg mir in die Nase, obwohl sie weit weg von mir war. Sie erweckte Gefühle in mir, die ich bisher nicht gekannt hatte und die ich nicht zu beherrschen vermochte.

Der nächste Tag begann wieder vor dem Morgengrauen. Und das erste Mal, seit ich hier war, wünschte ich mir noch weiterschlafen zu können. Shenmi hatte innerhalb kürzester Zeit geschafft, mich völlig aus der Bahn zu werfen. Aber wie nur? Ich war bemüht, mir nichts anmerken zu lassen, doch trotzdem ich versuchte, mich aufs Höchste zu konzentrieren, blieb meine Unachtsamkeit nicht lange unbemerkt. Der Meister trieb uns wie so oft, erbarmungslos die vielen Treppenstufen auf den Berg zur Höhle des Bodhidharma hinauf. Doch kurz vor dem Ziel stolperte ich und fiel schmerzverzerrt zu Boden.

„Was ist nur heute los mit dir?“, fragte mich der Meister und ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

Ich war froh, als sich dieser Tag dem Abend neigte. Nicht nur, weil er nicht zu meinen Besten gehörte, sondern auch deshalb, weil ich mich wieder in den Pagodenwald schleichen wollte. Kaum, dass alle schliefen, machte ich mich wieder auf. Lautlos begab ich mich zu den alten mächtigen Grabstätten der Mönche. Alles war ruhig. Lediglich die Geräusche der Natur umgaben mich. Würde sie heute wieder kommen? Ich setzte mich auf einen flachen Stein, schloss die Augen und meditierte. Als ich meine Augen wieder öffnete, erschrak ich. Sie saß direkt vor mir und ich wusste nicht, wie mir das hatte entgehen können.

„Wie machst du das? Kannst du mir das zeigen?“, fragte ich sie verwundert und fasziniert zugleich.

„Du willst von mir lernen?“

Selbstbewusst blickte sie mir in die Augen.

„Dann zeig, was du kannst.“

Blitzschnell stand sie in Kampfposition vor mir und ich nahm die Herausforderung an. Als hätten wir nie etwas anderes gemacht, bewegten wir uns kämpferisch durch den Pagodenwald. Lediglich der Mond leuchtete uns. Ich spürte dabei eine richtige Lust in mir. Gekonnt wich Shenmi meinen Bewegungen aus. Es war nur ein kleiner Moment der Unachtsamkeit und schon hatte sie mich zu Boden gestreckt. Ihr Atem war auf einmal ganz nah an meinem Gesicht. Wieder konnte ich ihren Duft riechen, der in mir unweigerlich ein Gefühl von nie gekanntem Glück versprühte. Sie blickte mir dabei intensiv in die Augen und in diesem Moment sah ich darin alles, was ich brauchte. Langsam kam sie mir noch näher. Für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich unsere Lippen, was ein wunderbares Kribbeln in mir auslöste. Danach richtete sie sich auf und reichte mir die Hand. Ich spürte, es war Zeit zu gehen.

„Werden wir uns wieder sehen?“, wollte ich von ihr wissen.

„Das Schicksal wird es zeigen.“

Ehe ich es realisiert hatte, war sie im Schutz der Dunkelheit verschwunden. Leise und von leichtem Wehmut gepackt, schlich ich mich zurück in den Schlafraum. Shenmi ging mir nicht mehr aus dem Kopf, auch nicht am nächsten Tag, der wieder um vier Uhr morgens begann. Meine Unachtsamkeit wurde auch bald vom Meister bemerkt. Er nahm mich kurz zur Seite.

„Ich weiß, was dich derzeit bekümmert. Schon mancher hier hat solches erlebt. Höre auf dich. Das, was du suchst, ist nicht auf den Gipfeln der Berge, nicht in den Tiefen der Meere, nicht in den Straßen der Städte. Es ist in deinem Herzen. *)“

 

 

*) Unbekannter Autor

Impressum

Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 23.08.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Das Glück liegt in uns, nicht in den Dingen. (Buddha)

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