Cover

Lehmgrube

Langsam fuhr der Wind durch den Wald. Es war herbstlich kühl, der Boden feucht. Es duftete nach nassem Moos und Erde. Schweigend stapfte ich hinter meinem Großvater den verwachsenen Weg entlang. Das Seegras schlang sich um meine blauen Gummistiefel. Ich musste aufpassen, dass ich nicht über einen der kleinen Äste stolperte, die unter dem Moos verborgen lagen. Ich tat es meinem Großvater gleich und schaute konzentriert auf den Boden. Wir waren auf der Suche nach Braunkappen und Steinpilzen. Es war so friedlich und ruhig hier. Und doch waren wir mitten im Krieg. Kein lauter Krieg. Ein kalter Krieg.

Nicht oft hatte Opa mir vom echten Krieg erzählt. Er war ein ruhiger Mann, groß, mit dunklen, dichten Augenbrauen und vollem Haar, das allerdings schon grau war. Ein echter Krieg war anders als ein kalter Krieg. So viel wusste ich schon, obwohl ich erst 10 war. Opa war in Russland gewesen. War von dort mit seinem Freund geflohen. Mehr hatte er mir nie darüber erzählt. Danach hatte er Oma geheiratet. Sie hatte zuvor in einem Lazarett als Krankenschwester gearbeitet. Am Tag nach ihrer Hochzeit mussten sie ihre Heimat verlassen. Mit höchstens 20 kg Gepäck und in einem Viehwaggon. Sie wussten nicht, wohin es ging. Kamen dann hierher. Meine Heimat. Nicht die ihre.

Ich hörte ein lautes Rattern in der Ferne. Dieses Rattern, das genauso zu den Geräuschen meiner Kindheit gehörte wie das regelmäßige Rauschen der Kampfflugzeuge am Himmel über mir. Sie flogen manchmal so tief, dass ich Angst hatte, sie würden in unserem Garten landen. Oft lag ich in der Wiese und beobachtete ihren Flug mit einer Mischung aus Faszination und Grusel. Neulich war ganz in der Nähe eines abgestürzt.

Das Waldgebiet, auf dem wir Jahr für Jahr jeden Herbst Pilze suchten, hieß Lehmgrube.

„Opa. Ich habe einen gefunden“, rief ich freudig und grub vorsichtig einen Steinpilz aus dem Moos. Wie ich es gelernt hatte, deckte ich die Stelle wieder zu und hinterließ keine Spuren. Den Pilz legte ich vorsichtig in Großvaters Tasche, wo schon einige waren.

Mitten im Wald war plötzlich ein hoher Stacheldrahtzaun vor uns.

„Die Raketenstation“, erklärte mir Opa leise, als wäre es ein Geheimnis. Jeder hier wusste, dass es diesen Ort gab, aber keiner kannte ihn.

Aus sicherer Entfernung sah ich ein Schild. Zwei gelbe Totenköpfe waren darauf zu sehen und in roten Lettern die Worte: WARNUNG – ES WIRD SCHARF GESCHOSSEN.

Wieder vernahm ich dieses Rattern, das so vertraut war und doch so fremd. Große Militärlaster fuhren durch das Waldstück. Was sie geladen hatten, wusste niemand so genau. Pershing-Raketen, munkelte man. Amerikaner wohnten hier. Doch im Ort sah man sie nie. Sie hatten auf diesem Flecken Erde mitten in diesem abgelegenen Waldstück ihre eigene Welt. Beklommen ging ich meinem Großvater hinterher. Weg von diesem Ort, der mir ungewollt Gänsehaut verursachte.

„Ich hab nochmal einen gefunden.“

„Du hast Augen wie ein Adler“, lobte mich mein Opa für meinen Pilzfund.

Ich bückte mich und grub ihn vorsichtig aus. Oma würde nachher Pilzrahmsoße mit Knödel kochen.

 

 

Impressum

Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Wenn die Macht der Liebe die Liebe zur Macht übersteigt, erst dann wird die Welt endlich wissen, was Frieden heißt.“ – Jimi Hendrix

Nächste Seite
Seite 1 /