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April – Ich muss dir was sagen… Teil 1

Ich schlug die Augen auf und drehte mich auf die rechte Seite. Ich war noch etwas benommen. Mein Blick fiel auf die Palmen, den weißen Strand und das türkisblaue Meer. Mir war angenehm warm. Langsam zog ich mir die Bettdecke über die Schultern und starrte immer noch auf meine karibische Fototapete, die ich beim Einzug in diese Wohnung unbedingt haben musste.

Über ein Jahr wohnte ich jetzt bereits hier. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Mitten in Schwabing. Die Miete: für einen Schwaben viel zu teuer, für München erschwinglich. Die Zimmer: nicht zu groß, aber doch irgendwie geräumig. Vor allem, wenn ich bedachte, wie ich vorher gewohnt hatte.

Als junger Student war ich damals nach München gezogen in eine winzige Wohnung. Damals. Als es noch kein G8 gab und neun Jahre Gymnasium auch noch nicht G9 hießen. Und vor dem Studium hieß es erst mal Bundeswehr. In meinem Fall Zivildienst. Im Nachhinein eine ganz witzige Zeit. Immerhin hatte mich diese Erfahrung dazu bewogen, dass ich ein Medizinstudium begonnen hatte. Und wer weiß, wo ich heute wäre, wäre es nicht so gewesen.

Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte 6:38 Uhr an. Es war Samstag und ich fragte mich, wie lange ich noch ruhig und entspannt in meinem warmen, gemütlichen Bett liegen bleiben konnte. Vorsichtig drehte ich mich auf die linke Seite und robbte mich von hinten an sie heran. Ihr blondes, langes Haar lag lose auf dem Kopfkissen. Sie trug dieses weiße, enganliegende Unterhemd mit dem hübschen Spitzenbesatz, das sie zum Schlafen am liebsten an hatte. Bei mir waren es wie immer meine Boxershorts. Heute die Roten aus Baumwolle mit dem schottischen Tartanmuster.

Ich legte meinen rechten Arm über ihren Bauch und streichelte ihn behutsam. Ich roch an ihrem Haar, das sie immer mit diesem Henna-Shampoo aus dem Bioladen wusch. Ich atmete tief ein und bekam auch nach all der Zeit noch dieses Gefühl von Glück, wenn sie bei mir war. Etwas, das man nicht so richtig haben kann, schätzt man das anders? Nimmt man das anders wahr?

Manchmal würde ich gerne wissen, was das war, was wir da hatten. Eine Beziehung? Irgendwie ja schon. Aber nicht so, wie man es sich klassisch vorstellte. Wir hatten es bisher nie weiter definiert. Und all meine bisherigen Versuche, es herauszufinden, waren gescheitert. Ich denke, man könnte es als eine Mischung aus Beziehung und Verhältnis bezeichnen. Freundschaft Plus Plus Plus. Ich genoss es einfach und wollte lieber nicht weiter danach fragen. Ich wusste, sie war leicht zu verschrecken. Sie hasste Starre und Konvention. Und vielleicht war es genau das, was mich an ihr so faszinierte.

Ein Jahr und fast drei Monate war es jetzt her, dass mein Leben gründlich auf den Kopf gestellt worden war. Seitdem hatte sich dieses „Verhältnis“ nach und nach etabliert. Am Wochenende übernachtete sie bei mir. Und unter der Woche gab es mindestens eine Nacht, in der ich bei ihr schlief. Wie lange kannten wir uns jetzt schon? Lange. Sehr lange. Und nach all der Zeit hatte ich immer noch Gefühle für sie. Und ich denke, sie hatte auch welche für mich.

Langsam drehte sie sich zu mir. Schlaftrunken blickte sie mir in die Augen. Diese funkelnd grünen Augen hatten mich schon immer in ihren Bann gezogen.

„Morgen“, sagte ich zu ihr mit sanfter Stimme.

Sie lächelte, sagte nichts, atmete tief durch und schloss für einen kurzen Moment nochmals ihre Augen. Als sie sie wieder öffnete, war ihr Lächeln verschwunden. Sie blickte tief in mich.

„Ich muss dir was sagen…“

 

Herbst vor zwei Jahren – Ich muss dir was sagen… Teil 1

„Ich muss dir was sagen…“

Diese Worte hatte sie schon einmal zu mir gesagt. Ich konnte mich noch genau daran erinnern.

Es war im vorletzten Jahr. Meine Schwester Bettina war gerade mit ihrem neuen Freund zusammengezogen und die beiden veranstalteten eine Halloweenparty, die eigentlich eine Einweihungsparty war. Witzigerweise kannte ich Christoph schon länger, als sie ihn kannte, was mich auch irgendwie beruhigte, denn er war ein bodenständiger Kerl. Er war Schreiner und kam ursprünglich aus dem Allgäu. Den einzigen Tick, den er hatte, war der, dass er, egal zu welcher Jahreszeit und zu welchem Anlass, immer eine Lederhose trug. Nicht diese 0/8/15-Lederhosen, die man auf dem Oktoberfest so oft zu sehen bekam. Sie war traditionell und auch irgendwie alltagstauglich. Schwer zu beschreiben. Für den Sommer hatte er eine Kürzere und für die kalten Tage eine Lange. Ich fragte mich schon lange, ob es immer die gleiche Hose war oder ob er verschiedene besaß, die alle gleich aussahen. Aber es passte irgendwie zu ihm. Und er passte zu Bettina. Ich war froh, sie endlich wieder glücklich zu sehen.

Die gemeinsame Wohnung von Bettina, Christoph und Tom befand sich direkt gegenüber meiner Wohnung. Damals allerdings noch nicht. Damals lebte ich noch in meinem kleinen Ein-Zimmer-Studenten-Apartment. Obwohl ich bereits 34 war und einen guten Job in einer Steuerkanzlei hatte, sah ich keinen Anlass, irgendetwas an meiner Wohnsituation zu ändern.

Und wie gesagt, dann war da diese besagte Halloweenparty. Ich fand es zwar ein bisschen albern, mich außerhalb von Fasching zu verkleiden. Aber letztendlich hatte ich mir dann doch einen Haarreif, auf dem eine Plastiksäge mit aufgemaltem Blut gesteckt war, besorgt und aufgezogen. Ich wollte schließlich kein Spaßverderber sein.

Sie trug eine orangefarbene Seidenstrumpfhose und darüber dieses unförmige Kostüm in Form eines Kürbisses. Seit sie wieder in München war, war sie irgendwie anders. Vor allem zu mir. So kam es mir zumindest vor. Wir waren schon seit Jahren kein Paar mehr. Trotzdem verstanden wir uns gut. Doch seit sie zurück war, war es irgendwie komisch.

Wie lange war sie weg gewesen? Es dürften fast fünf Monate gewesen sein. Aus Thailand und Schweden hatte sie auf altmodische Weise Postkarten geschickt. Ich hatte ihre freiheitsliebende Art und ihre Unabhängigkeit immer bewundert. Ich wusste nicht, ob ich für so ein unstetes Leben gemacht wäre. Aber sie brauchte es. Wie ein Junkie sein Kokain.

Mit einem Bier in der Hand und dieser albernen Säge auf dem Kopf stand ich also in der mit unzähligen Menschen vollgestopften Wohnung. Es war laut und stickig. Zielsicher kam sie geradewegs auf mich zu.

„Ich muss dir was sagen…“

Keine Begrüßung. Kein Small Talk. Kein Lächeln.

Wortlos quetschten wir uns zwischen den Partygästen durch, bis wir schließlich die Wohnungstür erreicht hatten und uns ins Treppenhaus retteten. Aus der Wohnung drang immer noch ein gewisser Geräuschpegel zu uns, allerdings wesentlich gedämpfter. Sie setzte sich auf die unterste Stufe der Treppe, die ins nächste Stockwerk führte. Ich setzte mich wortlos neben sie. Eines war mir klar, übers Wetter wollte sie definitiv nicht reden. Sie hatte immer noch diesen ernsten Blick, den sie nur selten hatte. Ich hatte ein bisschen Angst vor dem, was sie mir zu sagen hatte. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich eh schon in einem emotionalen Ausnahmezustand. Ich wollte es eigentlich gar nicht wissen. Aber hätte das etwas an den Tatsachen geändert?

 

Herbst vor zwei Jahren - Komisch

Dass Patrizia anders war als sonst, war nicht nur mir aufgefallen. Schon zwei Wochen vor der Halloweenparty führten Tom, Christoph und ich eine rege Diskussion darüber.

Wir saßen im Pap, das kein Pub war, sondern ein Café. Café Papilotta. Das Pap befand sich quasi an der Straßenecke, unterhalb von Christophs Wohnung. Durch eine große Glastür, hinter der dicke, samtige, bordeauxfarbene Vorhänge hingen, die als Windfang dienten, betrat man den offenen, lichtdurchfluteten Gastraum. Im hinteren Teil gab es ein hölzernes Bodenpodest, das teilweise mit einem nostalgischen Geländer eingefasst war. Dort stand ein großes, gemütlich wirkendes, schwarzes Ledersofa, aufgepeppt mit bunten Kissen und einem kleinen Tisch davor. Unser Stammsofa, sofern nicht gerade jemand anders dort saß. Das Pap war wie unser zweites Wohnzimmer.

Tom war Christophs bester Freund und gleichzeitig sein langjähriger Mitbewohner. Schon seit ich die beiden kannte, lebten sie zusammen in der Wohnung, in der früher Christophs Opa gelebt hatte.

Tom war ein schräger Vogel. Er trug eine runde Brille, langes Haar und sein Kleidungsstil hätte gut nach Woodstock gepasst. Im Sommer lief er oft barfuß herum. Alles in allem sah er mit etwas Fantasie aus wie John Lennon. Was er offensichtlich auch selbst festgestellt hatte. Denn in letzter Zeit stellte er sich den Leuten oft nur noch als „John“ vor. Er selbst bezeichnete sich als Künstler. Lebenskünstler hätte es wohl besser beschrieben. Und am liebsten hörte er sich selbst beim Reden zu. Er konnte manchmal unglaublich nerven, trotzdem war er schwer in Ordnung.

Und da saßen wir drei nun. Im Pap. John auf dem Sofa. Christoph und ich auf Stühlen. Vor uns auf dem kleinen Tisch standen drei Flaschen Bier.

„Dass sie komisch ist, seit sie wieder da ist, ist mir auch schon aufgefallen. Und ich habe recherchiert…“, gab Tom seinen Kommentar dazu.

„Ich denke, dass es die Sache mit Mia ist. Sie tut immer so locker, aber letztendlich stört es sie doch irgendwie“, unterbrach ich Toms Redefluss, der, so wie ich ihn kannte, sicher in einer wilden Verschwörungstheorie geendet hätte.

„Ihr seid seit Jahren kein Paar mehr. Wieso sollte sie das mit Mia stören?“, warf Christoph ein.

„Weil Mia viel jünger ist als sie. Das kann schon kränkend sein für eine Frau in ihrem Alter“, führte ich meine Überlegungen weiter aus.

„Sie ist 32.“

„Mia ist 19.“

„Na, gut. Aber trotzdem. Sie ist nicht der Typ, der sich so was zu Herzen nimmt.“

Mia... An diese Episode dachte ich echt ungern zurück. Mia war eine Kollegin. Und im Sommer, als Patrizia noch in Schweden war, hatte ich mit ihr ein kurzes, na ja, nennen wir es Abenteuer, das mit viel Herzschmerz meinerseits geendet hatte.

„Vielleicht hat sie aber auch etwas von der einen Sache erfahren“, gab ich verlegen zu bedenken.

„Die Sache, über die wir nicht reden dürfen?“, fragte Christoph vorsichtig nach.

„Ja, genau die…“

„Alles Quatsch“, versuchte sich Tom wieder ins Gespräch zu bringen.

„Wieso?“

„Das will ich euch doch schon die ganze Zeit erklären…“

„Dann schieß los.“

„Also…“

Es folgte eine theatralische Pause, die irgendwie so typisch war für Tom.

„… sie ist schwanger.“

Einen kurzen Moment saßen Christoph und ich sprachlos auf dem Sofa. Ich nahm einen Schluck Bier und versuchte diesen abwegigen Gedanken zuzulassen.

„So ein Blödsinn“, kommentierte ich schließlich Toms These.

Christoph hielt geistesabwesend seine Bierflasche in der Hand und schien ebenfalls Toms Überlegungen auf Plausibilität zu überprüfen.

„So blödsinnig ist das gar nicht“, meinte er schließlich und sein Blick schweifte immer noch im luftleeren Raum.

„Sag ich doch“, fühlte sich Tom bestätigt.

„Sie hat ein bisschen zugenommen“, versuchte Christoph Fakten zu sammeln.

„Wäre mir nicht aufgefallen“, log ich.

Sie war vielleicht ein bisschen runder als sonst. Das war mir auch schon aufgefallen. Aber nicht schlimm. Sie sah gut aus wie immer. Aber doch nicht schwanger.

„Und sie trägt immer so weite Klamotten“, legte Tom nach.

„Das machst du doch auch, Tom“.

Ich deutete mit meiner Bierflasche in seine Richtung.

„Und wann hat sie zum letzten Mal Bier getrunken?“

Ich konnte mich nicht erinnern. Sie trank in letzter Zeit immer dieses komische Zitrone-Minze-Gurken-Getränk, das noch als Sommer-Spezial-Überbleibsel auf der Karte im Pap stand.

„Ich habe im Internet recherchiert. Sie müsste so im vierten Monat sein“, führte Tom seine Theorie zu Ende.

„Im vierten Monat? So was weiß das Internet?“

Ich schaute ungläubig, doch Tom nickte aus voller Überzeugung.

„Dann wäre der Vater von dem Kind ja ein Schwede?“, meinte ich und merkte, dass mir dieser Gedanke überhaupt nicht gefiel.

„Oder ein Thailänder“, gab Tom zu bedenken.

„Oder sonst wer“, ergänzte Christoph. „In Thailand gibt´s ja nicht nur Thailänder und in Schweden nicht nur Schweden.“

Schweigend zupfte ich am Etikett meiner Flasche, bevor ich versuchte, mein Unbehagen mit einem kräftigen Schluck Bier zu betäuben.

„Du wirst doch mittlerweile über sie hinweg sein?“

Tom schaute mich prüfend an.

Klar war ich das. Was für eine dämliche Frage. Und trotzdem bereitete mir der Gedanke daran ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Ich leerte den Rest der Bierflasche in einem Zug.

 

Herbst vor zwei Jahren – Ich muss dir was sagen… Teil 2

Und da saßen wir nun auf der Treppe. Die Halloweenparty war in vollem Gange.

„Ich muss dir was sagen…“, wiederholte sie ihre Worte.

Mein Magen zog sich zusammen und meine Hände waren kalt. Die Tür zur Wohnung ging auf. Lärm drang ungefiltert zu uns ins Treppenhaus. Ein nicht mehr ganz nüchterner Mann in einem Vampirkostüm stolperte heraus.

„Servus“, verabschiedete er sich von uns.

Ich kannte ihn nicht, hob aber trotzdem kurz die Hand und nickte ihm zu. Bedrohlich schwankte er die Treppe hinunter.

Wir waren wieder allein. Irgendwie wusste ich ja, was jetzt kommen würde und trotzdem machte es mir Angst. Nach dem Gespräch im Pap mit den Jungs, zwei Wochen vorher, hatte ich mir tagelang genau diese Szene im Kopf durchgespielt. Ich wollte cool wirken. Als ob es mir nichts ausmachen würde. Ich hatte schon genug eigene Probleme am Hals. Ich wollte nicht auch noch hier eine schlechte Figur abgeben. Und trotzdem war ich überrascht, als sie es endlich sagte.

„Ich bin schwanger“, gestand sie mir mit leiser Stimme.

Sie wirkte nervös und etwas unsicher, was sie selten war. Und obwohl ich dieses Szenario bereits tausend Mal in meinem Kopf geprobt hatte, traf es mich mit voller Wucht. Ich musste schlucken. Es brauchte ein paar Sekunden, bis ich etwas sagen konnte. In meinem Kopf hatte sich ein Vakuum gebildet. Es war jetzt real und es war ein Schock.

„Wow“, brachte ich schließlich heraus. „Hätte gar nicht gedacht, dass du so ein Familienmensch bist. Kinder! Wow! An so was denk ich noch gar nicht.“

In Wahrheit dachte ich schon länger an nichts anderes. Sie schaute mich skeptisch an, als könnte sie in mich hineinsehen. Ich hoffte, meine Unsicherheit gut überspielt zu haben.

„Wann sehen wir dann den alten Schweden mal?“, setzte ich diese skurrile Unterhaltung fort.

Meine Absicht war zwar besonders cool zu wirken, aber ich glaube, das Gegenteil war der Fall.

„Schwede?“

Sie schaute mich fragend an.

„Oder Thailänder…“

„Thailänder?“

„Oder sonst wer. Gibt ja in Schweden nicht nur Schweden und in Thailand nicht nur Thailänder“, erinnerte ich mich an die Worte, die Christoph neulich im Pap gesagt hatte.

„Was redest du denn da?“

Sie schaute mich verwundert an.

Ja, was redete ich denn da eigentlich. Ich war völlig überfordert mit dieser Situation. Ich nahm einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche, die ich fest umklammert in meinen kalten Händen hielt. Trotzdem war das Bier mittlerweile ziemlich lack.

„Na, ich meine, ich will damit bloß sagen, ich habe damit kein Problem, dass du schwanger bist.“

Sie schaute mich mit großen Augen an. Diese großen grünen Augen, in denen man versinken konnte. Sie sagte weiterhin nichts, was mich allerdings dazu animierte, diese unangenehme Stille, egal wie zu durchbrechen. Und so sprudelte es weiter aus mir heraus.

„Wer ist denn der Vater? Hast du jemand kennengelernt? Hast du einen Freund? Ich habe die letzte Zeit schon bemerkt, dass irgendwas anders ist zwischen uns. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich komm damit schon klar. Das mit uns ist ja schon so lange her. Over and Out. Vorbei. Finito.“

Kurzes Schweigen.

„Ich hab´s dem werdenden Vater noch nicht gesagt“, gestand sie mir etwas kleinlaut.

„Der Arme weiß noch nichts? Soll ich dir dabei helfen, es ihm beizubringen?“

„Ich versuch´s ihm ja schon die ganze Zeit zu sagen.“

„Und warum hat´s noch nicht geklappt?“

Sie zuckte mit den Schultern und schaute ins Leere.

„Ich glaube, er ist etwas begriffsstutzig.“

„Ist er aus München? Kenn ich ihn?“

Sie nickte und mir wurde heiß und kalt. Eine ganze Weile saßen wir wieder schweigend auf der Treppe.

„Er ist hier.“

„Hier auf der Party? Wer?“

Sie nickte wieder und schaute mir in die Augen.

„Er sitzt neben mir.“

Wie jetzt? Sie meinte doch nicht etwa… Mich?!?!?! Wieder bildete sich dieses Vakuum in meinem Kopf. Das war doch nicht möglich. Wollte sie mich auf den Arm nehmen?

„Wie soll das gehen? Das geht doch gar nicht“, stammelte ich vor mich hin.

Sie sagte wieder nichts.

„Ich meine… Ich war da doch gar nicht dabei. Vor vier Monaten warst du doch in Schweden oder Thailand.“

„Wer sagt denn, dass es vor vier Monaten passiert ist?“

Irritiert schaute sie mich an.

Ich dachte an Toms Theorie im Pap und seine Internetrecherche. Er war felsenfest davon überzeugt, dass es so war, wie er behauptete. Und ich Trottel hatte es unvoreingenommen geglaubt. In diesem Moment ärgerte ich mich so sehr über Tom und über mich selbst, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie sie aufgestanden und verschwunden war.

Eine Weile blieb ich noch auf der Treppe sitzen. Das musste ich erst mal sacken lassen. Wie auf Droge wankte ich schließlich wieder auf die Halloweenparty zurück und versuchte meine Gefühlsachterbahn in Alkohol zu ertränken.

Am nächsten Morgen wachte ich in einem Schlafsack auf einer Isomatte im Schlafzimmer meiner Schwester auf. Ich hatte einen Filmriss, mein Schädel brummte zum Zerreißen und meine Probleme waren leider immer noch da. Mir war so elend. Ich wollte nie wieder aufstehen.

 

Frühling vor zwei Jahren - Keine Abschiedsszene

Ich konnte mich noch gut an die Nacht erinnern, als es passiert war. Es war der Abend vor sie wieder mal wegging. Thailand. Es machte mich immer wehmütig, wenn sie wegging, denn es bedeutete immer auch, dass ich sie lange nicht sehen würde. Und meistens wusste nicht mal sie selbst, wann sie wieder zurück sein würde.

Wir hatten uns alle noch mal im Pap getroffen. Tom, Mandy, Patrizia und ich. Christoph musste noch arbeiten. Wir saßen, wie so oft, um den kleinen Tisch vor dem gemütlichen Ledersofa. Mandy war schon seit einigen Jahren Patrizias Mitbewohnerin in der WG schräg über dem Pap. Sie war groß, fast so groß wie ich. Und schlank. Ihre braunen, langen Locken ließen sie mädchenhaft wirken. Sie trug wieder mal ein viel zu kurzes Kleid, das ihre Beine noch länger erscheinen ließ. Aber sie konnte es tragen.

Ich weiß nicht mehr, über was wir alles geredet hatten, aber schließlich war es schon nach 22 Uhr. Die Zeit war wie im Flug vergangen und der unvermeidliche Abschied rückte zum Greifen nahe. Patrizias Flug würde morgen früh zu einer ziemlich unchristlichen Zeit starten. Auf einmal herrschte Aufbruchsstimmung. Sie umarmte Tom, danach Mandy.

„Könntest du mir noch einen Artikel gegenlesen?“, fragte sie mich, ohne mich zu umarmen.

„Klar“, antwortete ich kurz.

Patrizia hatte vor ein paar Jahren quasi zeitgleich mit mir ihr Medizinstudium geschmissen. Seitdem schreib sie regelmäßig Artikel für irgendwelche Online-Magazine oder ihren Blog, der mittlerweile ziemlich erfolgreich war. Vor sie ihre Artikel an die Redaktion schickte, durfte ich sie immer noch gegenlesen. Es gab nie viel zu korrigieren. Meist nur Kleinigkeiten. Trotzdem schickte sie die Artikel erst los, wenn ich sie gelesen hatte. Also ging ich mit ihr hoch in ihr WG-Zimmer. Die WG lag in einem Altbaugebäude. Ohne Eile folgte ich ihr die steinernen Treppenstufen in den 2. Stock hinauf.

Die Wohnung von Mandy und Patrizia war merkwürdig verbaut und ich fragte mich immer wieder, wie man so leben konnte. Patrizias Zimmer lag zum Hinterhof. Es hatte einen kleinen Balkon und entsprach einem typischen Altbauzimmer mit hohen Wänden und Stuck an der Decke. Ihre Einrichtung war überwiegend vom Flohmarkt. Aber es passte zu ihr und es war ziemlich gemütlich. Unter dem Fenster neben der Balkontüre stand ein eichenhölzener Schreibtisch und darauf ihr kleiner Laptop. Sie drückte auf den Einschaltknopf und fuhr ihn hoch. Ihr Reisegepäck stand schon neben der Zimmertür. Wehmut kam wieder in mir auf.

Mit ein paar Klicks hatte sie den Artikel geöffnet. Ich setzte mich auf den Drehhocker ohne Lehne und begann ihn zu lesen. Er war gut geschrieben. Bissig, aber niemals beleidigend und doch sachlich und informativ. Ich hatte nichts auszusetzen.

„Gefällt mir gut“, gab ich mein Abschlussurteil.

„Kann weg?“, fragte sie noch mal nach.

Ich nickte. Sie beugte sich über mich, um an die Maus des Laptops zu gelangen und drückte auf „senden“.

„Also gut…“, sagte ich, erhob mich vom Hocker und war im Begriff zu gehen.

„Willst du noch ein Glas Wein“, fragte sie unverblümt.

„Ein Glas Wein ist okay. Aber danach bitte keine Abschiedsszene.“

Sie lächelte. Wir kannten uns einfach zu gut. Danach verschwand sie über die Tür, die ins Treppenhaus führte, um in der Küche Gläser und Wein zu holen. Ich könnte so echt nicht leben. Die WG bestand aus zwei Zimmern, Küche, Bad. Die Zimmer von Mandy und Patrizia und die Küche hatten jeweils eine Türe, die direkt ins Treppenhaus führte. Außerdem führte eine Tür von Patrizias Zimmer in Mandys Zimmer und von Mandys Zimmer in die kleine Essküche und von dort weiter ins Badezimmer. Da es schon spät war und Mandy wahrscheinlich schon schlief, musste Patrizia nun über das Treppenhaus in die Küche. Ich hatte schon oft genug bei ihr übernachtet, um zu wissen, dass das echt bescheuert war. Vor allem, weil Mandys Tür nachts oft verschlossen war. Sie führte ein abwechslungsreiches „Nachtleben“ und es war keine Seltenheit, dass morgens fremde Typen in der kleinen WG-Küche Kaffee kochten.

Mit zwei langstieligen Weingläsern und einer Flasche Bordeaux stand Patrizia schließlich wieder vor mir im Zimmer. Ich hatte derweil meine Schuhe ausgezogen und mich bequem im Schneidersitz auf ihr großes Futonbett gesetzt. Sie stellte die Gläser auf das kleine Holztischchen und schenkte ein.

„Prost.“

„Prost.“

Die Gläser klirrten. Sie setzte sich neben mich und wir redeten. Ich weiß nicht mehr über was, aber es war schön mit ihr und ich vergaß völlig, dass es schon ziemlich spät war. Ein Blick auf ihren Wecker sagte mir, dass es höchste Zeit war zu gehen.

„Ich muss jetzt schlafen. Muss morgen verdammt früh raus“, meinte sie dann plötzlich, als könne sie meine Gedanken lesen.

Es war schon weit nach Mitternacht und auch ich musste morgen wieder arbeiten. Die Flasche Wein war leer. Ich robbte mich aus ihrem Bett und zog bedächtig meine Schuhe an.

„Aber keine Abschiedsszene“, betonte ich noch mal.

„Eine Umarmung wird aber wohl noch drin sein, Markus.“

Sie zwinkerte mir zu, dann legte sie ihre Arme um meinen Hals und ich umfasste sie an der Taille. Mein Gesicht tauchte in ihr Haar, das wieder so vertraut nach diesem Henna-Shampoo aus dem Bioladen roch. Dann blickte ich in ihre grünen Augen. Keiner von uns sagte etwas. Und ehe ich mich versah, küssten wir uns.

Bis heute konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, von wem das Ganze ausging. Ich glaube, wir wollten es beide. Und es war ja auch nicht das erste Mal.

Am nächsten Morgen wachte ich auf. In ihrem Bett. Nackt. Alleine. Immer noch müde. Ihr Gepäck war weg und sie war es auch. Wehmütig betrachtete ich das viel zu vertraute Stuckmuster an der Decke.

Doch es half nichts. Ich zog mich an und räumte Patrizias Zimmer provisorisch auf. In ein paar Stunden würde meine Schwester hier einziehen. Wie immer, wenn sie weg war, vermietete Patrizia ihr Zimmer kurzfristig unter. Ich hatte mir gedacht, Bettina täte ein Ortswechsel vielleicht gut. Schon länger hatte ich das Gefühl, dass Berlin nicht mehr das war, was sie brauchte. Und als ich vorschlug, ob sie nicht kommen möchte, hatte sie ohne großes Zögern zugesagt. Ich freute mich auf sie.

Dann ging ich ins Büro.

 

April – Ich muss dir was sagen… Teil 2

„Ich muss dir was sagen…“

Diese Worte standen immer noch im Raum, während wir im Bett lagen und sie mich mit ihren grünen Augen anschaute. Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Marta war inzwischen aufgewacht. Sie lag noch ruhig in ihrem Gitterbett und spielte mit ihrem Schafschmusetuch.

„Genau genommen sind es zwei Sachen, die ich dir zu sagen habe…“

Langsam tastete sie sich vor.

„Eine gute Sache. Die andere Sache ist vielleicht nicht so gut. Aber schlecht ist sie eigentlich auch nicht. Welche willst du zuerst wissen?“

Ich überlegte kurz.

„Erst die Gute.“

Erst die Gute, dachte ich mir. Obwohl die meisten Menschen wohl die Schlechte zuerst wissen wollten, entschied ich mich anders. So konnte ich vielleicht anhand der guten Nachricht ableiten, was sie unter „nicht so gut“ verstand. Marta brabbelte zufrieden vor sich hin.

„Also…“, sie fixierte mich immer noch mit ihrem Blick. „Mein Vater hat uns am 14. Mai zu seiner Gartenparty eingeladen.“

Ich schaute etwas skeptisch.

„Ich wollte die Gute zuerst wissen.“

„Das ist die Gute“, protestierte sie mit beleidigtem Unterton.

Wenn das die gute Nachricht sein sollte, wusste ich nicht, ob ich die andere wissen wollte.

Patrizias Vater war Arzt und leitete eine Privatklinik am Starnberger See. Eigentlich wäre er schon im Rentenalter, aber er dachte noch nicht ans Aufhören. Nicht weit weg vom See wohnte er mit Patrizias Mutter in einem riesengroßen Gutshof. Die Familie gehörte einem alten Landadelsgeschlecht an. Während ihr das nie wichtig gewesen war, legte ihr Vater umso mehr Wert auf seine Herkunft. Patrizia war die Jüngste von fünf Geschwistern und hätte eigentlich in die Fußstapfen ihres Vaters treten sollen. Doch sie hasste Konventionen. Nach dem Physikum schmiss sie das Medizinstudium und lebte seitdem ihr Leben nach ihren Vorstellungen. Und die entsprachen so ganz und gar nicht dem, was man als „normal“ bezeichnen würde. Und ihr Vater war nicht gerade begeistert davon. Doch er hatte sich mittlerweile damit abgefunden. Da ich zeitgleich mit Patrizia mein Medizinstudium abgebrochen hatte, gab er insgeheim mir die Schuld daran, dass seine Tochter heute keine Ärztin war und dieses „Lotterleben“ führte. Er hatte zwar nie so direkt darüber gesprochen, allerdings verstand ich die spitzen Seitenhiebe und versteckten Andeutungen sehr gut, die ich hin und wieder von ihm einstecken hatte müssen. Und dort sollte ich nun eingeladen sein und mich auch noch darauf freuen?

„Ach komm“, meinte Patrizia, die wohl meine Gedanken gelesen hatte. „Das wird bestimmt schön. Ein bisschen raus aus der Stadt. Mal was anderes sehen als immer nur München. Noch mal ein schönes, entspanntes Wochenende erleben. Wir müssen ja nicht immer vor meine Familie hinsitzen. Da können wir so viel machen.“

Ich stutze.

„Wie? Was meinst du mit „noch mal“?

„Hä, was?“

„Du hast gesagt: „Noch mal“ ein schönes Wochenende erleben. Das klang irgendwie komisch. Was meinst du damit. Wir haben doch schöne Wochenenden.“

Eine ganze Weile schwieg sie. Ihr Blick war Ernst.

„Na ja, ich glaube, ich sollte dir da noch die andere Sache sagen…“

 

14. Mai – Auf dem Weg zur Gartenparty

Den KA hatte ich bereits auf der Straße vor dem Haus geparkt. Manchmal fragte ich mich selbst, warum ich mir in München eigentlich noch dieses Auto unterhielt. Es kostete nicht wenig an Versicherung und Steuer. Und ich brauchte dafür einen Stellplatz, den ich mir jeden Monat einiges kosten ließ und dessen Jahresmiete wahrscheinlich den Wert meines Vehikels weit überstieg. Außerdem nutzte ich innerhalb der Stadt eh ausschließlich die öffentlichen Verkehrsmittel. Ich glaube, es war ein Stück Luxus, ein Stück Unabhängigkeit, das ich mir einfach leisten wollte. Und an einem Tag wie heute wusste ich zumindest wieder, warum.

Patrizia stand bereits vor dem Auto und hielt Marta auf dem Arm. Unser Gepäck stand vor ihr. Der KA musste noch händisch aufgesperrt werden. Ein Blick in den Kofferraum machte mich skeptisch, ob wir hier alles unterbringen würden, was wir mitnehmen wollten. Mit Kind zu verreisen war eine logistische Herausforderung. Ich versuchte die Taschen platzsparend einzuladen. Beim zweiten Mal zuschlagen, blieb der Kofferraumdeckel dann zum Glück auch zu. Ich öffnete die Türe von meinem kleinen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: C. Eberhardt
Cover: C. Eberhardt
Lektorat: C. Eberhardt
Korrektorat: C. Eberhardt
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2020
ISBN: 978-3-7487-6237-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Vertraue auf deine Stärken.

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