Hoffentlich würde dieser Typ bald gehen. Dann könnte ich das Café schließen und Feierabend machen. Er war der letzte Gast. Doch so vertieft, wie er in sein Buch war, hatte er das wohl noch gar nicht realisiert. Im Hintergrund lief leise Rockmusik. Während ich die Gläser abtrocknete, beobachtete ich ihn unauffällig. Er war öfter hier, trotzdem wusste ich so gut wie nichts über ihn. Was verschlug einen Mann wie ihn in dieses Veggie-Café? Den meisten unserer Kunden sah man einen alternativen Lebensstil bereits äußerlich an. Aber er war schwer einzuordnen. Dunkelblaue Jeans, schwarzes Hemd, sportliche Figur, in etwa Mitte 40 so wie ich, braunes Haar, nicht zu kurz.
„Avocado-Smoothie oder Glenfiddich?“, ging ich schließlich in die Offensive.
Etwas irritiert blickte er von seinem Buch auf und mir direkt in die Augen.
„Ist das eine Fangfrage?“
Seine Stimme klang angenehm.
„Nein. Wieso?“
„Na, weil es hier auf der Speisekarte keinen Alkohol gibt.“
„Auf der Speisekarte findet man ihn freilich nicht. Aber für Notfälle haben wir immer ein Tröpfchen im Geheimfach.“
„Sie denken also ich bin ein Notfall?“
„Dieser Antwort zu folge haben Sie sich also für den Whisky entschieden“, konterte ich ihm frech.
„Wussten Sie, dass Whisky so viel bedeutet wie „Wasser des Lebens“? Somit kann es nicht verkehrt sein, ein Glas zu trinken.“
Ich musste lächeln und ging wieder hinter den Tresen. Das Café gehörte meiner unkonventionellen Freundin Mary-Lou. Obwohl ich eigentlich Ernährungswissenschaften studiert hatte, machte es mir nichts aus, für meine Freundin ein paar Abendschichten zu übernehmen. Meinen eigentlichen Job hatte ich an den Nagel gehängt, um für meine Kinder da zu sein und um Harry den Rücken freizuhalten. Als ich Harry kennenlernte, waren wir auf einer Wellenlänge, doch irgendwie hatten wir uns die letzten Jahre, ohne es zu wollen, in verschiedene Richtungen entwickelt. Ihm genügte ein ruhiges Leben. Abends ein Bier auf der Couch. Ab und zu ein Urlaub mit der Familie. Einmal im Monat schick essen gehen. Jahrelang hatte mir das auch gereicht. Doch seit die Kinder groß waren und mich nicht mehr so brauchten, hatte ich gemerkt, dass ich noch ein bisschen mehr vom Leben wollte. Ich wusste, ich konnte mich immer auf Harry verlassen und er war auch immer für mich da, wenn ich ihn brauchte. Aber genügte das, um glücklich alt zu werden? Mir fehlte schon lange das Feuer in unserer Beziehung. Die Routine langweilte mich, wenngleich sie mir auch Sicherheit gab.
Mit ruhiger Hand trug ich zwei Gläser mit bernsteinfarbenem Whisky zu dem kleinen Holztisch, an dem mein letzter Gast auf mich wartete. Draußen war es dunkel und das Café war in dezentes Licht getaucht.
„Zum Wohl“, erhob ich mein Glas.
„Mögest du warme Worte an einem kalten Abend haben, Vollmond in einer dunklen Nacht und sanfte Straßen auf dem Weg nach Hause.“
Leise klirrend trafen unserer Gläser aufeinander. Der Whisky brannte angenehm in meinem Mund.
„Wo haben Sie denn diesen Spruch her? Sind Sie Philosoph?“
„Den Spruch habe ich auf einem Kalenderblatt gelesen.“
Er lächelte etwas verlegen.
„Wie heißen Sie?“
„Namen sind Schall und Rauch.“
„Sie sprechen wohl nicht gerne über sich.“
Verschmitzt blickte er mich an.
„Man sollte sich selbst nicht so wichtig nehmen.“
Dieser Typ hatte etwas Geheimnisvolles und irgendwie auch Tiefgründiges an sich. Etwas das mich faszinierte.
Es war bereits nach Mitternacht, als wir unsere Stühle auf den Tisch stellten. Der Abend mit dem Unbekannten war kurzweilig, aber intensiv. Ich stellte die leeren Gläser in die Spülmaschine, während er seinen Mantel vom Haken nahm. Gemeinsam gingen wir zum Ausgang.
„Wann werde ich Sie wiedersehen?“, fragte ich ihn und ich wusste, dass ich mich damit auf dünnem Eis bewegte.
„Das wird die Zeit zeigen.“
An der Tür des Cafés trennten sich unsere Wege. Er ging nach links und ich schaute ihm noch eine Weile hinterher, bis er im Dunkel der Nacht verschwunden war.
***
Harry fiel es kaum auf, dass ich meine Schicht im Café öfter mal später beendete als bisher üblich. Meist schlief er schon auf der Couch, währen der Fernseher noch lief. Ich schlich mich leise ins Schlafzimmer und musste dabei immer an ihn denken. Wir kannten uns mittlerweile ganz gut und doch wussten wir nichts voneinander. Ich mochte die Art, wie er redete, wie er argumentierte, und wenn er lächelte, bildete sich auf seiner rechten Backe ein kleines Grübchen.
„Weißt du, wer er ist?“, hatte ich Mary-Lou vor wenigen Wochen gefragt.
„Keine Ahnung. Aber in letzter Zeit ist er auffällig oft hier. Na ja, mir kann das nur recht sein“, hatte sie mir augenzwinkernd geantwortet, während ich etwas verlegen wurde.
Es war immer das gleiche Spiel zwischen uns. Und dieses Spiel war mittlerweile fast schon zum Ritual geworden. Er blieb, bis alle gegangen waren und bei einem Glas Whisky philosophierten wir über Gott und die Welt. Ich fühlte mich ihm so nah und doch ließ er mich niemals ganz an sich heran.
Und dann kam dieser eine Abend, der alles veränderte. Die Luft war lau, zog durch die geöffnete Terrassentür und ließ die lichten Stoffvorhänge tanzen. Wir waren wieder alleine. Fast wie ein altes Ehepaar saßen wir auf dem alten Ledersofa im Gastraum. Ich hatte mir die Schuhe ausgezogen und meine Füße auf einen Stuhl gelegt. Und ich wusste nicht, was in mich gefahren war, als ich auf einmal meinen Kopf auf seine Schulter legte. Eine Sekunde lang spürte ich einen Widerstand bei ihm, doch dann legte er wie selbstverständlich seinen Arm um mich. Und ehe ich mich versah, berührten sich unsere Lippen. Auf einmal gab es nur noch diesen einen Moment. Fast schon ein wenig schüchtern schob er mein Shirt nach oben und öffnete vorsichtig meinen BH. Als sich unseren nackten, warmen Körper berührten, fühlte es sich so richtig an, obwohl es eigentlich nicht hätte sein dürfen. Die Intensität seiner Liebe stand der seiner Worte in nichts nach.
Erst in der Morgendämmerung erwachte ich, noch in seinen Armen liegend auf dem Sofa im Café. Seine Haut auf meiner, sein Atem in meinem Nacken, lediglich geschützt durch eine Wolldecke, die normalerweise für die Kunden vorgehalten wurde. Sanft weckte ich ihn. Es war höchste Zeit zu gehen. In einer halben Stunde würde Mary-Lou hier auftauchen, um das Frühstück für die Gäste vorzubereiten. Wortlos zogen wir uns an. Als wir schließlich an der Tür standen, bereit zu gehen, nahm er mich noch einmal in den Arm und küsste mich.
„Willst du mir nicht jetzt endlich deinen Namen verraten?“, fragte ich ihn schmunzelnd.
„Jetzt kann ich das erst recht nicht mehr tun“, antwortete er gequält, „aber eines musst du mir glauben, alles was geschah, geschah aus dem Herzen. Vergiss das nie. Und vergib mir bitte, denn ich hätte es nicht tun dürfen.“
Dabei strich er über den Ring an meiner rechten Hand, was mir sofort ein schlechtes Gewissen gegenüber Harry bescherte.
„Was für dich bestimmt ist, wird seinen Weg zu dir finden. Das ist unser Schicksal.“
Mit diesen Worten ging er von mir.
***
Seit dieser Nacht hatte ich nichts mehr von ihm gehört und er war auch nicht mehr ins Café gekommen. Am Anfang fragte ich mich, warum. Doch mit den Wochen hatte ich gelernt, mit dieser Ungewissheit zu leben. Wir hatten eine schöne, intensive Zeit miteinander gehabt und diese war so plötzlich, wie sie begonnen hatte, auch wieder zu Ende gegangen. Auch wenn es nur wenige Monate waren, die wir gemeinsam hatten, so bereute ich sie nicht, denn sie hatten mich verändert.
„Schau dir das an. Ist das nicht dieser Typ, der hier öfter mal bei uns im Café war?“, fragte mich Mary-Lou eines Tages, als ich gerade einen Espresso aus der Siebträgermaschine ließ und legte mir eine aufgeschlagene Tageszeitung auf den Tisch. Ich erkannte ihn sofort. Ein Reporter hatte ihn interviewt.
Was ist für Sie Schicksal?
Schicksal ist für mich, wenn man etwas findet, was man nie gesucht hat und dann feststellen muss, dass man nie etwas anderes wollte.
Und was genau ist das bei Ihnen?
Etwas das man im Herzen fühlt, aber nicht mit Worten ausdrücken kann. Darum ist es besser, wenn ich jetzt nichts mehr sage.
Herzlichen Dank für das Interview Pater Cosmas.
Texte: Eberhardt Coco
Lektorat: Eberhardt Coco
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. (Albert Einstein)