In vier Wochen würde mein kleiner Sohn ein Jahr alt werden. Cornelius. Obwohl er mich und Helena ganz schön auf Trab hielt, konnte ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Die verbleibende Zeit bis zu seinem ersten Geburtstag hatte ich Elternzeit beantragt. Ich weiß zwar nicht, wie andere Väter diese Zeit nutzten, aber ich würde Henry im Süden Spaniens besuchen. Er lebte dort schon seit ein paar Jahren in der Gebirgsregion La Alpujarra in einer Art Aussteigerdorf. Ich hatte ihn noch nie dort besucht. Die letzten Jahre hatten wir keinen Kontakt, was mir im Nachhinein irgendwie leid tat. Derweil war Henry in meinem Leben immer einer meiner wichtigsten Menschen gewesen. Aber ich hatte eine Zeit lang meine Wunden lecken müssen…
Henry war bereits bei meiner Geburt dabei. Meine Mutter lebte damals in einer Kommune in einem Aussiedlerhof in der Nähe von Inning. Und genau dort erblickte ich das Licht der Welt. Außer der Hebamme, Henry und Georg waren noch fünf weitere Leute der Hausgemeinschaft bei diesem Happening anwesend. Hippies. Das war 1977.
Obwohl wir in meiner Kindheit immer mit vielen Leuten zusammenlebten, waren Henry, Georg und meine Mom meine wichtigsten Bezugspersonen. Zum Zeitpunkt meiner Zeugung hatte meine Mutter sowohl mit Georg, als auch mit Henry eine Beziehung, weswegen ich in den Genuss kam zwei Väter "Papa" nennen zu dürfen. Während Henry mir Geschichten vorlas, schmierte mir Georg Honigbrote zum Frühstück. Mom weihte mich dafür bereits im Kindergartenalter in die Künste des Yoga ein, die ich tatsächlich bis heute praktizierte.
Kindergarten. Das war eine herrliche Zeit für mich. Natürlich wurde ich nicht in so eine „staatliche Verwahranstalt“ gesteckt, wie es Georg gerne bezeichnete. Wehmütig musste ich an diese Holzhütte im Wald denken, wie wir die Wände mit unseren Fingern bunt bemalten, Zahnbürstenbilder gespritzt oder einfach nur Ketten aus Gänseblümchen geflochten hatten. Bis es bei Cornelius so weit sein würde, war noch Zeit. Und doch machte ich mir bereits Gedanken darüber.
Es war nicht alles so rosig, wie ich es in meinen Erinnerungen gespeichert hatte. Bis zu meinem 10. Geburtstag war ich bereits sieben Mal umgezogen durch halb Europa. Doch als wir von Dänemark wieder zurück nach Deutschland gingen, kam Georg nicht mehr mit. Ich tat mir schwer ohne ihn in meiner neuen Umgebung. Er fehlte mir, obwohl er versprochen hatte, weiterhin für mich da zu sein. Dazu kamen noch Probleme mit meinen neuen Klassenkameraden, die sich über meinen doch recht unkonventionellen Klamottenstil lustig gemachten hatten. Als mich dann in der Pause dieser Typ, der mich eh immer ärgerte, provozierend gefragt hatte, ob ich überhaupt weiß, wer mein Vater sei, hatte ich für einen kurzen Moment meine pazifistische Erziehung völlig vergessen und mit dem Jungen geschlägert.
Henry war es, der mich danach im Rektorat abgeholt hatte. Ich schluchzte und er nahm mich wortlos in seine Arme.
„Was war denn los?“, wollte er von mir wissen, als wir zu Hausen waren und ich mich wieder beruhigt hatte. Währenddessen hatte er mir eine Tasse heiße Schokolade gekocht. Ich schüttete ihm mein Herz aus.
„Egal, was kommen mag, ich bin dein Vater. Ich werde immer für dich da sein“, sagte er mit ruhiger Stimme zu mir. Diese Worte begleiteten mich wie ein Schutzmantel durch meine Jugend. Auch als Mom und Henry getrennte Wege gingen, war er immer für mich da. Wie ein Vater eben…
Doch je älter ich wurde, desto größer wurden meine Zweifel. War Henry wirklich mein leiblicher Vater? Oder war es doch Georg? Krampfhaft suchte ich nach Gemeinsamkeiten. Doch die Unsicherheit stieg… Schließlich wollte ich es wissen.
„Wer ist eigentlich mein richtiger Vater?“, konfrontierte ich meine Mutter mit diesem heiklen Thema. Damals studierte ich bereits und hatte im Studentenwohnheim zum ersten Mal ein eigenes Zimmer, das nur mir gehörte.
„Henry und Georg“, versuchte sie mal wieder auszuweichen.
„Ich mein nicht die soziale Vaterschaft. Ich will es endlich wissen, Mom“, flehte ich sie fast schon an.
„Ich weiß es nicht“, gab sie zwar kleinlaut, aber immerhin ehrlich zu.
Es dauerte noch ein paar Jahre, bis ich mich traute von meinen „Vätern“ einen Vaterschaftstest einzufordern. Obwohl ich mit Georg zu diesem Zeitpunkt keinen Kontakt mehr hatte, willigte er anstandslos ein.
Ich dachte, mich könne nichts erschüttern und Klarheit zu haben wäre beruhigend. Doch als das Ergebnis vorlag und sich herausstellte, dass keiner von beiden mein leiblicher Vater war, brach für mich eine Welt zusammen.
Obwohl Henry trotz allem immer wieder versuchte Kontakt mit mir zu halten, blockte ich alles ab. Dass er nach Spanien ziehen würde, erfuhr ich schließlich von meiner Mutter. Vielleicht war es das Beste so, dachte ich und suhlte mich weiter in meinem Schmerz der Verlassenheit.
Dieser Schmerz wurde erst etwas leichter, als ich Helena kennen lernte. Lange Zeit hatte ich Angst mich zu binden. Doch bei ihr fühlte es sich vom ersten Moment an richtig an. Ein Gefühl von Geborgenheit, das ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Und seit Cornelius auf der Welt war, war unser Glück perfekt.
Im Nachhinein war ich erleichtert, dass Helena für die Entbindung in eine Klinik wollte und keine Hausgeburt in Betracht zog, wie meine Mutter damals. Als ich meinen kleinen Sohn dann zum ersten Mal im Kreissaal im Arm hielt, musste ich an Henry denken und was er wohl empfunden haben musste, als ich so in seinem Arm gelegen hatte.
Es war schon fast Mitternacht, als ich an diesem Tag vom Krankenhaus nach Hause gekommen war. Sofort setzte ich mich an den Laptop und schrieb Henry eine E-Mail mit dem Foto vom Neugeborenen. Es war mir in diesem Moment ein tiefes Bedürfnis das zu tun. Keine zehn Minuten später flatterte eine Antwort von ihm in mein Postfach, als hätte er darauf gewartet.
„Ich bin zu Tränen gerührt und freue mich für und mit euch. Noch mehr würde ich mich freuen, wenn ich euch alle endlich mal wieder sehen könnte, insbesondere dich, mein Sohn.“
Meine Augen wurden feucht und zum ersten Mal seit langer Zeit ließ ich zu, dass ich Henry wirklich vermisste.
Fast ein Jahr war das Ganze nun her…
„Wir kommen“, hatte ich Henry vor zwei Wochen mitgeteilt und Mom´s alten Bulli aus dem Tiefschlaf befreit.
„Ist das dein Ernst?“, hatte Helena mich gefragt, als ich ihr davon erzählt hatte. Ich nickte, sie lächelte.
Die Reise war lang und ohne Klimaanlage eine rechte Tortur. Doch als wir die hügelige Landschaft der La Alpujarra erreichten, ließ mich das die ganzen Strapazen vergessen. Zelte, Wohnwagen und Blockhütten deuteten uns an, dass wir hier richtig waren. Ich parkte den Bulli an einem Seitenstreifen. Ein Lagerfeuer erhellte die Dämmerung und aus der Ferne hörte man Trommeln. Im spärlichen Licht erkannte ich bereits seine Statur. Henry. Wortlos fielen wir uns um den Hals.
„Egal was kommen mag, ich bin dein Vater und werde immer für dich da sein," begrüßte er mich unter Tränen der Erleichterung.
„Ich weiß, Papa, ich weiß“, schluchzte ich leise in seine weiche Schulter.
Texte: Coco Eberhardt
Cover: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2020
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Egal, wie wieviele Prinzen es gibt, der König wird immer mein Papa sein...