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Maskenball im Filmtheater

„Ciao, Jen. Bin dann weg“, rief er vom Hausflur aus zu seiner Frau, die, wie so oft, im Wohnzimmer auf dem Sofa saß und ein Buch las.

„Viel Spaß“, schallte es zurück.

Ob sie ihm das wohl immer noch wünschen würde, wenn sie wüsste, was er heute Abend tatsächlich vor hatte?

Jen und er waren für viele das Vorzeigeehepaar schlechthin. Mit 16 hatten sie sich kennengelernt, mit 21 geheiratet. Zwei Jahre später kam ihre erste gemeinsame Tochter zur Welt. Dann noch die Zwillinge. Auch wenn es nicht immer einfach war, hatten sie doch irgendwie immer alles hinbekommen. Jen hatte ihren Job für ein paar Jahre auf Eis gelegt. Wegen der Kindererziehung. Und um ihm den Rücken frei zu halten. Er hatte in der Firma alles gegeben und sich nach Feierabend auch noch oft mit Mathe büffeln und Vokabeln pauken rumgeschlagen. Er hatte Jen unterstützt, wo es nur ging. Das war für ihn selbstverständlich.

Vor drei Jahren war dann auch das letzte ihrer drei Kinder ausgezogen. Patrick. Seit dem war es ruhig geworden in dem kleinen Reihenhaus, das sich im Stadtrandbezirk befand. Zu ruhig für seinen Geschmack. Ab diesem Zeitpunkt hatte er erst gemerkt, wie schlecht es um ihn und Jen stand. Na gut, was hieß hier schlecht. Sie lebten halt irgendwie nebeneinander her. Sie las ihre Bücher, er glotzte nach Feierabend gern ein bisschen Fernsehen. Bares für Rares. Am Wochenende: Auto waschen und Rasen mähen. Zweimal im Jahr Urlaub. Das Übliche eben. So schlecht war das Ganze ja gar nicht. Was erwartete er eigentlich? Nun gut, im Bett lief es schon länger nicht mehr so prickelnd. Um nicht zu sagen, es herrschte Flaute. Jeder schlief auf seiner Seite des Ehebettes. Wann hatten sie ihren letzten Sex? Er überlegte krampfhaft, während er auf dem Weg zu seinem Kumpel war. Günne. Seit etlichen Jahren geschieden. Aber zufrieden. Günne war sein Alibi für diesen Abend. Dort hatte er auch seinen Anzug deponiert, den er für diese Nacht brauchte. Was machte er da bloß? Ein bisschen plagte ihn das schlechte Gewissen, gleichzeitig hatte er dieses Kribbeln im Bauch, das er schon so lange vermisst hatte.

Vor fünf Wochen hatte er diese Werbeanzeige in der Zeitung entdeckt.

 

Maskenball im alten Filmtheater,

 

hatte er Jen provokativ laut vorgelesen. Sie hatte prompt aufgelacht.

„Alter Nostalgiker“, hatte sie das Ganze kurz kommentiert und den Kopf geschüttelt. Seinen Nostalgietick hatte sie schon immer etwas belächelt, weswegen er ihn auch mehr und mehr zurückgefahren hatte. Aber diese Zeitungswerbung ließ ihn einfach nicht mehr so richtig los. Zuerst wurde im Kino der Film „Opernball“ mit Theo Lingen und Hans Moser gezeigt. Danach gab es einen kleinen Maskenball mit einer Band, die alte Schlager spielte. Und das Ganze in dem schönen Ambiente des alten Filmtheaters, dessen Interieur noch aus den 50gern stammte. Allein wollte er dort allerdings nicht hin. Er wollte tanzen. Er wollte feiern. Er wollte genießen. Seit er diese böse 5 vorne dran hatte, hatte er noch mehr das Bedürfnis danach. Also hatte er eines Abends, als Jen schon im Bett war, diese anonyme Online-Anzeige im Stadtmagazin geschaltet:

 

Nostalgiker, Anfang 50, sucht nette, feier- und tanzfreudige

Begleitung für den Maskenball im alten Filmtheater.

 

Die Auswahl der Bewerberinnen war überschaubar gewesen. Doch diese „Zarah78“ hatte ihn sofort irgendwie fasziniert. Auf kokette Weise hatte sie ihn bereits nach kurzem Online-Kontakt um den Finger gewickelt. Eine faszinierende Frau mit Visionen, Bildung und Humor. Anders als Jen, die sich mittlerweile mehr für ihre Bücher interessierte, als für ihn.

Bilder hatte er mit „Zarah78“ bisher nicht getauscht, denn das sollte ja zumindest bis zum Maskenball noch ein Geheimnis bleiben. Ihrem Pseudonym zufolge war sie wohl fast zehn Jahre jünger als er, was ihn zusätzlich etwas kickte. Ein Blind-Date hatte er bisher noch nie gehabt. Wie auch? Er war ja die meiste Zeit seines Lebens mit Jen zusammen gewesen. Manche würden vielleicht behaupten, er hätte eine Mid-Life-Crisis. Keine Ahnung, ob es so war. Aber in diesem Moment fühlte es sich einfach gut an für ihn.

Er hatte sich bei Günne umgezogen und ein paar Tropfen Parfüm aufgelegt. Seinen Kumpel hatte er eingeweiht in seine Pläne. Vor Jen hatte er gemeint, mit Günne einen Männerabend zu verbringen, was sie nicht weiter gestört hatte und von Zeit zu Zeit tatsächlich der Fall war. Und so machte er sich auf zum alten Filmtheater.

Das Filmtheater war ursprünglich tatsächlich mal ein Theater gewesen, welches in den 50gern zu einem Kino umfunktioniert worden war. Für dieses Date hatte er extra eine der Logen gebucht, die für einen moderaten Aufpreis angeboten worden waren. Er wollte mit „Zarah78“ einen Rückzugsort haben, falls es vielleicht zu mehr kommen sollte. Sollte sie nicht sein Typ sein, würde er einfach den Abend auf der Tanzfläche oder an der Bar verbringen.

Schon als er den Eingangsbereich des Filmtheaters betrat, fühlte er sich in eine andere Zeit zurück versetzt. Hier war noch alles, wie früher. Er zog seine schwarze Maske auf, die die obere Hälfte seines Gesichts bedeckte und damit auch auf gewisse Weise seine wahre Identität. Er setzte sich an die Bar, die vom Design her immer noch an die Wirtschaftswunderzeit erinnerte.

„Ich trage eine rote Nelke im Knopfloch. Daran erkennst du mich.“

So hatte er ihr es geschrieben. Und so saß er nun an dieser Bar und fühlte diese angenehme Aufregung in sich. Er beobachtete die maskierten Menschen, die langsam das Filmtheater füllten. Welche war wohl „Zarah78“?

Und auf einmal stand sie vor ihm. Sie trug ein weit ausgestelltes Rockabilly-Kleid, das schwarz-weiß-gepunktet war. Unter dem knielangen Saum, spitzelte ein knallroter Petticoat heraus. Passend dazu ein roter Gürtel, der ihre Taille betonte. Ihre Schultern lagen frei und ihr Dekolleté war weit ausgeschnitten. Wow. Volltreffer. Diese Frau war echt der Hammer, wenngleich sie ihr Gesicht ebenfalls mit einer Maske über den Augen bedeckt hatte. Das Haar war auftoupiert.

„Zarah78“, fragte er kurz und knapp, immer noch überwältigt von diesem Anblick. Sie nickte mit einem Lächeln. Knallrot leuchtete der Lippenstift auf ihrem Mund. Im Hintergrund lief „Manuela“ von Rocco Granata.

„Sekt?“, fragte er etwas lauter, um die Musik zu übertönen.

„Gerne“, antwortete sie freundlich, während er den Kellner herwinkte, um zu bestellen.

„Auf einen schönen Abend“, stieß er schließlich mit ihr an, bevor sie sich gemeinsam auf den Weg zur Theaterloge machten, um den bald startenden Film anzuschauen. Er fühlte sich ihr irgendwie sofort verbunden, obwohl er nicht viel von ihr wusste und auch erst wenig mit ihr geredet hatte. War das der Reiz des Unbekannten? Vorhin hatte er kurz ein schlechtes Gewissen wegen Jen. Aber das war wieder verflogen.

Sie saßen mittlerweile auf den Samtsitzen in der Loge. Unauffällig schaute er zu ihr hinüber. Sie lächelte ihn an. Sein Blick fiel auf ihr Dekolleté. Aus dieser Perspektive konnte er einen Teil ihres schwarzen Spitzen-BH´s sehen, der ihre Brüste in diesem Rockabilly-Kleid vorteilhaft zur Geltung brachte. Wann hatte Jen sich das letzte Mal für ihn so aufgebrezelt? Er konnte sich nicht erinnern. Meist trug sie bequemes Schlabberzeug, das alles andere als aufreizend war. Sie hatte sich die letzten Jahre doch recht gehen lassen. Naja, er vielleicht auch ein bisschen. Nach so vielen Jahren Ehe war das vielleicht normal. Zumindest keine Seltenheit. Der Saal wurde in fahles Licht getaucht. Der Film begann.

Obwohl sie nur nebeneinander saßen und auf die Leinwand starrten, fühlte er sich in ihrer Gegenwart so seltsam wohl und irgendwie erregt, nur von ihrer Anwesenheit. Seine Gedanken waren schon einen Schritt weiter. Wie gerne hätte er gewusst, wie sie unter ihrer Maske aussah. Und am liebsten hätte er ihre Brüste, auf die er immer wieder unauffällig im Schutz der Dunkelheit blicken musste, aus diesem engen Kleid befreit. Ein Kribbeln durchfuhr seinen Unterleib. Er atmete kurz ein. Sie duftete verführerisch. Er stellte sich vor, wie sich ihre Lippen berührten und er sie küsste. Ab und zu lächelte sie ihm zu. Ob sie wohl auch solche Gedanken hatte?

„Lust zu tanzen?“, fragte er sie schließlich, als der Film zu Ende war. Sie stimmte ihm zu.

Im Foyer des Kinos war bereits die Party am Laufen. Eine Band spielte Schlager aus den 50gern und 60gern. Die Tanzfläche war schon gut gefüllt.

„Schöner fremder Mann“, trällerte die Sängerin den Hit von Connie Francis ins Mikro. Er legte seine Hand auf ihren Rücken und sie ihre auf seine Schulter. Jive. Er hatte seinen Spaß und sie ganz offensichtlich auch. Und so tanzten sie Runde um Runde. Er fühlte sich mit einem Male wieder wie 20. Total außer Atem lud er sie schließlich an der Bar zu einem Aperitif ein. Jen. Wieso konnte sie nicht so sein, wie diese Frau, dachte er kurz an seine ahnungslose Frau zu Hause. Wann hatten sie dieses Feuer, diese Leidenschaft verloren?

Ganz Paris träumt von der Liebe.

Die Band hatte mittlerweile ruhigere Töne angeschlagen. Es war kurz vor Mitternacht. Engumschlungen tanzten sie miteinander. Er wollte, es würde nie enden. Und dann überkam es ihn ganz plötzlich. Ob es am Alkohol lag oder an dieser ganzen Stimmung? Langsam bewegten sich seine Lippen auf ihre zu. So weich und ihre Zunge wie Samt. Er hatte sie nah an sich gedrückt und ihr schien das genauso zu gefallen, wie ihm. Er konnte nicht mehr klar denken. Aber das war ihm egal. Es fühlte sich in diesem Moment einfach richtig und gut an. An Jen verschwendete er keinen Gedanken mehr. Diese Frau erregte ihn zutiefst, obwohl sie immer noch diese Maske trug. Oder war das gerade der Reiz?

„Ich wäre jetzt gern allein mit dir“, hauchte sie ihm leise ins Ohr. Und auch er hatte dieses Bedürfnis.

„Warte“, vertröstete er sie kurz und holte die angebrochene Flasche Sekt, die er vorhin für sie beide bestellt hatte. Er nahm sie schwungvoll an der Hand und entführte sie zur Theaterloge von vorhin. Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, begannen sie sich im gedämpften Licht des kleinen Raumes zu küssen. Vorsichtig, aber intensiv. Langsam öffnete er den Reißverschluss ihres Kleides, während sie ihm das Jackett auszog und die Knöpfe seines Hemds öffnete. Es war schön ihre Haut an seiner zu spüren. Die Wärme. Die Nähe. Jeder Berührung erregte ihn auf eine äußerst durchdringende Art, wie er sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er küsste sie. Auf die Lippen. Am Hals. Am Bauch. Sie drückte ihn behutsam auf den samtigen Kinositz und setzte sich auf seinen Schoß.

„Ich muss es jetzt wissen“, keuchte er ihr sanft ins Ohr.

Vorsichtig löste er die Maske von ihrem Gesicht. Dann zuckte er zusammen.

„Jen?!“

Entgeistert schaute er sie an.

„Du?!“, meinte sie ebenso überrascht.

Für den Bruchteil einer Sekunde hätte man den Staub auf den Boden fallen hören können. Dann begann sie zu lachen. Verlegen lachte er mit. Sie schüttelte den Kopf.

„Ist es nicht schön zu wissen, dass wir, selbst wenn wir wollten, nicht voneinander los kommen? Sowas müssen wir öfter mal machen.“

Er nickte, dann küsste er sie, während sie mit der Hand langsam den Reißverschluss seiner Hose öffnete...

Impressum

Texte: Coco Eberhardt
Cover: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Jen´s, aber nicht für Jens...

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