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Sieben Minuten Meer

Mitten in der Nacht war es losgegangen. Zusammen mit Michele hatte er sich mit dem Fahren abgewechselt. Alles lief gut. Nur einmal auf der A10 hatte er eine kurze Schrecksekunde, als einem Lkw der vor ihm fuhr der Reifen geplatzt war. Die Fetzen des gesprengten Gummis verteilten sich auf der Straße. Aber er konnte ohne Probleme ausweichen. Niemand hatte etwas bemerkt. Einmal tief durchatmen. Im Rückspiegel sah er Hedi, die ihm kurz zulächelte.

Er hatte zwar noch nicht die Routine und Erfahrung von Michele, dafür aber gute Reflexe. Am schönstens fand er es, wenn er in den Tag hinein fuhr. Die Sonne, die langsam hinter den Bergen aufging.

Während einer kurzen Pause an einer Autobahnraststätte hatte Hedi ihm einen Becher Kaffee gebracht. Sie war nett. Ihr dickes, langes, blondes Haar hatte er noch nie offen gesehen. Immer hatte sie es geflochten. Die Sonnenbrille trug sie lässig auf dem Kopf. Am linken Oberarm hatte sie eine filigrane Rose tätowiert. Obwohl sie eine schwarze Weste trug, wusste er das, denn es war nicht ihre erste gemeinsame Fahrt. Hedi war ein Jahr jünger als er. 24.

Zu dritt standen sie da. Michele rauchte eine Zigarette. Hedi und er nippten vorsichtig an ihren dampfenden Kaffeebechern. Die Wimperntusche ließ ihre Augen irgendwie strahlen. Diese schönen grünen Augen, die fast schon magisch waren.

„Is was?“, fragte sie ihn lächelnd.

„Nö“, antwortete er etwas verlegen.

Er hatte sie wohl ein bisschen zu lange angestarrt. Dann stiegen sie wieder ein. Michele setzte sich ans Steuer.

Vielleicht ergab sich für ihn nun die Gelegenheit mit Hedi ein bisschen ins Gespräch zu kommen. Er hörte sie gern erzählen. Ein Casanova war er allerdings nicht. In diesem Punkt war er eher etwas unbeholfen. Sieben Jahre war er mit Annsophie zusammen gewesen, bis diese sich in einen ihrer Studentenkommilitonen verliebt und ihn quasi abserviert hatte. Die Trennung war für beiden nicht leicht gewesen. Das war jetzt fast ein dreiviertel Jahr her. Sie hatten versucht Freunde zu bleiben. Aber das tat mehr weh, als der endgültige Schlussstrich, den sie dann doch gezogen hatten. Hedi war seit dem die erste Frau, die er irgendwie sympathisch fand. Naja, auf diese gewisse Weise eben. Aber so richtig in den Angriff war er auch noch nicht gegangen. Das war irgendwie nicht seine Art. Aber was war schon seine Art? So genau wusste er das gar nicht.

Eigentlich sollte er sich jetzt wieder ausruhen, da er nachher wieder mit fahren dran war. Am liebsten würde er sie mal einladen. Auf einen Kaffee. Zum Essen. Vielleicht ins „Venezia“? Ob sie italienisch mochte? Ob sie ihn mochte?

Es war noch früher Vormittag, als das Meer endlich am Horizont auftauchte. Jedes Mal wieder ein erhebender Moment. Er liebte das Meer. Die Sonne reflektierte sich wie kleine Diamanten im Wasser.

Michele hatte mittlerweile auf einem staubigen Parkplatz am Ortsrand geparkt. Als er ausstieg, war es, als liefe er gegen eine Wand. Eine Wand aus warmer, salzgeschwängerter Meeresluft. Ein Kontrast zum klimatisierten Fahrzeuginneren.

„Pause. Bis nachher. Ciao“, rief Michele ihm winkend zu.

Hedi war nirgends zu entdecken. Gerne hätte er sie endlich gefragt, ob sie mit ihm mitkommen würde. Mit an seinen Lieblingsplatz. Viel Zeit war eh nicht.

Mit dem Gedanken, sie zu fragen, spielte er schon seit Wochen. Jeden Samstag eben. Er nahm seinen Rucksack auf den Rücken und lief durch die engen Gassen. Wäsche hing zum Trocknen über ihm. Gespannt von Fenster zu Fenster. Vor einem Haus saß eine alte, rundliche Nonna, die er dort schon öfter gesehen hatte. Mit ihrer Zahnlücke lächelte sie ihm freundlich zu. Sie schien sich an ihn zu erinnern. Zumindest fühlte es sich so an. Seelenruhig schälte sie Kartoffeln in einen Emailletopf. Zielstrebig ging er an ihr vorbei.

In der rustikalen Espressobar saßen bereits ein paar ältere Männer. Die Tür war offen und man hörte sie lautstark und temperamentvoll diskutieren. Wortfetzen drangen an sein Ohr. Stur lief er seinen Weg weiter.

Nach den letzten Häusern kam der lange Steg, der hinab in die Bucht führte. Mit Holzbrettern war versucht worden den Weg zum Strand bequem begehbar zu machen. Doch das Salzwasser hatte dem Holz bereits seine Patina aufgedrückt. Ein Geländer aus dicken Tauen war dafür da, dass niemand vom Weg abkam. Aber wer wollte auch schon abseits laufen. In diesem Bewuchs aus Büschen und Gräsern, wo sich mit Sicherheit der ein oder andere Skorpion recht wohlfühlen würde.

Endlich war er da. In sicherem Abstand zum Wasser, legte er seinen Rucksack ab und zog seine Schuhe und Socken aus. Dieses Stückchen Strand war menschenleer. Ein kleines Paradies. Barfuß ging er zum Meer, welches sanft seine nackten Füße umspülte. Am Horizont sah er ein Fischerboot. Ein angenehm warmer Wind wehte ihm ins Gesicht.

Während er zu seinem Rucksack zurückschlenderte, klebte der Sand wie eine Panade um seine nassen Füße. Behutsam holte er sein Handtuch heraus und breitet es aus, bevor er sich darauf legte und seine Augen schloss. Er atmete tief ein, spürte die bereits wärmende Sonne angenehm auf seiner Haut und lauschte andächtig dem ewigen Rauschen der Wellen, die an den Strand gespült wurden. Ein Moment völliger Harmonie erfasste ihn.

Plötzlich spürte er ein sanftes Kitzeln auf seinem linken Unterarm. Vorsichtig öffnete er seine Augen ein Stück weit. Und da sah er sie. Hedi.

„Hier kommst du also immer her“, meinte sie und lächelte dabei.

Wie hatte sie ihn nur gefunden? War sie ihm heimlich gefolgt? Etwas verlegen rappelte er sich auf.

„Ähm. Ja.“

Als wäre es das normalste auf der Welt, setzte sie sich neben ihn in den warmen Sand.

„Ein schöner Platz. Fast, wie ein kleines Paradies.“

Ihr Blick glitt verklärt in die Ferne, als sie das sagte. Ihm fehlten die Worte. Er legte sich wieder zurück, verschränkte seine Hände hinter dem Kopf und genoss ihre Anwesenheit, die ihm auf einmal so vertraut schien. Ohne, dass es weiterer Worte bedurfte, legte sie sich neben ihn. Und als wäre es nicht genug gewesen, schmiegte sie ihren Kopf an seine Schulter und umarmte mit ihrer linken Hand seinen Körper. Nur kurz war er irritiert von ihrer direkten Art, dann genoss er es. Ihre Wärme. Ihr filigraner Duft. Die zärtlichen Berührungen. Und ehe er es recht begriff, küssten sie sich, während das Meer im Hintergrund rauschte und ein paar Möwen am wolkenlosen Himmel kreischten.

Ihre Lippen waren weich und ihre Zunge wie Samt. Eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, kitzelte seine Wange. Er drehte sich zu ihr und  legte behutsam seine Hand um ihre Taille. Zärtlich liebkoste er ihren Hals, wogegen sie sich nicht wehrte. Ihre Hand glitt vorsichtig unter sein T-Shirt. Und dann…

Dann wachte er auf aus seinem Tagtraum. Hedi war weg und er lag einsam und allein am Strand. Hastig packte er sein Handtuch in den Rucksack. Es war höchste Zeit, dass er sich zurück auf den Weg zum Bus machte. Michele würde sicher schon mit laufendem Motor auf ihn warten, um die Badetouristen einzusammeln, die sie wieder zurück nach Hause fahren mussten. So wie jeden Samstag während der Hauptsaison. Er liebte es. Er liebte diese paar Minuten am Meer. Und seit Hedi als Reisebegleiterin dabei war, war es fast noch ein bisschen schöner. Vielleicht würde er sich ja nächsten Samstag trauen, sie zu fragen, ob sie mit ihm zur Bucht kommen würde. Wenn auch nur für sieben Minuten...

Impressum

Texte: Coco Eberhardt
Cover: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Udo, die Sonne und du...

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