„Hallo Konstantin, kannst du mal herunterkommen? Da wartet eine Frau auf dich. Ihr Mann hat sich heute Nacht erschossen."
Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte meine kleine Schwester bereits wieder aufgelegt. Ich lag in dem alten Schellack-Doppelbett, das immer noch in der kleinen Mansardenwohnung stand, die bis vor vier Jahren noch von Tante Fanny bewohnt worden war.
Tante Fanny. Eigentlich war sie gar nicht meine Tante, sondern meine Großtante, um genau zu sein, die Schwester meines Opas. Seit ich mich an sie erinnern konnte, hatte sie weißes Haar gehabt, das irgendwie etwas lila schimmerte. Ihre Frisur saß immer wie in der 3-Wetter-Taft-Werbung. Dazu trug sie meistens ein schwarzes Kostüm mit Rock, naturfarbene Gummistrümpfe und dunkle Absatzschuhe. Auch noch mit 96. Und genauso saß sie auf dem geblümten Sofa, als wir sie vor vier Jahren tot aufgefunden hatten. Auf dem Nierentischchen links von ihr stand noch ein halb voller Cognacschwenker mit Asbach Uralt und rechts von ihr hatte ihre wohl letzte Zigarette ein Loch in das Polster der Couch gebrannt. Wir konnten von Glück sprechen, dass der Glimmstängel keinen Zimmerbrand verursacht hatte. Der Arzt, der Tante Fannys Totenschau durchgeführt hatte, meinte, es war das Herz.
Herz. Das hatte sie zu Lebzeiten fürwahr nicht viel gezeigt. Sie wirkte oft kühl und berechnend und hatte gerne spitze, ja vielleicht sogar sarkastische Bemerkungen auf den Lippen. Nur wenigen war es bestimmt, ihre andere, warmherzige, liebevolle Seite zu Gesicht zu bekommen. Einer davon war ich. Wobei sie diese Seite auch mir gegenüber nur wohl dosiert eingesetzt hatte.
Tante Fanny war ledig. Von meinem Vater wusste ich, dass sie wohl mal einen Verlobten hatte, der allerdings niemals aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrt war. Seitdem hatte sie ihr Leben in den Dienst unseres Familienunternehmens gestellt:
Bestattungen Schwarz
Mit Tante Fannys Ableben hatte ich beschlossen, die elterliche Wohnung im 1. Obergeschoss unseres Mehrfamilienhauses mitten in München zu verlassen und stattdessen in das nun leerstehende Dachgeschoss zu ziehen. Mit Ende 20 war es damals dafür wohl auch nicht mehr zu früh.
Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ab hier für mich ein neuer Lebensabschnitt begonnen hätte, aber letztendlich hatte ich aus lauter Bequemlichkeit Tante Fannys Wohnung größtenteils so belassen. Ich glaube, ich war noch nie der Typ für große Veränderung. Und es war schon anstrengend genug, den großen Flachbildschirm, den ich mir gegönnt hatte, die drei Etagen durch das Treppenhaus zu wuchten. Letztendlich machte es auch keinen Unterschied, ob man in einem neuen oder einem alten Bettgestell schlief, wenn man eh an Einschlafstörungen litt. Der Gedanke, dass auch die bunten Mustertapeten an den Wänden der Wohnung mittlerweile schon wieder retro waren, ließ meinen Aktionismus nicht gerade erblühen. Also hatte ich lediglich meine überschaubaren Habseligkeiten unter die von Tante Fannys gemischt und war zufrieden, so wie es war.
„Beweg endlich dein fauln Orsch runter in die Sarghalle. Da wartet Kundschaft.“
Tante Fannys Stimme erklang mahnend in meinem Kopf. Seit sie tot war, meldete sie sich des Öfteren bei mir und ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es tatsächlich Tante Fanny aus dem Jenseits war oder nur mein Unterbewusstsein, das sich ihrer Stimme bemächtigt hatte. Und es war wohl besser, mit niemandem darüber zu sprechen. Ich war nicht gerade das, was man eine stabile Persönlichkeit nennen konnte. Mit meinen 32 Jahren hatte ich bereits überdurchschnittlich genug Erfahrung mit Psychiatern und dergleichen. Ich würde sogar behaupten, ich hatte mit dem Tod weniger Probleme, als mit dem Leben klarzukommen. Und das lag nicht nur daran, dass ich Bestatter war.
In aller Seelenruhe knöpfte ich mir das weiße Hemd zu und zog meinen schwarzen Anzug an. Es war Sonntag. Aber der Tod kannte keinen freien Tag. Ich drückte die „Stopp“-Taste des DVD-Rekorders, um Folge vier der fünften Staffel „Friends“ anzuhalten. Mit einem letzten Blick in den 60ger-Jahre-Spiegel, der in dem kleinen dunklen Hausflur hing, brachte ich mein braunes Haar in Form und zupfte die schwarze Krawatte zurecht, bevor ich schwungvoll die drei Stockwerke in die Sarghalle hinabeilte.
Meine Schwester hatte der Frau bereits eine Tasse Earl Grey zubereitet. Chrissy war neun Jahre jünger und irgendwie so ganz anders als ich. Sie arbeitet ebenfalls im Familienbetrieb mit, hatte sich aber nie von dieser etwas morbiden Atmosphäre hier anstecken lassen. Obwohl meine Mutter sie immer wieder mal darauf hinwies, dass es unangebracht sei, in unserem Beruf bunte Kleidung zu tragen, hatte sie das bisher nie wirklich beeindruckt. Sogar ihr Haar leuchtete farbig. Derzeit in mintgrün. Trotz alledem war sie beliebt bei der lebenden Kundschaft, da sie mit ihrer mitfühlenden, aber doch distanzwahrenden Art ein Erste-Hilfe-Auffangbecken für die Hinterbliebenen darstellte. Bei einer Tasse Tee oder Kaffee flossen die ach so wichtigen Tränen, die den Trauernden meist etwas Erleichterung verschafften. Chrissy hörte sich den Schmerz der Kunden gerne an, ohne ihn an sich heranzulassen. Ein mitfühlender Blick und ein Papiertaschentuch waren ihre Geheimwaffe. Ich wünschte mir manchmal, ich hätte ihre Gabe.
Und da saß sie an dem dunkeln Eichentisch in der Sarghalle, der extra für diese Art von Gesprächen vorgesehen war. Die Sarghalle, wie wir sie nannten, war unser Ausstellungsraum für Särge, Urnen und allerhand Zubehör rund um das Bestatten. Mit 24 war ich gezwungen gewesen, den Betrieb meines Vaters zu übernehmen. Plötzlich und unerwartet. Ich hatte seitdem nicht viel verändert hier. Außer, dass die Urnen jetzt in einem weißen Kallax-Regal aus dem Schwedenmöbelhaus präsentiert wurden. In diesem Raum war alles ein bisschen in die Jahre gekommen und machte einen etwas vergilbten Eindruck, der wohl nicht zuletzt auch Tante Fannys und meiner Nikotinsucht geschuldet war. Die gemusterte Tapete mit Raben und Rosen, die damals noch mein Vater an bestimmten Stellen anbringen ließ, löste sich bereits an manchen Ecken von der Wand ab. Doch unabhängig vom Zustand meiner Geschäftsräume hatte ich ein krisensicheres Geschäft. Sogar jetzt! Oder gerade besonders jetzt?!
Eigentlich hatten wir feste Öffnungszeiten, doch wenn es nötig war, waren wir selbstverständlich auch am Wochenende für unserer Kunden da. Routinemäßig wollte ich der Frau, die am Tisch saß, die Hand reichen. Ich zog sie jedoch gleich wieder zurück und das hatte zwei Gründe.
Erstens war es angesichts der derzeitigen Krisen- und Gefährdungslage unangebracht, sich die Hände zu schütteln. Und zweitens: Ich kannte diese Frau. Kurz hatte ich überlegt. Es müsste fast acht Jahre her gewesen sein, als wir uns begegnet waren. Sie dürfte jetzt so Mitte 40 sein. Ihre rotbraunen, schulterlangen Haare trug sie noch wie damals. Ihre grünen Augen blitzten mich an und brachten mich irgendwie in Verlegenheit.
„Grüne Augen Froschnatur, von der Liebe keine Spur“, unkte Tante Fannys Stimme in meinem Kopf.
Wie sollte ich mich jetzt verhalten? Professionell oder so, wie damals, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten? Konnte sie sich überhaupt noch an mich erinnern? War es Zufall, dass sie jetzt hier vor mir saß? Ich entschied mich kurzerhand für den professionellen Stil. Freundschaftlich konnte ich dann immer noch werden, sofern sie mich doch noch kannte. Es war schließlich schon lange her und unsere Begegnung dauerte nur eine begrenzte Zeitspanne.
„Grüß Gott, Frau Kalischek.“
Chrissy war so nett gewesen und hatte mir im Vorbeigehen den Namen der Frau zugeflüstert.
„Hallo, Herr Schwarz“, grüßte sie mich mit weinerlicher Stimme zurück. In diesem Moment war ich froh, die geschäftsmäßige Begrüßungsvariante gewählt zu haben, denn sie schien mich tatsächlich nicht mehr zu kennen.
„Mein aufrichtiges Beileid zum Tod Ihres Mannes.“
Nun gab es, wie so oft, kein Halten mehr und die Tränen der Witwe flossen in Strömen. Als hätte sie es geahnt, eilte auch schon kurz darauf meine Schwester mit einer Packung Papiertaschentücher herbei und legte, trotz aller Ge- und Verbote, die die Folgen der Corona-Krise waren, kurz ihre Hand auf die Schulter der Frau. In solchen Momenten wusste ich bis heute noch nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte. Mein Innerstes hätte gerne der Trauer nachgegeben, die dann auch immer in mir aufwallte. Aber wer wollte schon einen Bestatter, der mitweinte. Das war unprofessionell. Und so hatte ich über die Jahre gelernt, meine Gefühle in so einer Situation zu beherrschen. Vielleicht würde ich mich später, wenn ich alleine war, noch ein wenig dieser Melancholie hingeben.
„Heulsuse! Reiß di zamm!“, schimpfte mich Tante Fanny in meinem Kopf.
Flora, so wie der mir bekannte Vorname der Frau lautete, hatte sich langsam wieder etwas beruhigt. Mit meiner ruhigen, dunklen Stimme erklärte ich ihr, welche Entscheidungen nun in den nächsten Tagen getroffen werden mussten und wie ich sie dabei unterstützen würde. Es war jedes Mal wieder interessant zu beobachten, dass die Aussicht auf Bürokratie und Formalitäten den Trauernden irgendwie Halt gab in einer Zeit, wo alles auf den Kopf gestellt war.
Sichtlich erleichtert konnte ich Flora zwei Stunden später in das derzeit gespenstisch ruhige Stadtleben Münchens entlassen. Zum Abschied umarmte sie mich kurz, obwohl das derzeit nicht angebracht war wegen der herrschenden Pandemie. Ich roch ihr Parfum, das sofort wieder Erinnerungen an damals wachrief. Und die Erinnerung an die Zeit damals waren bei Gott nicht nur schön.
„Auf Wiedersehen, Herr Schwarz.“
„Auf Wiedersehen, Frau Kalischek.“
Behutsam schloss ich die schwere hölzerne Eingangstür der Sarghalle hinter ihr.
Es war drei Todesfälle später, quasi am Montag, eine Woche nachdem Flora bei mir im Bestattungsinstitut aufgetaucht war. Punkt halb acht Uhr morgens. Das Telefon klingelte, während ich gerade in meinem rosagekachelten Badezimmer mit mir selbst beschäftigt war. Es gab nun zwei Möglichkeiten. Erstens, das Telefon zu ignorieren und die Mission hier zu einem schnellen Ende zu bringen. Oder zweitens, die Mission abbrechen und ans Telefon zu gehen. Ich entschied mich für Variante eins und machte weiter. Ungefähr eine Minute lang, dann hörte ich meine Schwester die Treppe zu meiner Mansardenwohnung heraufkommen. Das Telefon klingelte immer noch.
„Konstantin! Konni!“, klopfte sie zielstrebig an meine Badezimmertür, die ich im Gegensatz zu meiner Wohnungstür glücklicherweise verschlossen hatte.
„Was?!“, murrte ich äußerst genervt.
„Das Institut für Rechtsmedizin.“
Das Telefon klingelte immer noch.
„Es ist dringend. Sie wollen nur mit dem Chef reden. Mama versucht dich schon die ganze Zeit zu erreichen. Ich nehme das Telefonat jetzt an und gebe es dir dann ins Bad. Okay?“
Bevor ich protestieren konnte, hörte ich bereits, wie Chrissy ans Telefon gegangen war.
In Windeseile legte ich mir ein Handtuch um meine Lenden, was jedoch eindeutig nicht kaschieren konnte, welcher Beschäftigung ich die letzten Minuten nachgegangen war.
„Moment, ich verbinde sie gleich mit dem Chef“, hörte ich meine Schwester zu dem Anrufer sagen, während sie das Mobilteil hörbar in meine Richtung trug.
Sie klopfte dreimal an die in die Jahre gekommene, eierschalenweiße Hochglanztür meines Badezimmers.
Vorsichtig öffnete ich sie einen Spalt.
„Herr Schwarz, Telefon für Sie“, grinste Chrissy mich an und bugsierte den Hörer durch die von mir geschaffene schmale Öffnung. Ich fühlte mich ertappt und peinlich berührt. Viel Zeit, mich diesen Gefühlen hinzugeben, hatte ich allerdings nicht.
„Grüß Gott, Herr Schwarz. Ich rufe Sie an im Fall Kalischek. Die Leiche kann nun überführt werden. Allerdings gibt es hier aufgrund der aktuellen Lage erhöhte Auflagen.“
„Aha. Und welche?“
Mein Handtuch war mir von der Hüfte gefallen und ich war froh, dass dies keine Video-Konferenz oder gar ein Bildtelefon war. Seitdem der Ministerpräsident in Bayern den Notstand ausgerufen hatte, war nichts mehr, wie es mal war. Und jeden Tag wurde die Bevölkerung mit neuen Verboten und Vorschriften konfrontiert.
„Sie müssen den Leichnam bis spätestens 8:30 Uhr bei uns im Institut abgeholt haben. Kommen Sie bitte alleine und mit Mundschutz. Einer unserer Mitarbeiter wird Ihnen zur Seite stehen, falls Sie Hilfe benötigen.“
„Aha. Okay.“
„Dann wäre ja soweit alles klar. Ich warte dann auf Sie. Mein Name ist Dr. Brinkmann.“
Dann legte Dr. Brinkmann auf.
Vor ein paar Wochen noch hätte ich mir wohl gedacht, ob ich hier bei Verstehen-Sie-Spaß bin. Aber zurzeit gab es nichts, was es nicht gab. Na ja, außer vielleicht Klopapier.
„Da brauchst dir jetzt keinen mehr von der Palme wedeln. Mit Berufsverkehr und so kannst gleich ins Institut fahren. Dann kommst vielleicht grad noch recht“, maßregelte mich Tante Fanny in meinem Kopf.
„Ja, ja, ich beeil mich ja schon“, antwortete ich ihr laut, während ich mein Gesicht kurz mit kaltem Wasser belebte.
Er war mir wirklich gelungen. Vor mir im Sarg lag Henning Kalischeks sterblicher Überrest. Einen verstorbenen Menschen würdevoll herzurichten, der sich wenige Tage zuvor noch das Hirn aus der Schale gepustete hatte, war die Königsdisziplin. Ich war froh, dass das nicht jeden Tag vorkam, denn es war bei Gott nichts für schwache Nerven. Und schwache Nerven hatte ich genug. Im Radio spielten sie „Satisfaction“ von den Stones. Auch ich war sehr zufrieden mit meiner Arbeit.
„Schön hast´n hinkriegt. Fast wie neu“, kommentierte Tante Fanny mein Tagwerk mit höhnischem Unterton.
„Nur schade, dass ihn wohl niemand mehr zu Gesicht bekommen würde“, antwortete ich meiner verstorbenen Großtante in Gedanken.
Flora Kalischek hatte mir gestern noch einen Anzug vorbeigebracht, den ihr Mann auf seiner letzten Reise ins Krematorium tragen sollte. Für einen Brioni-Anzug hatte er nicht gerade den besten Sitz. Vielleicht hatte er sich das gute Stück zu einer Zeit angeschafft, als es ihm nicht nur mental besser gegangen war. Irgendwie passte das Teil auch vom Stil her ganz und gar nicht zu ihm. Aber mir sollte das egal sein.
Henning Kalischek war kein besonders attraktiver Mann, so wie ich das beurteilen würde. Um die 50, dünnes Haar, der Kopf etwas eingefallen, was aber auch eventuell dran liegen konnte, dass er sich den Inhalt desselben herausgeschossen hatte. Mich schauderte bei dem Gedanken daran. Ich zündete mir als Belohnung für mein vollendetes Werk eine Zigarette an. In Kürze wäre er nur noch ein Häufchen Asche, der in eine handelsübliche Urne passen würde.
Ich hatte Flora gestern gefragt, ob sie ihren Mann nochmals sehen wolle, bevor er in den Ofen wandern würde. Sie verneinte. Die Erzählungen von Kalischeks Arbeitskollegin, die den Suizid entdeckt hatte, habe sie dazu bewogen, ihn nicht mehr sehen zu wollen. Sie wolle ihn lieber so in Erinnerung behalten, wie er war. Dabei waren ihr wieder Tränen in die Augen gestiegen. Am liebsten hätte ich mitgeweint. Nur deshalb, weil ich in jenem Augenblick ihren tiefen Schmerz spüren konnte. Und das, obwohl ich Henning Kalischek selbst gar nicht gekannt hatte.
Sie war eine Frau mit Klasse, selbst in dieser Situation. Vorschriftsmäßig, wie es sich gehörte, trug sie ein schwarzes Etuikleid. Nur ihr rotbraunes Haar brachte etwas Farbe in ihre Gestalt. Sie hatte zwar nicht die Figur eines 20-jährigen Topmodells, aber gegen wohlgeformte Weiblichkeit war ja auch nichts einzuwenden. Und obwohl ich wusste, dass sie bereits Mitte 40 war, wirkte sie auf mich höchstens wie Ende 30.
„Schlag dir die aus´m Kopf. Die is z´alt für di“, mahnte mich Tante Fanny, während ich meine Gedanken an Flora Kalischek umgehend wieder verwarf.
„Tschüss, Henning“, verabschiedete ich mich von dem Toten, der vor mir im Sarg lag und schloss, nachdem ich meine Zigarette ausgedrückt hatte, den Deckel.
In der Nacht vor Henning Kalischeks Beerdigung konnte ich mal wieder nicht schlafen. Zu viel und doch nichts ging mir im Kopf um. Baldriantropfen, eine Flasche Bier und binaural Beats hatten keine Wirkung gezeigt. Um 2:23 Uhr schluckte ich dann schließlich nach etlichen erfolglosen Versuchen, auf konventionelle Weise meinen persönlichen Shutdown zu erlangen, doch eine Schlaftablette.
Am nächsten Tag fühlte ich mich wie gerädert. Wie gerne hätte ich wieder zu diesen einen Tabletten gegriffen, die noch als Notration in meinem Erste-Hilfe-Kästchen schlummerten und mir rasch geholfen hätten, meinen Kreislauf in Schwung zu bringen.
„Na, Bub, loss des bleibn“, mahnte mich Tante Fanny.
Die Versuchung war an diesem Morgen so groß wie schon lange nicht mehr. Ich widerstand und probierte es stattdessen mit einem doppelten Espresso aus meiner Siebträgermaschine. Der half zumindest, um das Verlangen, wieder nach den Tabletten zu greifen, etwas zu zügeln. Nach einer kurzen Atemübung fühlte ich mich wenigstens fähig, meinen Job irgendwie hinzubekommen.
Henning Kalischek hatte seine Beerdigung bereits vor seinem Ableben minutiös selbst geplant. Den Ablauf hatte er an seinen Abschiedsbrief angeheftet. Da immer noch der Notstand ausgerufen war, durften Beerdigungen nur im kleinen Kreis abgehalten werden. Die Regeln waren von Friedhof zu Friedhof etwas unterschiedlich. Hennings letzter Wunsch war es, unter einer Eiche anonym beerdigt zu werden. Auf dem Waldfriedhof galt die Regel, dass ihn nur die engsten Familienangehörigen auf seiner letzten Reise begleiten durften. Und so begab es sich, dass wir zu sechst unter einer noch kahlen Eiche standen. Ein Pfarrer war nicht anwesend, da Kalischek keiner Religionsgemeinschaft angehört hatte. Also lag es an mir, diesen Akt würdevoll über die Bühne zu bringen. Das Wetter war traumhaft sonnig, doch als ich auf das Blatt mit dem Lebensverlauf von Henning Kalischek blickte, den ich gleich vortragen sollte, sah ich plötzlich doppelt. Ein Hauch von Panik stieg in mir auf.
„Reiß di zam“, schimpfte mich Tante Fanny.
Und tatsächlich schaffte ich es, mit etwas Konzentration, die Doppelschrift wieder zusammenzufügen.
„Liebe Trauergemeinde, wir sind heute hier versammelt, um Herrn Professor Henning Kalischek die letzte Ehre zu erweisen. Henning Kalischek wurde im Alter von 52 Jahren aus eigenem Willen, jedoch plötzlich und unerwartet für seine Familie, aus dem Leben gerissen. Als Professor für Virologie stellte er sein Leben in den Dienst der Wissenschaft. Er war ein angesehener Mann in seinem Fachgebiet. Vor elf Jahren ehelichte er seine Frau Florentina. Aus der Ehe sind die Zwillinge Tommy und Annika hervorgegangen. Er war ein herzensguter Vater und Ehemann, der trotz seiner beruflich bedingt knappen Freizeit auch immer versuchte, für seine Familie da zu sein. Was ihn dazu bewogen hat, vorzeitig aus diesem Leben zu scheiden, wird für uns, die wir hier an seinem Grabe stehen und trauern, für immer ein Rätsel bleiben.“
„Der werd scho Dreck am Stecken ghabt haben“, kommentierte Tante Fanny meine Trauerrede.
Nachdem das etwas schmucklose Prozedere der Beisetzung beendet war, löste sich die kleine Trauergemeinde, bestehend aus Flora, den Zwillingen, ihren Eltern und mir, rasch auf.
„Ich hätte Sie gerne noch auf den Leichenschmaus eingeladen, aber Sie wissen ja, die Wirtschaften sind alle geschlossen“, entschuldigte sie sich, während wir andächtig gehend den Platz des Geschehens verließen.
„Passt schon. Ich hätte Ihre Einladung auch so ausgeschlagen“, beschwichtigte ich sie.
„Wieso das?“, fragte sie etwas überrascht.
„Weil ich das immer so mache. Hat nix mit Ihnen zu tun, falls sie das angenommen haben sollten.“
„Ich meinte gar nichts. Wieso sollte das etwas mit mir zu tun haben?“
Wieder fühlte ich mich peinlich berührt und meine Gesamtkonstitution war nicht gerade die Beste an diesem Tag. Dieses Verhör konnte ich bloß verlieren.
„Wir sind uns schon mal begegnet“, brach es schließlich aus mir heraus.
Schweigen.
Unsicherheit, gepaart mit Schlafmangel, brachte mich beinahe ins Stolpern.
„Ich weiß, Konstantin“, antwortete sie fast nicht hörbar.
„War das der Grund, warum du mich gewählt hast?“
„Was meinst du damit?“
„Die Wahl des Bestatters. Ich habe den letzten Willen deines Mannes gelesen. Da stand nicht mein Bestattungsinstitut drauf. Warum hast du mich gewählt?“
Sie blieb mir eine Antwort schuldig.
Sieben Jahre und sieben Monate früher
Eigentlich war es ein ganz normaler Tag, wie jeder andere. Ein Donnerstag, um es genau zu sagen. Und doch war eigentlich schon lange gar nichts mehr normal. Doch das war mir bis zu diesem besagten Tag um 10:39 Uhr nicht so richtig bewusst.
Zwei Tage zuvor hatte ich beim Sarggroßhandel Deckengarnituren in blütenweiß bestellt. Und nun saß ich an meinem Eichenholzschreibtisch, in dem kleinen Büroraum neben der Sarghalle. Der Sarggroßhändler meines Vertrauens hatte mir eine E-Mail geschickt:
Sehr geehrter Herr Schwarz,
leider sind die von Ihnen bestellten Sarggarnituren in blütenweiß derzeit nicht lieferbar. Die Lieferzeit beläuft sich augenblicklich auf 2 bis 3 Wochen. Alternativ könnten wir Ihnen die gleichen Sarggarnituren in cremeweiß anbieten. Bitte teilen Sie uns mit, was Ihnen lieber wäre.
Mit freundlichen Grüßen
Meine Mutter saß mir gegenüber und sortierte die Belege für die Buchhaltung. Mit ihrem gaumelierten langen Haaren und der schlanken Figur hatte sie bereits damals eine gewisse Ähnlichkeit mit Lily Munster von den Munsters. Emsig lochte sie Blätter und heftete diese in dem roten Ordner ab, während ich, wie vom Schlag getroffen, regungslos auf meinem ledernen Bürostuhl saß.
„Ist was?“, fragte Mama nach einer kurzen Weile bei mir nach.
„Die Sarggarnitur gibt es nur noch in cremeweiß. Frau Hallmann wollte ihren Mann aber in einer blütenweißen Sarggarnitur bestatten lassen.“
„Meinst du, die sieht den Unterschied überhaupt. Die ist doch schon jenseits der 80. Und der Hallmann wird doch eh eingeäschert.“
„Nach 63 Jahren Ehe hat es Herr Hallmann verdient, in blütenweiß bestattet zu werden“, antwortete ich aufgelöst, als wäre eine Katastrophe über mich hereingebrochen. Und tatsächlich war sie das auch.
„Bist du da jetzt nicht ein bisschen pingelig?“, fragte meine Mutter beiläufig weiter.
Ich schwieg. Nach einer Weile
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: C. Eberhardt
Cover: C. Eberhardt
Lektorat: C. Eberhardt
Korrektorat: C. Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5088-8
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Beate, die mich zum Schreiben dieses Krimis inspiriert und mir bei der Verwirklichung mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat.
Für Gitty, für ihren "scharffen" Blick.