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Wer fliegen kann, braucht keine Brücken

Und nun stand ich wieder auf diesem Balkon. Sonntagnacht. Eine laue Julinacht, um genau zu sein. Unter mir saßen Menschen in den Cafés und Bars und unterhielten sich. Mal lauter, mal leiser. Die Lichter der Stadt gaben mir das Gefühl, nicht alleine zu sein. Wie ein Monument erstrahlte Sacré-Cœur über Montmartre. Die Hitze des Tages schwebte noch in den Gassen. Es war so, wie es schon oft gewesen war. Und doch war es heute so anders, denn es war das letzte Mal.

Als ich so da stand und noch einmal hinab blickte, musste ich wieder an dich denken. Und an damals. An diesen Abend vor über drei Jahren. Es war so, wie es schon oft gewesen war. Und doch war es damals so anders. Ich war anders. Jemand anders. Ich war das, was viele Leute als erfolgreich bezeichnen würden. Nach meiner Ausbildung bei der Bank kletterte ich schnell die Karriereleiter hinauf. Meine Stärken waren mein Ehrgeiz, meine Zielstrebigkeit und meine Loyalität. Bald leitete ich eine kleine Filiale mit zwei Angestellten im Norden der Stadt. Dann eine mit fünfzehn. Zentral. Und das war noch lange nicht das Ende. Mit jeder Stufe des Erfolgs ging es mir auch materiell besser. Auf einmal konnte ich in den Boutiquen auf der Champs-Élysées einkaufen. Ich legte mir ein schwarzes Sportcoupé mit Ledersitzen zu. Und schließlich auch dieses Apartment im Herzen Montmartres mit diesem einmaligen Blick auf Sacré-Cœur. Ich lebte damals ein Leben auf der Überholspur. Ich war eine Getriebene. Geschäftsessen. Mitarbeitergespräche. Überstunden. Und jahrelang ging das gut. Aber ich merkte zunehmend dieses seltsame Gefühl in mir, das so gar nicht zu meinem Leben passen wollte. Ich sollte doch eigentlich glücklich sein. Mir fehlte es doch an nichts. Viele Menschen beneideten mich um mein Leben. Doch dieses Gefühl in mir bekam immer mehr die Oberhand über mich. Es war die Leere, die mich mehr und mehr verschlang. Bis ich schließlich auf diesem Balkon stand.

Ich hatte dich oft beobachtet und mich gefragt, was du wohl für ein Mensch wärst. Konzentriert hattest du bis spät in die Nacht vor deiner Staffelei gestanden und an deinen Bildern gearbeitet. Im Gegensatz zu meiner Wohnung machte deine immer einen etwas chaotischen Eindruck auf mich. Wie gern hatte ich dir an manch einsamen Abend von meinem Balkon aus beim Malen zugesehen. Ich kannte dich nicht und du kanntest mich nicht. Du wohntest auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wenn mein Blick zu dir fiel, dann hatte ich das Gefühl, dich zu kennen und wenigstens für kurze Zeit nicht mehr so allein zu sein.

Und dann kam dieser Abend vor über drei Jahren. Es war so, wie es schon oft gewesen war. Und doch war es so anders. Ich hatte keinen Blick mehr für Sacré-Cœur, nicht für die Menschen dort unten in den Cafés und Bars und nicht für dich. Ich starrte auf die Straße unter mir. Eine leichte Brise wehte und ich war bereit, das Alles zu beenden. Die Leere hatte mich eingehüllt und gefangen. Ich hatte bereits die Brüstung des Balkons überwunden. Nur meine Angst hielt mich noch zurück. Und schließlich das Klingeln an der Tür, das meine Leere durchbrach.

„Tu´s nicht“, hast du mich angeschrien. Das waren deine ersten Worte an mich, als ich dir die Tür geöffnet hatte. Danach nahmst du mich in den Arm, obwohl wir uns eigentlich gar nicht kannten. Du brachtest mir ein Glas Wasser und wir setzten uns schweigend auf mein Canapé. Ich legte meinen Kopf auf deinen Schoß und schaltete den Fernseher an, als wäre es das Normalste auf der Welt. Simon & Garfunkel spielten ihr Konzert im Central Park. Die Musik beruhigte mich. Das letzte Lied, an das ich mich erinnern konnte, bevor ich einschlief, war „bridge over troubled water“. Und genau das warst du für mich an diesem Abend. Wie eine Brücke über unruhiges Wasser. Du bliebst bis zum nächsten Morgen.

Ich glaube, du hattest nicht so recht mit mir gerechnet und ich auch nicht so recht mit dir. Und ich bin dir zu tiefst dankbar, dass du mich aus dieser Leere befreit hast. Du hast mich zurückgeholt in ruhige Gewässer. Zurück zu mir und zu dem, was wirklich wichtig ist, fernab von dem, was diese Gesellschaft als Erfolg definiert. Nicht perfekt, aber echt.

Auch wenn du nie etwas drüber gesagt hattest, so spürte ich doch, dass unserer gemeinsame Zeit vorbei gehen würde.

„Ich brauche dich“, hatte ich zu dir gesagt.

„Du brauchst mich nicht. Menschen, die jemanden brauchen, sind nicht frei. Sie sind abhängig. Und das bist du nicht. Nicht mehr mein kleiner Papillon. Wer fliegen kann, braucht keine Brücken.“

Mit diesen Worten hast du mir meine Angst genommen.

Und nun stand ich wieder auf diesem Balkon. Sonntagnacht. Eine laue Julinacht, um genau zu sein. Unter mir saßen Menschen in den Cafés und Bars und unterhielten sich. Mal lauter, mal leiser. Die Lichter der Stadt gaben mir das Gefühl, nicht alleine zu sein. Wie ein Monument erstrahlte Sacré-Cœur über Montmartre. Die Hitze des Tages schwebte noch in den Gassen. Es war so, wie es schon oft gewesen war. Und doch war es heute so anders, denn es war das letzte Mal.

Nachher würde ich den Wohnungsschlüssel beim Hausmeister abgeben, der ihn an seine neuen Besitzer aushändigen würde. Und ich machte mich auf in mein neues Leben.

Auch wenn du mir gesagt hattest, wer fliegen kann, braucht keine Brücken, so gestatte mir doch, dass ich dich zwar nicht mehr brauche, um mich frei zu fühlen, dich aber dennoch einfach hin und wieder vermisse.

Impressum

Texte: Coco Eberhardt
Lektorat: Coco Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
CRY A RIVER. BUILD A BRIDGE. GET OVER IT.

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