Die Geschichte, die ich euch heute erzählen möchte, liegt schon ein paar Jahre zurück. In einer Zeit, wo das Leben noch gemächlicher war, aber nicht unbedingt einfacher. Computer und Handys kannte man damals noch nicht und einen Fernseher besaß höchstens der Bürgermeister des kleinen französischen Dörfchens, dass irgendwo in der Provence lag und dessen Namen ich leider vergessen habe. Doch lebhaft sehe ich noch die kleinen engen Gassen mit dem unebenen Kopfsteinpflaster vor mir, an denen sich Häuschen an Häuschen nebeneinander reihte. Wenn die Sonne heiß vom Himmel brannte, verschlossen die Menschen des Dörfchens ihre Fenster mit hölzernen Fensterläden. Wilder Wein und bunte Kletterrosen rankten sich an den Fassaden aus Naturstein in die Höhe und der Duft der nahen Lavendelfelder zog immer wieder durch die Gassen und verströmte ein Gefühl ewigen Sommers. In dem Dörfchen gab es alles, was man so brauchte zum Leben. Ein Bistro, eine Boulangerie, eine Boucherie und zuletzt auch eine Chocolaterie.
Die Chocolaterie gehört der jungen Madeleine Petit und war in der ganzen Gegend bekannt. Nicht nur wegen ihrer Vielfalt an Schokoladenköstlichkeiten, sondern auch wegen ihrer Inhaberin. Madeleine war jung und hübsch, hatte volles, halblanges, braunes Haar und stechend blaue Augen, die einen sofort in ihren Bann zogen. Dass Madeleine von ihren kleinen, schokoladigen Kunstwerken auch selbst ganz angetan war, sah man ihr auch an der Figur ein wenig an, was ihrer Schönheit aber in keiner Weise schadete. So mancher Kunde wurde schon abgelenkt von Madeleines üppigen Dekolleté, dass die freundliche Ladenbesitzerin jeden Tag in ein anderes farbenfrohes Sommerkleid verpackte. An Verehrern hatte es ihr noch nie gemangelt. Doch war sie bereits versprochen an Gérard, einen reichen Bauernsohn vom Dorf. Es war nicht unbedingt Liebe, was die beiden miteinander verband, sondern eher sein Besitz, der vor allem Madeleines Eltern imponierte. Den Tag der Hochzeit wollte sie so weit wie möglich hinausschieben, denn sie wusste, wäre sie erst mal Gérards Angetraute wäre es mit der Chocolaterie bald vorbei. Gérard war jetzt schon nicht begeistert von ihrem Leben und hatte schon öfter gemeint, sie solle das Geschäft schließen, denn mit seinem Vermögen hätte es keine Frau nötig, einer solchen Arbeit nachzugehen. Er verstand nicht, dass Madeleine ihre Chocolaterie liebte. Alles, was sie über das Geschäft und über Schokolade wusste, hatte ihr Großvater ihr beigebracht, der das Geschäft aufgebaut hatte. Schon allein deswegen würde es ihr das Herz brechen, es aufgeben zu müssen.
Die alte Madame Morel stand gerade in dem kleinen, gemütlichen Laden mit der gläsernen Theke, hinter der die ganzen schokoladigen Köstlichkeiten ausgestellt waren. Trotzdem sie mit dem Genuss von Süßem achtgeben musste, war sie eine Stammkundin Madeleines und eine ausgemachte Naschkatze, wie sie selbst immer behauptete. Gerade war Madeleine dabei, die von Madame Morel gekauften Schokoladenleckereien zu verpacken, als Gérard hereinkam. Ohne der alten Dame Beachtung zu schenken, verkündete er recht schnörkellos, dass er nun das Aufgebot für Madeleine und sich bestellt habe. Mit einem Klirren fiel ihr die Zange aus der Hand und zu Boden, mit der sie eben noch die Schokoladenkunstwerke von Madame Morel in die Verpackung gegeben hatte. Gérard grinste lediglich genugtuerisch und verschwand ebenso schnell wieder, wie er gekommen war.
„So darf man Ihnen wohl gratulieren, Medemoiselle Petit. Allerdings scheint Sie diese Neuigkeit nicht gerade zu erfreuen, wie mir scheint“, meinte Madame Morel zu Madeleine, der just in diesem Moment eine kleine Träne über die Wange lief und auf einen Zartbitterpraline tropfte. Madame Morel streichelte ihr kurz über die Schulter.
„Machen Sie keinen Unfug, ma chérie. Und hören Sie auf ihr Herz. Nur das weiß, was gut für Sie ist.“
Mit diesen Worten packte sie ihr süßes Päckchen in ihre Handtasche, verabschiedete sich und verließ unter dem Gebimmel der Türglocke die kleine Chocolaterie. Was hatte Madame Morel schon für Ahnung von Herzenssachen? Sie war schließlich eine alte Frau. Als Madeleine allein in ihrem Laden war, setzte sie sich erst einmal an den kleinen Bistrotisch und begann bitterlich zu weinen.
Wie lange sie da so gesessen hatte, wusste sie nicht mehr. Doch plötzlich kündigte die Glocke über der Tür neue Kundschaft an. Etwas verlegen versuchte Madeleine sich die Tränen mit einem Stofftaschentuch zu trocknen, doch ihre Augen waren rot verquollen, als der Mann, der eben die Chocolaterie betreten hatte, etwas peinlich berührt meinte: „Ich komme wohl ungelegen.“
Seine Stimme war sanft und ihre beiden Blicke kreuzten sich.
„Oh, nein. Natürlich nicht.“
Sofort sprang Madeleine auf und begab sich hinter die Theke.
„Es stimmt, was man sich in der Gegend erzählt. Jede ihrer Schokoladenkreationen ist ein kleines Kunstwerk. Wenn sich nun auch noch bewahrheitet, dass sie so gut schmecken wie sie aussehen, dann bin ich jetzt schon hin und weg.“
Ob dieses Kompliments stieg ihr die Röte ein klein wenig ins Gesicht.
„Möchten Sie gerne etwas probieren?“
„Gerne.“
„Welche Sorte mögen Sie denn?“
„Ich mag es zartbitter.“
Dabei schaute er ihr wieder tief in die Augen. Mit der kleinen Metallzange reichte sie ihm die kleine Praline, auf die vorhin ihre Träne getropft war. Er sah attraktiv aus. Sonnengebrannte Haut, dunkles Haar und treue Augen. Noch nie hatte sie ihn hier gesehen.
„Kommen Sie von weiter weg?“
„Ich arbeite in einem Weinberg unweit von hier. Falls Sie möchten, ich hätte eine Flasche Rotwein dabei und würde sie gerne mit Ihnen teilen. Rotwein passt übrigens hervorragend zu Schokolade.“
Er zwinkerte Madeleine lächelnd zu. Sie solle auf ihr Herz hören, hatte die alte Madame Morel vorhin gemeint. Und Madeleines Herz pochte in diesem Augenblick wie verrückt.
„Wenn Sie das auch wünschen, gerne. Ich würde Sie dazu auf die kleine Terrasse im Hinterhof einladen“, antwortete sie fast schon vergnüglich.
Er nickte zustimmend und Madeleine sperrte die Ladentür ab, da die offizielle Öffnungszeit eh bereits längst vorbei war. Mit einer Auswahl ihrer besten Kreationen auf einer Porzellan-Etagere, begleitete sie den netten Herrn durch den Laden auf die Rückseite des Gebäudes zur Trasse. Diese war direkt in den Hang gebaut und von einem filigranen gusseisernen Geländer umgeben. Duftender Bewuchs rankte sich ringsherum und schützte nicht nur vor neugierigen Blicken, sondern zauberte ein behagliches Ambiente. In der Ferne sah man auf die Lavendelfelder, die gerade in voller Blüte standen und weiter ihren Duft ins Dorf schickten. Wortlos stießen sie mit ihren Rotweingläsern an und in diesem Moment war alles andere um die beiden vergessen.
„Wir brauchen Schokolade, wenn wir müde, traurig, eifersüchtig, aber auch wenn wir glücklich oder verliebt sind“, erklärte Madeleine dem sympathischen Unbekannten.
„Und was empfehlen Sie dann, wenn man beispielsweise verliebt ist?“
Er lächelte verschmitzte und Madeleine fühlte auf einmal dieses Kribbeln im Bauch, dass sie bei Gérard immer vermisst hatte. Sie nahm eine Praline von der Etagere und führte sie langsam zum Mund ihres Gastes, der mit halbgeöffneten Augen nicht nur die süße Köstlichkeit in Empfang nahm, sondern der es auch genoss, dass ihre Finger ein wenig seine Lippen berührt hatten.
„Und welches ist Ihre liebst Sorte?“, wollte er von Madeleine wissen, während die Schokolade in seinem Mund zerging.
„Genau diese.“
Vorsichtig näherte er sich ihrem Mund und küsste sie sinnlich, während sich nicht nur ihre Zungenspitzen zart berührten, sondern sie auch die Süße der Schokolade schmecken konnte, die sie ihm kurz zuvor verabreicht hatte. Sie hatte in ihrem Leben wahrlich schon viel Schokolade genascht, doch dies war wirklich die bisher schönste Weise, es zu tun und sie hatte nicht vor, auf diesen Genuss jemals wieder zu verzichten.
Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wahre Liebe ist Freundschaft, überzogen mit Schokolade. (Unbekannt)