Wir schwören,
daß wir uns zu den Olympischen Spielen stellen
als loyale Konkurrenten,
daß wir deren Regeln hochhalten wollen
und daß wir sie zur Ehre unseren Nationen
und zu Ehre des Sports
im Geiste echter Ritterlichkeit durchführen werden.
Von Weitem hörte ich diese pathetischen Worte aus dem weißen Stadion. Es war der 11. Februar 1928. Ein denkwürdiger Tag, an dem sich allerdings die berühmte Sonne von St. Moritz nicht so recht blicken ließ. Im Schneegestöber wehten die vielen bunten Nationalflaggen, als wären sie stolz wie ihre Athleten. Mit Bahn und Droschken waren sie aus aller Herren Länder in unser eigentlich doch recht beschauliches Bergdorf gereist, das vor allem bei den Engländern sehr beliebt war. Ich stammte aus einer alten engandiner Bergbauernfamilie. Doch wie die meisten hier in meinem Alter verdiente ich in einem der Hotels am Ort mein Zubrot. Die schlechteste Wahl hatte ich wahrlich nicht getroffen. Das bekannte Grand Hotel des Bains hatte mich in Diensten. Ein mondänes Haus, das sich nicht jeder leisten konnte. Hier verkehrte man in besseren Kreisen. Man war gern unter sich. Ob Lord oder Marquess, Konsul oder Großfabrikant. Meist waren die feinen Herren in Begleitung mehr oder weniger hübscher Damen, die zumindest alle standesgemäß gekleidet waren. Mit schwerem Gepäck reisten sie an, das mein Freund Reto in die Zimmer der Herrschaften bringen musste. Oft wurde er dafür mit einem nicht zu verachtendem Obolus bedacht. Ich hingegen war einer der Kellner, die das Essen im großen Speisesaal servierten und auch zu jeder Tageszeit für die Wünsche der Gäste verfügbar war.
Der Speisesaal des Hotels war in der Tat einer meiner liebsten Räume. Durch die großzügigen Fensterfronten hatte man einen unverbauten Blick auf das verschneite Tal. Abends, wenn die großen Kronleuchter funkelten und Sergio, der kleine Musikus aus Italien, das Abendessen mit seinem atmosphärischem Klavierspiel begleitete, hatte man eher das Gefühl, in einem Ballsaal zu sein, denn in einem Speisesaal.
Die Tage vor dem Start der Olympischen Winterspiele hatten wir einiges zu tun. Das Hotel war nahezu ausgebucht und der Hotelchef hatte uns gebeten, jeder Zeit zur Verfügung zu stehen, falls Not am Mann wäre.
„Andrin, bitte bringen Sie das Gepäck dort auf die Zimmer 213 und 214“, bat er mich mit seinem unverkennbaren engadiner Dialekt. Ich blickte in die Richtung, in die er zeigte, als ich sie entdeckte. Zierliche Statur, ein feuerroter Lockenkopf, ihr gestrickter Pullover hatte den gleichen Grünton wie ihre Augen. Dazu trug sie noch diese schwarze Hose. Eine Frau mit Hosen war hier im Hotel noch immer etwas Ungewöhnliches. Ihr Begleiter war mindestens doppelt so alt. Ein feiner Herr, konservativ gekleidet mit grau meliertem Haar. Ein ungleiches Paar. Artig schob ich den messingfarbenen Gepäckwagen hinter den beiden her. Als ich ihre schweren Koffer im Zimmer ablud, würdigte sie mich keines Blickes. Aber ich kam nicht umhin, sie heimlich zu beobachten. Irgendetwas faszinierte mich an ihr.
*
„Wer sind die beiden aus Zimmer 213 und 214“, fragte ich Reto, der ein fotografisches Gedächtnis hatte und immer bestens über alle Gäste im Hotel Bescheid wusste.
„Das ist die Baronesse Charlotte von Lamberg und ihr Verlobter Dr. Werner Buchner. Er leitet ein Sanatorium.“
Wie eine Baronesse wirkte sie nun wirklich nicht. Sie hatte etwas Wildes und Unzähmbares an sich. Sie war anders als die anderen Gäste, die sich hier aufhielten. Und das lag nicht nur an ihrem Lockenkopf.
Aber sie war verlobt mit diesem Doktor. Selbst wenn sie es nicht gewesen wäre, was hätte sie schon an einem Bauernsohn wie mir finden können?
*
„Andrin, ich brauche Sie“, befahl mir der Empfangschef.
„Was wünschen Sie?“, fragte ich pflichtbewusst.
„Baronesse von Lamberg möchte in den Ort zum Einkaufen. Alle Chauffeure sind im Einsatz wegen der Olympischen Spiele. Ich brauche jemanden, der die Baronesse in den Ort fährt. Nehmen Sie eines der Fahrzeuge, das noch da ist“, befehligte er mir.
Mein Herz klopfte, als sie über den roten Teppich der breiten Treppe schritt und auf mich zukam. Mit meiner Uniform bekleidet hielt ich ihr die große Eingangstür auf, verneigte mich kurz vor ihr und begleitete sie zum Fahrzeug.
„Wie heißt du?“, fragte sie mich frech, kaum dass sie auf der Rücksitzbank platzgenommen hatte.
„Andrin ist mein Name, werte Baronesse von Lamberg.“
„Baronesse von Lamberg! Vergiss diesen Namen lieber ganz schnell wieder“, lachte sie amüsiert, „nenn mich Lotte.“
„Wie Sie wünschen, Baronesse Lotte.“
Sie kicherte, während ich verschmitzt lächelte.
„Lotte genügt. Und nun auf. Sport Och hat so schicke Keilhosen geschneidert. Eine solche würde mir sicher auch gut stehen.“
Konzentriert lenkte ich das Gefährt durch den Ort. Überall wimmelte es nur so vor Menschen.
„Begleitest du mich?“, fragte Lotte mich, als wir unser Ziel erreicht hatten.
„Mit Vergnügen“, antworte ich mit einem Lächeln und hielt ihr die Tür zum Geschäft auf.
Erst zwei Stunden später verließen wir es wieder. Ich hatte Mühe, die Einkäufe im Wagen zu verstauen. Mit dieser Ausstattung hätte Lotte glatt selbst an den Olympischen Winterspielen teilnehmen können. Glücklich wie ein Kind, saß sie hinter mir und schaute verträumt den Pferdeschlitten zu, die sich scheinbar mühelos die Straße hinaufschoben.
„Es war ein sehr schöner Nachmittag mit dir, Andrin“, verabschiedete sie sich lächelnd von mir, während ich ihr die große Flügeltür zum Empfangsbereich des Grand Hotels aufhielt.
„Die Freude war ganz meinerseits, Baronesse“, gab ich zurück.
„Lotte. Wie oft muss ich es dir denn noch sagen?“.
Bevor sie im Hotel verschwand, zwinkerte sie mir noch zu.
*
Über eine Mauer vor dem Dienstboteneingang gelehnt, blies ich den Rauch meiner Zigarette in den sternenklaren Nachthimmel. Endlich hatte ich etwas Freizeit.
„Hast du noch eine für mich?“, erklang plötzlich ihre Stimme neben mir. Wie kam sie hier her? In diesen Bereich des Hotels verirrten sich nie irgendwelche Gäste. Ich kramte eine Zigarette aus meiner Hosentasche, bot sie ihr an und gab ihr Feuer.
„Hat sich Ihr Ehemann über Ihre Einkäufe gefreut?“, fragte ich nach, nachdem mir das Schweigen zu lange wurde.
„Er ist mein Verlobter, nicht mein Ehemann. Ich könnte nackt vor ihm auf dem Tisch tanzen und er würde es nicht merken. Ein Accessoire bin ich für ihn. Eine Trophäe. Mehr nicht.“
Sie seufzte tief.
„Kommst du mit mir zum See, Andrin?“
Zum See? Was wollte sie um diese Nachtzeit noch am See? Und wieso sollte ich mitkommen? Ich konnte doch nicht einfach mit ihr zum See gehen. Sie war ein Gast des Hotels. Das war schlichtweg unmöglich.
„Wie stellen Sie sich das vor, Baronesse?“, wollte ich schließlich wissen, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.
„Lotte. Ich schlage vor, du besorgst dir aus dem Fundus des Hotels ein paar Schlittschuhe und begleitest mich. Die Nacht ist noch jung.“
„Aber…“, begann ich zu stottern, doch bevor ich weiterreden konnte, legte sie ihren Zeigefinger auf meinen Mund.
„Du wirst doch einem Gast keinen Wunsch absprechen? Außerdem kannst du eine junge Dame wie mich doch nicht nachts ohne Begleitung lassen. Was, wenn mir etwas zustößt? Das wäre unverzeihlich.“
Meine Gefühle waren gemischt, als wir kurze Zeit später Richtung See spazierten.
*
Der Mond, der sich im Schnee brach, tauchte den gefrorenen See in ein eigentümliches Licht. Stellte sie sich absichtlich so ungeschickt an auf dem Eis? Auch wenn ich nicht aus reichem Hause stammte, so hatte mir mein Vater schon von Kindesbeinen an Kufen unter die Schuhe gebunden, sobald der See zugefroren war.
„Soll ich Sie an die Hand nehmen?“, fragte ich fast schon etwas schüchtern und kaum dass ich es ausgesprochen hatte, griff sie auch schon nach mir und blickte für einen kurzen Moment tief in meine Augen.
Mit jeder Runde, die wir gemeinsam über das Eis glitten, schien sie an Sicherheit zu gewinnen.
„Ich werde Sie jetzt loslassen“, deutete ich an und ihr entfuhr ein kurzer Freudenschrei, als sie alleine über die Eisfläche fuhr.
„Ob du es wohl schaffst, mich zu fangen, Andrin?“, fragte sie frech zu mir, bevor sie loslief. Ein kindlicher Impuls ließ mich ihrer Aufforderung folgen. Sie war tatsächlich schneller, als ich gedacht hätte. Sicheren Laufs verfolgte ich sie. Ein paarmal entkam sie mir knapp, was ihr ein lautes Juchzen entlockte. Doch dann erwischte ich sie endlich und schlang im Fahren wie selbstverständlich meine Arme um ihre schmalen Hüften. Immer langsamer werdend glitten wir so über den See, bis wir zum Stehen kamen und sie sich zu mir umdrehte. Auf einmal wurde mir wieder bewusst, dass ich das besser zu unterlassen hatte, aber da war es schon zu spät. Ihre Lippen bewegten sich zielsicher auf die meinen zu und während wir uns küssten, vergaß ich alles um mich herum.
*
Die Woche war schneller vergangen, als ich gedacht hätte. Die Olympischen Winterspiele würden heute ihr Ende finden. Morgen erwartete das Hotel eine große Abreisewelle. Auch Lotte würde gehen. Bei dem Gedanken wurde ich wehmütig. Warum eigentlich? Egal, was ich für sie empfand, es hätte sowieso keine Zukunft. Tausend Gründe sprachen dagegen. Wie konnte ich ihr Lebewohl sagen? Schickte sich das überhaupt? Beim Abendessen hatte ich sie noch ein letztes Mal bedient. Unauffällig hatte sie mich angelächelt, doch ich konnte es nicht erwidern. Was, wenn ihr Verlobter etwas bemerkt hätte? Ob ich sie morgen überhaupt noch einmal sehen würde.
Gedankenverloren stieß ich den Rauch meiner Zigarette in den klirrend kalten Nachthimmel. Eine kurze Pause hatte ich mir gegönnt, bevor ich die Nachtschicht antrat. Es war erstaunlich, was die Gäste des Hotels auch noch des Nachts für Wünsche hatten. Nicht umsonst hatte das Grand Hotel einen so guten Ruf.
„Da bist du ja endlich“, meinte Reto zu mir, als ich die Hotelküche betrat. Auf einem Servierwagen stand eine Kanne Tee und Gebäck.
„Das muss sofort auf Zimmer 213“, befahl er mir weiter.
213. Das war ihr Zimmer. War das Zufall? Routiniert schob ich den Wagen die mir wohlbekannten langen Gänge entlang. Ich atmete tief ein, als ich vor ihrer Tür stand. Mein Herz pochte wie verrückt. Was wollte ich ihr noch sagen? Oder wäre es vielleicht doch besser zu schweigen? Mit zittriger Hand klopfte ich an ihr Zimmer.
„Ja, bitte“, hörte ich ihre mir mittlerweile wohlvertraute Stimme, die mir deutete einzutreten.
Im fahlen Licht saß sie auf ihrem Bett und lächelte mich an. Verlegen schenkte ich ihr den Tee ein, wie ich es wohl bei jedem anderen Gast auch getan hätte. Wortlos schritt sie auf mich zu.
„Wo darf ich servieren?“, fragte ich sie geschäftig und dabei trafen sich unsere Blicke.
„Ich bin froh, dass wir uns noch mal sehen, Andrin“, flüsterte sie ehrfürchtig und kam mir dabei fast zu nahe. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ohne dass ich mich dem hätte entziehen können, legte sie ihren Kopf auf meine Schulter. Instinktiv schlang ich meinen Arm um sie.
„Dein Verlobter…“, erinnerte ich sie indirekt daran, dass diese Nähe gefährlich war.
„Er ist noch unten mit Freunden an der Bar. Bis er kommt, wird es spät. Außerdem hat er sein eigenes Zimmer. Diesbezüglich ist er wirklich konservativ“, entkräftete sie meine Bedenken mit fast schon heißerer Stimme, bevor sich unsere Lippen langsam aufeinander zubewegten. Diese weichen Lippen, die irgendwie ganz fein nach Erdbeeren schmeckten. Gänsehaut machte sich breit, als sich ihre und meine Zungenspitze leicht berührten. Vorsichtig öffnete sie einen Knopf nach dem anderen von meiner Uniform.
„Das dürfen wir nicht“, flüsterte ich fast schon willenlos in ihr Ohr. Doch davon ließ sie sich nicht beirren.
Es war das erste Mal, dass eine Frau nackt vor mir stand und ich vor ihr. Zärtlich nahm sie meine Hand und legte sie auf ihre weiche, warme Brust. Ich schloss meine Augen und war ganz in diesem Moment gefangen. Gefühle, die ich bisher noch nicht gekannt hatte, durchzuckten meinen Körper. Wie konnte sich etwas, das so falsch war, nur so gut anfühlen? Sanft zog sie mich zu ihrem Bett.
*
Es war noch dunkel, als ich neben ihr erwachte. Im Schlaf sah sie aus wie ein Engel. Vorsichtig strich ich ihr eine ihrer roten Locken aus dem Gesicht und streichelte zärtlich mit den Fingern über ihre Wange, bevor ich sie dort kurz küsste.
Leise schlüpfte ich in meine Uniform und schob den Servierwagen nahezu geräuschlos aus dem Zimmer.
„Mensch Andrin, wo warst du die ganze Nacht“, fragte mich Reto in der Küche, der gerade dabei war, das Frühstück für die Gäste vorzubereiten. Verlegen suchte ich nach einer Ausrede, die mich nicht in Teufels Küche bringen würde. Aber Reto schien mich zu durchschauen.
„Keine Angst. Vor mir erfährt niemand etwas“, grinste er mich an und klopfte mir auf die Schulter.
Die nächsten Stunden hatte ich keine Zeit zum Nachdenken über das, was da geschehen war heute Nacht. Es gab viel zu tun. Die letzten abreisewilligen Gäste hatten das Hotel gegen Mittag verlassen.
„Ist Lotte… Ich meine, ist Baronesse von Lamberg noch im Hause?“, fragte ich Reto, der grade am Empfang stand.
„Lotte?“, lächelte er mich wissend an, „Lotte ist mit ihrem Verlobten vor circa einer Stunde abgereist.“
Ein Gefühl von Wehmut überkam mich mit einem Schlag. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sie sich aus meinem Leben geschlichen. Aber was hätte diese Liebe auch für eine Zukunft gehabt? Ich musste es anerkennen als das, was es gewesen war. Ein Traum. Doch insgeheim hoffte ich, dass ich sie vielleicht eines Tages wiedersehen würde.
Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Nicht weil die Dinge unerreichbar sind, wagen wir sie nicht,
Weil wir sie nicht wagen, bleiben sie unerreichbar.
(Seneca)