Ich war noch nie ein Kind von Traurigkeit. Und das, obwohl ich allen Grund dazu gehabt hätte. Die prägenden Jahre meiner Kindheit und Jugend erlebte ich im Krieg, der mir meine Brüder genommen hatte. Ein Schicksal, das keine Seltenheit war. Jeder hatte sein Päckchen zu tragen. Doch die meisten wollten jetzt nach vorne schauen und nicht mehr zurück. Außer Wolfgang. Er trauerte den Tagen nach, als sein Kaffeehaus noch den Glanz alter, besserer Zeiten versprühte. Doch diese waren unwiderruflich vorbei. Die Welt war eine andere geworden und auch die Menschen hatten sich verändert.
Trotz alledem traf sich im Kaffeehaus regelmäßig ein kleiner Kreis von Intellektuellen und Künstlern. Im Rauchersalon mit seiner holzgetäfelten Wand und der roten Decke gab es an manchem Tag recht hitzige Diskussionen. Vor allem wenn der Staatsanwalt zugegen war. Der Staatsanwalt war kein richtiger Staatsanwalt. Er wurde nur so genannt. Er war groß und hatte eine stattliche Figur, sein Haar war schütter, doch er konnte Reden halten, dass man ihm den Staatsanwalt beinahe hätte abnehmen können. Welchem Broterwerb er tatsächlich nachging, wusste niemand so genau. Gerne legte er sich mit dem Hörbiger an, einem Musikus, der sich gelegentlich hinter das Klavier im Kaffeehaus setzte, um sich mit einem Walzer ein paar Schilling dazu zu verdienen.
An einem kleinen runden Tisch neben dem Billardspiel saß meist der Poet, wie alle ihn nannten. Warum man ihn so nannte, war mir ein Rätsel. Er war äußerst wortkarg und wohl nicht viel älter als ich. Sein Haar war pechschwarz, seine Augenbrauen voll und sein Blick tief. Bereits morgens saß er im Kaffeehaus und verbrachte dort den ganzen Tag. Immer orderte er eine Melange, die ich ihm zusammen mit dem Glas Wasser servierte. Lediglich mit einem kurzen Lächeln bedankte er sich bei mir, wenn ich ihm den Kaffee brachte. Vor ihm lag meist ein kleines schwarzes Buch, in das er unentwegt mit seinem Kohlestift zeichnete. Er war ein seltsamer Zeitgenosse, aber irgendwie gehörte er einfach dazu. Seinen linken Fuß zog er immer etwas nach.
Es war ein Mittwoch Abend. Im Kaffeehaus war nicht mehr viel los. Der Hörbiger war schon gegangen und der Staatsanwalt erst gar nicht gekommen.
„Sperrst dann ab“, hatte Wolfgang mir befohlen und ließ mich mit den wenigen Gästen alleine.
Gedankenverloren spülte ich die Kaffeekannen ab. Als ich damit fertig war, saß nur noch der Poet im Rauchersalon. Seine Kaffeetasse war bereits leer, doch er war immer noch beschäftigt in sein Buch zu zeichnen.
„Darf ich Ihnen noch ein Wasser bringen?“, fragte ich höflich, allerdings in der Hoffnung, dass er ablehnen und bald gehen würde, sodass ich Feierabend machen konnte.
Etwas erschreckt blickte er mich an.
„Wo sind denn alle? Bin ich der Letzte?“, fragte er mich überrascht.
Seine Stimme klang dunkel, aber sanft.
„Ja, Sie sind der Letzte.“
„Oh. Ach. Ja. Entschuldigung.“
Er legte mir das Geld auf den Tisch und erhob sich.
Dann humpelte er zur Tür hinaus.
Schnell löschte ich alle Lichter, zog meinen Mantel über mein schwarzes Kleid und eilte zum Ausgang. Der Poet stand noch vor der Tür und rauchte, während ich den Schlüssel im Schloss drehte.
„Es regnet“, meinte er zu mir und in diesem Moment spürte ich den ersten Tropfen, den auch der Dachvorsprung nicht hatte aufhalten können.
Wortlos bot er mir eine Zigarette an, die ich dankend annahm.
„Ich würde Sie gern malen“, meinte er plötzlich zu mir.
Verwundert blickte ich ihm in die Augen.
„Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“
„Wann?“, fragte ich.
„Jederzeit.“
„Jetzt?“
Ruhig folgte ich ihm durch die regnerische Nacht.
*
Der Poet lebte in einer kleinen Mansardenwohnung. Sie war spartanisch eingerichtet und gleichzeitig auch sein Atelier. Durch eine große Glasscheibe hatte man einen wunderbaren Blick über die Stadt, selbst bei Nacht und Regen.
Im fahlen Licht einer Stehlampe nahm er mir meinen durchnässten Mantel ab. Danach löste er den Bändel meiner weißen Rüschenschürze, die ich noch um die Taille gebunden hatte. Was hatte er vor?
Als mein schwarzes Kleid zu Boden glitt, überkam mich diese Leidenschaft. Nur noch bekleidet mit meinen Strümpfen und der Unterwäsche presste ich meine Lippen auf die seinen und wollte ihn küssen, doch er erwiderte es nicht. Behutsam schob er mich von sich.
„Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind weder mein erster Mann, noch müssen Sie sich mir gegenüber verpflichtet fühlen. So eine bin ich nicht“, entgegnete ich ihm.
„Ich will Sie malen“, erwiderte er freundlich.
„Das wirkt auf mich aber nicht so.“
„Ich möchte Sie nackt malen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
Unsere Blicke trafen sich. Nein, ich hatte ganz und gar nichts dagegen, wenngleich ich diese ganze Situation etwas absurd fand.
Als ich schließlich nackt vor ihm stand, fuhr er mir kurz durch mein regenfeuchtes Haar, was mir Gänsehaut verursachte. Er bot mir eine abgenutzte Chaiselongue an, die an längst vergangene, bessere Zeiten erinnerte. Ich legte mich darauf und er begann hinter seiner Staffelei zu malen.
*
Es dämmerte bereits, als ich wieder erwachte. Eingehüllt in eine dünne Decke wärmte sein nackter Körper den meinen. Im Licht der aufgehenden Sonne beobachtete ich, wie er schlief. Meine Finger strichen vorsichtig über seine Narben, die sich über seine linke Körperhälfte zogen.
„Was ist dir passiert?“, hatte ich ihn vergangene Nacht gefragt.
„Der Krieg“, antwortete er kurz, aber die Art, wie er es sagte, ließ tief blicken.
Ich fragte nicht weiter. Mit geschlossenen Augen hatte er begonnen, meinen Hals zu liebkosen. Als er sich dann schließlich in mir bewegte, blieb er still, im Gegensatz zu mir. Als ich danach in seinen Armen lag, tropfte eine Träne von ihm auf meine Schulter. Worte waren überflüssig. Er war anders. Anders als die anderen.
Lautlos zog ich mich an. Wolfgang würde mich bald im Kaffeehaus erwarten. Bevor ich ging, warf ich noch einen Blick auf das Bild, das er von mir gemalt hatte. In jedem seiner Pinselstriche konnte ich sie erkennen. Diese tiefe Verletzlichkeit, die ich letzte Nacht gespürt hatte.
Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 28.03.2021
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Widmung:
Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele. (Pablo Picasso)