Der Regen prasselte auf meine Frontscheibe. Die Welt um mich versank in düsterem Grau. Rundherum zuckten Blitze. Der Tag war schwül gewesen und nun entlud sich diese Energie mit einer unglaublichen Naturgewalt. Die Straße vor mir nahm ich nur noch verschwommen wahr, was allerdings nicht allein dem Starkregen zuzuschreiben war, der meine Scheibenwischer forderte, sondern mehr den Tränen, die mir unablässig über das Gesicht liefen. Ich hatte kein Ziel und jagte mit dem Auto über die regennassen Straßen. Immer wieder musste ich an ihn denken und dabei fuhr es mir jedes Mal tief in den Magen. Wie hatte er mir das nur antun können? Nach all den Jahren. Die Hupe eines entgegenkommenden Wagens riss mich aus meiner Lethargie. Instinktiv lenkte ich mein Auto nach rechts. Das war knapp. Ich schnaufte tief durch und reduzierte die Geschwindigkeit. Sieben Jahre hatte ich mit ihm verbracht. Die besten, wenn man es so sagen wollte. Wir hatten uns mittlerweile etwas aufgebaut und eine schöne Zukunft geplant. Gemeinsam. Vor einem halben Jahr hatte er mir dann endlich einen Heiratsantrag gemacht. Ganz romantisch mit einem Strauß roter Rosen und einem Ring war er im fahlen Kerzenlicht vor mir gekniet. Und in wenigen Wochen wäre der große Tag gewesen. Unser großer Tag. Heute hatte ich mir mein Hochzeitskleid gekauft. Als ich dieses Kleid an mir sah, wusste ich sofort, das ist es. Heimlich hatte ich es zu Hause noch mal anprobiert, weil ich es so schön fand an mir. Doch dann stand er plötzlich vor mir. Erschrocken blickte ich ihm in die Augen.
„Es bringt Unglück, wenn du mich vor der Hochzeit so siehst“, meinte ich zu ihm, doch er erwiderte nichts und starrte mich nur an.
Diese Sekunden der Stille waren irgendwie gespenstisch, fast schon unheilvoll.
„Neele ist schwanger“, gestand er schließlich, „von mir.“
„Was?“
Seine Worte kamen nicht mehr richtig bei mir an und trotzdem wusste ich sofort, was sie zu bedeuten hatten. Ohne nachzudenken rannte ich an ihm vorbei, die Treppen hinunter, in die Garage, in mein Auto. Ich hatte den Motor gestartet und befand mich seit diesem Moment auf der Flucht. Der Flucht vor der Realität.
Der Regen hatte mittlerweile etwas nachgelassen. Wie konnte er nur? Nach all der Zeit und dann auch noch mit Neele, die nicht nur meine Trauzeugin war, sondern schon seit dem Kindergarten meine beste Freundin. Ich war mittlerweile 31 und hatte mich bereits darauf eingestellt, selbst bald mit der Familienplanung zu beginnen. Wir hatten uns eine gemeinsame Wohnung gekauft. Alles war so perfekt und nun sollte das nicht mehr sein?
Ohne dass ich es gewollt hätte, stand ich schließlich am Fähranleger. Vielleicht hatte ich Glück und die letzte Fähre würde mich noch mit auf die Insel nehmen. Mit meinen Eltern hatte ich dort als Kind immer Urlaub gemacht.
„Na, was issn mit dir los, Mädchen?“, fragte mich ein älterer Mann, der mich auf die Fähre lotste.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mit meinem Hochzeitskleid, das ich noch immer trug und mit meinen verheulten Augen wohl kein alltägliches Bild abgab. Für die Überfahrt setzte ich mich an Deck. Die Sonne hatte sich mittlerweile wieder ihren Platz zurückerobert. Der Wind blies mir ins Gesicht und trocknete meine Tränen. Langsam setzten die schweren Dieselmotoren das Schiff in Bewegung und auf einmal spürte ich wieder das kleine Mädchen in mir, das mit ihren Eltern hier ihre Ferien verbracht hatte. Was machte ich hier eigentlich? Ich würde auf dieser Insel die Nacht verbringen und wusste noch nicht mal, wo ich schlafen sollte.
Es schien, als habe das Unwetter die Insel verschont. Obwohl es bereits Abend war, stand die Sonne noch in ihrer Kraft. Ich stellte mein Auto auf einem Parkstreifen ab. Bereits jetzt konnte ich das Meer riechen. Wie eine Getriebene stöckelte ich in meinen Hochzeitschuhen den schmalen Weg zwischen den Dünen hindurch, bis sie voller Sand waren und ich sie schließlich auszog. Und dann tauchten zwischen den hohen weißen Sandbergen endlich der Strand und das Meer auf. Ich ließ meine Schuhe fallen und rannte einfach los. Jeder Schritt ließ mich meinen Schmerz ein bisschen mehr vergessen.
„Hey Lady, du hast deine Schuhe vergessen“, hörte ich plötzlich eine Männerstimme hinter mir, doch ich lief einfach weiter.
Nichts konnte mich jetzt noch aufhalten. Ohne Rücksicht auf Verluste rannte ich ins Meer. Langsam saugte sich der Saum meines Hochzeitskleides mit Meerwasser voll. Als ich mich schließlich umdrehte, sah ich am Strand einen verdutzt dreinblickenden jungen Mann mit Badeshorts, der meine Hochzeitsschuhe in der Hand hielt. Der Wind, der vom Meer herkam, wehte mir mein Haar ins Gesicht. Ich konnte einen leichten Muskelansatz auf seinem sonnengebräunten Oberkörper erkennen. Seine Frisur war etwas zerzaust. Langsam watete ich zurück zu ihm.
„Ich glaube, dein Kleid ist hinüber“, meinte er mit einem verschmitzten Lächeln zu mir.
Er war mindestens zehn Jahre jünger als ich.
„Scheißegal. Ich brauch es eh nicht mehr.“
Mit einem Mal merkte ich, wie mir wieder die Tränen in die Augen schossen. Tief getroffen ließ ich mich in den Sand fallen.
„Hat er dich vor dem Traualtar stehen lassen?“, hakte der junge Mann nach und setzte sich neben mich.
Die Sonne würde bald im Meer versinken. Ich war an einem Traumstrand und doch spürte ich wieder diese unendliche Traurigkeit.
„Er hat mich mit meiner besten Freundin betrogen. Wir wollten bald heiraten“, schluchzte ich laut.
„Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.“
Ich musste kurz lächeln. Dieser Typ hatte doch noch keine Ahnung vom Leben, trotzdem hörten sich seine Worte an, wie die eines alten, weisen Mannes.
„Von welchem Kalenderblatt hast du denn diese Lebensweisheit geklaut?“, zog ich ihn ein wenig auf.
„John Lennon“, zwinkerte er mir zu.
Genau in diesem Moment spürte ich den ersten Regentropfen auf meiner Haut und mir wurde wieder bewusst, dass ich keine Unterkunft für die Nacht hatte.
„Willst du mit zu mir?“, fragte mich der junge Mann neben mir, als könne er meine Gedanken lesen.
Der Regen wurde immer stärker und was hatte ich schon groß für eine Wahl. Schnell nahm ich den Saum meines Hochzeitskleides in die Hand und rannte hinter ihm her über den Strand, bis er direkt bei den Dünen vor einem alten Bulli stehen blieb.
„Ist das dein Ernst? Ich dachte…“, stammelte ich etwas irritiert.
„Denk nicht so viel und komm schon rein, bevor du komplett nass bist“, meinte er schmunzelnd zu mir, während er schon im Inneren des Busses war.
Schnell kletterte ich zu ihm. Was hätte ich auch anderes tun sollen?
„Machst du hier Urlaub?“, fragte ich ihn schließlich neugierig, während mein ausladendes Hochzeitskleid einen Großteil des Bullis ausfüllte.
„Ich hab dieses Jahr Abitur gemacht und bevor es weiter geht, wollte ich einen Sommer mit dem Bulli meines Vaters durch die Gegend fahren. Sich einfach treiben lassen“, erklärte er mir und strahlte dabei Zufriedenheit aus.
„Lust auf ein Glas Rotwein?“
„Gerne. Allerdings müsste ich vielleicht…“
„… dein Kleid ausziehen?“, ergänzte er meinen Satz grinsend.
Verlegen blickte ich ihm in die Augen, die so blau waren wie das Meer. Ich nickte fast schon etwas schüchtern.
„Ich hoffe, es stört dich nicht.“
Langsam näherte er sich mir und öffnete den Reißverschluss meines Hochzeitskleids. Gänsehaut überzog mit einem Mal meinen ganzen Körper, als er mich kurz berührte und ich seinen Duft roch. In Zeitlupe glitt mein Kleid zu Boden und ich befreite mich aus diesem Tüllgefängnis. Er stopfte das Kleid auf den Beifahrersitz, wo es niemanden mehr störte, während ich nun vor ihm stand und nur noch meine Unterwäsche trug. Den weißen Spitzen-BH hatte ich mir ebenfalls neue gekauft für die Hochzeitsnacht. Doch war es nun nicht mein Freund, der mich damit sah, sondern dieser Fremde vom Strand.
„Steht dir auch gut“, meinte er frech und reichte mir mein Rotweinglas.
Ich stellte es auf die Ablage, nahm vorsichtig seine Hand und führte sie zu meiner Brust. Und ehe ich es realisierte, kamen seine warmen Lippen auf meine zu. Seine Zunge war weich wie Samt. Er öffnete meinen BH, während ich seine Badeshorts langsam nach unten schob. Behutsam drückte er mich auf die Matratze im hinteren Teil des Bullis und ich spürte seinen nackten Körper an meinem. Er liebkoste mich am Hals und mit Hingabe spürte ich schließlich, wie er sich in mir bewegte. In diesem Moment hatte ich alles vergessen was war.
*
„Vielleicht komm ich mit dem Bulli ja mal in deiner Gegend vorbei, Lady“, meinte er am nächsten Morgen zu mir, als ich mich von ihm verabschiedete, „und lass dich von deinem Typen nicht unterkriegen. Andere Mütter haben auch hübsche Söhne.“
Ich musste lächeln. Die nächste Zeit würde mit Sicherheit nicht einfach für mich werden, doch in diesem Augenblick war mit klar, dass irgendwann auch wieder bessere Zeiten kommen würden.
Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen. (John Lennon)