Nach sechs Wochen Homeschooling und Homeoffice fiel mir doch langsam die Decke auf den Kopf. Um nicht völlig überzuschnappen, hatte ich mich für den heutigen Tag bei meiner Freundin Brigitte eingeladen, nachdem immer noch sämtliche Vergnügungen geschlossen waren, mit denen man sich vom häuslichen Wahnsinn etwas ablenken hätte können. Saufen ist ja auf Dauer auch keine Lösung. Und mit den beliebtesten Sportarten 2020, nämlich joggen und Rad fahren, war es bei mir auch nicht sonderlich weit her. Also verließ ich kurzerhand mein Chaos zu Haus und flüchtete zu meiner Freundin Brigitte.
„Du siehst fantastisch aus“, begrüßte ich sie und was ich sagte, meinte ich auch ernst.
Brigitte sah aus, als hätte sie jetzt gleich ein Fotoshooting für die Vogue. Trotz geschlossener Friseure saß ihre Frisur perfekt. Außerdem wirkte sie so schlank und sportlich wie immer. Mein Haar war dagegen fettig, strähnig und versplisst. Wann hatte ich mich eigentlich das letzte Mal gekämmt? Und zu welchem Anlass? Von meinem grauen Haaransatz wollte ich gar nicht sprechen. Ich war eh nur noch zu Hause und versuchte das heimische Chaos zu bändigen. Und was meine Lockdown-Figur betraf, war ich froh, dass man im Homeoffice guten Gewissens Jogginghosen tragen konnte und das Gummiband noch etwas Spiel hatte.
„Wie machst du das bloß immer?“, fragte ich sie erstaunt und neidisch zu gleich.
Sie führte mich ins Esszimmer, wo bereits eine dreistöckige, selbst gemachte Fondanttorte neben einer heiß dampfenden Kanne frischen Filterkaffees wartete.
„Man muss die neue Häuslichkeit nur akzeptieren. Dann ist es lediglich noch eine Frage der Organisation. Den Unterricht für die Kinder bereite ich am Vorabend vor. Um sieben Uhr wird dann aufgestanden und gefrühstückt. Ich backe derzeit immer selbst gemachte Amaranth-Pancakes mit Eiern von unseren eigenen Hühnern. Ich mache jetzt nämlich Homefarming.“
„Homefarming?“, fragte ich etwas irritiert nach.
„Das macht Judith Rakers jetzt auch. Musst mal ihr Buch dazu lesen. Schon allein wegen Nachhaltigkeit und des ökologischen Fußabdrucks ist das sehr zu empfehlen“, erklärte sie mir, während wir die Torte aßen.
Häuslicher Gemüseanbau und Tierhaltung? Ich schaffte es ja derzeit noch nicht mal das Katzenklo von Tinkerbell zu reinigen. Wie sollte ich mich da noch um eine Horde Hühner kümmern? Oder sollte ich mir etwa eine Kuh in den Vorgarten stellen?
„Und wie klappt das mit deinen fünf Kindern mit dem Homeschooling zusammen mit dem Homeoffice?“, wollte ich weiter wissen.
„Das ist überhaupt kein Problem. Bernd und ich haben zusammen mit den Kindern einen individuellen Stundenplan erarbeitet. Dabei wurden die Stärken und Schwächen sowie der Biorhythmus jeden Kindes berücksichtigt. Bis Mittag sind wir dann damit durch. Danach kochen wir gemeinsam unser selbst angebautes Gemüse. Es ist wichtig, dass die Kinder wissen, wo ihr Essen her kommt. Nachmittags machen wir dann einen Familienausflug mit dem Rad durch die heimische Natur. Dienstags und freitags backen wir immer unser eigenes Brot. Im Homeoffice arbeiten Bernd und ich erst am Abend, wenn die Kinder im Bett sind. Das ist so angenehm. Von mir aus könnte das alles noch ewig so bleiben. Herrlich ist das.“
Ich musste kurz daran denken, wie das bei uns zu Hause so ablief. Das Pubertier Mia war vor halb elf nicht aus dem Bett zu bekommen. Und auch danach sollte man sie tunlichst nicht ansprechen. Erst recht nicht zum Thema Homeschooling. Fyn hingegen stand zwar früher auf, aber ich musste regelmäßig schauen, dass er nicht vor dem Tablet saß und Roblox zockte. Währenddessen musste ich im Homeoffice volle Leistung bringen, da jede Sekunde der Chef oder Kundschaft anrufen könnten. Mein Stefan war zwar auch im Homeoffice, aber er war in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Ab halb zehn kam er halbstündlich bei mir vorbei und fragte, was ich mittags zum Essen koche. Meistens durfte er sich zwischen Fertigpizza und Miracoli entscheiden. Für mehr hatte ich schlichtweg keine Zeit, da ich ja nachmittags auch noch arbeiten musste. Abends pennte ich dann bereits noch bevor das Sandmännchen kam auf dem Sofa ein, während meine Kids vor der Playstation versumpften.
„Und wie machst du, dass dein Haus so wohnlich und sauber aussieht?“, wollte ich weiter Brigittes Geheimnis wissen.
„Marie Kondo“, war ihre kurze, prägnante Antwort.
„Du hast eine Putzfrau? Das kann ich mir nicht leisten“, gab ich genickt zurück.
Sie lachte und holte aus ihrem gut sortierten Bücherregal ein Buch.
Magic Cleaning
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Wie richtiges Aufräumen ihr Leben verändert,
las ich auf dem Cover.
„Marie Kondo ist eine japanische Aufräumexpertin. In sechs Schritten kann das jeder. Es fühlte sich gut an. So gut, dass ich danach gleich noch das Wohnzimmer umgestaltete habe. Im Nude-Look.“
„Nude? Das heißt doch…“
„Nackt. Dabei handelt es sich um Hauttöne. Die Bezeichnung kommt eigentlich aus der Modewelt. Selbstverständlich habe ich bei der Farbwahl darauf geachtete, sämtliche ethnischen Gruppen zu berücksichtigen.“
Begeistert schaute ich mich im neuen Wohnzimmer um. Da hält man es wahrlich gut aus. Große Zimmerpflanzen rundeten das Gesamtbild ab.
„Mein Urban Jungle“, erklärte mir Brigitte stolz.
Mit meinem Feng Shui Albtraum zu Hause hatte das hier wirklich nichts gemein. Außerdem hatte ich seit Wochen nicht mehr gestaubsaugt, weil das, wenn vier Leute und eine Katze permanent zu Haus waren, sowieso keinen Sinn machte. Ich begnügte mich mittlerweile damit, dass ich wenigstens noch Rettungsgassen im Haus fand, die einem im Notfall ins Freie führten.
„Man muss es sich eben hyggelig machen“, meinte Brigitte lächelnd.
Hyggelig?! Die ungebügelten Wäscheberge bei mir zu Hause waren vielleicht hügelig, aber mit Sicherheit nicht hyggelig.
„Wow. Ich bin begeistert. Und trotzdem du den ganzen Tag so viel leistest, siehst du immer noch so entspannt aus“, stellte ich fest.
„Das kommt davon, dass ich mir regelmäßig ein bisschen Niksen gönne.“
„Niksen? Was ist das?“
„Das ist die niederländische Art des Nichtstuns. Voll im Trend zur Zeit.“
„Du findest also tatsächlich noch Zeit zum Nichtstun?“, fragte ich erstaunt und überlegte, wie sie das bloß immer macht. Ein flaues Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Ich wusste nicht, ob es von der Fondanttorte kam oder davon, dass ich offensichtlich nichts im Griff hatte, im Gegensatz zu Brigitte. Ich brauchte jetzt dringen einen Schnaps. Ach, wären nur alle Frauen so toll wie Brigitte.
Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Alle 11 Minuten trinkt ein Elternteil einen Schnaps. Sie homeschoolen jetzt.