Meine liebste Emmi,
es kommt mir vor, als ob es gestern war, als Du in der Tanzschule meiner Eltern aufgetaucht bist. Du trugst dieses Petticoat-Kleid mit den roten Mohnblumen und Deine Locken hattest Du hochgesteckt. Als ich Dir zum ersten Mal in die Augen sah, war es um mich geschehen. Aber ich konnte Dir das nicht zeigen. Immerhin warst Du mit Peter da, Deinem Verlobten.
Ich kann sie noch immer spüren. Deine Hand in meiner, als ich dir den Walzer beibrachte. Mein Arm an Deiner Hüfte. Dein Duft. Deine Nähe. Und doch trennten uns Welten. Du würdest bald heiraten und nur deshalb warst Du eigentlich in der Tanzschule.
Es war die vorletzte Stunde. Ich weiß es noch so gut. Peter musste früher gehen, weil er dringend in der Firma gebraucht wurde. Ich genoss jede gemeinsame Sekunde mit Dir. Mit Vaters Käfer fuhr ich Dich schließlich nach Hause. Es war nicht geplant. Ich wünschte Dir eine gute Nacht und wollte Dich eigentlich nur aussteigen lassen. Doch dann berührten sich unsere Lippen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Sie waren so weich und sanft. Ich wollte nie mehr aufhören und doch war es nur ein Augenblick. Ein Augenblick, der mich ein Leben lang nicht mehr losgelassen hatte.
Ich wusste, dass Du nicht anders konntest, aber manchmal habe ich mich gefragt, wie es wohl gekommen wäre, wenn Du ihn nicht geheiratet hättest. Wie hätte unser Leben ausgesehen?
In all den Jahren gab es keinen Tag, an dem ich nicht an Dich gedacht habe. Jeden Moment, der mir mit Dir geschenkt wurde, habe ich genossen.
Mittlerweile bin ich ein alter Mann, doch in meinem Herzen fühle ich mich keinen Tag älter als damals. Halte mich für einen Narr, aber ich muss es Dir noch einmal gestehen.
Ich liebe Dich. Gestern, heute und für immer.
Dein Julius
***
Der Wind wehte leise durch die Blätter der hohen Bäume. Sanft wärmte die Sonne bereits die Luft. Es roch nach Frühling. Mit Tränen in den Augen stand er da und sah zu, wie sein Brief in ihr Grab fiel. Schweren Schrittes und auf einen Stock gestützt machte er sich auf den Weg zurück.
Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Korrektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2021
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Widmung:
Liebe bedeutet nicht, dass man den perfekten Menschen gefunden hat, sondern dass man das Perfekte in einem nicht perfekten Menschen entdeckt hat.