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Teil 1

 

September 2008, allgemeines Krankenhaus, Hamburg

 

 

Er trug sie hinein. Eine schlaffe, blutende Puppe. Sie war in seiner Gewalt. Bewusstlos, verletzt, kaputt gespielt. Noch war sie nicht tot…

 

 

Weiße Wände, gedämpftes Licht, nerviges Piepsen. Wo war ich hier gelandet?

Über mir hing ein grauer Haltegriff an einer gelb gestrichenen Stange. Wenigstens etwas Farbe. Automatisch griff ich danach und begann mich hoch zu ziehen. Keine gute Idee.

„Lass das, Leonie. Das kommt mit gebrochenen Rippen nicht so gut.“ 

Am Fußende des Bettes stand ein Mann, dessen schwarze Hautfarbe einen extremen Kontrast zu seinem strahlend weißen Arztkittel bildete.

Ich schwieg. Wie war ich hierher gekommen?

Der maximalpigmentierte Mann schaute mich auffordernd an. Auf was wartete er?

Er runzelte die Stirn, trat näher an das Bett heran. Er griff nach der Decke. Hilfe!

Ich hechtete zur anderen Seite, weg von seiner Hand. Zumindest versuchte ich es. Weiter als bis zur Kante kam ich nicht. Eine Gabel mit mehr Zinken als handelsüblich bohrte sich in Brustkorb und rechten Oberschenkel. Mir blieb die Luft weg. Unerwartet behutsame Hände hoben mich zurück in die Mitte des Bettes. Betäubt durch die Schmerzen war ich unfähig mich zu wehren.

Ratsch, Ratsch.

Mit zwei Handgriffen klappte er die seitlichen Gitter hoch. Ich rückte soweit wie möglich von ihm weg.

„Was ist mit dir los? Was hat er dir angetan?“

Was hatte wer mir angetan? Und wieso wusste ich das nicht?

Er sah besorgt aus. Nachvollziehbar. Aber warum war er gekränkt?

„Wieso zum Teufel hat er dich ausgerechnet bei mir abgeliefert?“

Nun verstand ich gar nichts mehr. Ich räusperte mich. Ein mittelgroßes Wollknäuel verstopfte meinen Hals. Von wem zum Henker sprach er die ganze Zeit? Resigniert zuckte er die Schultern und ging zur Tür.  

„Und kannst du mir mal erklären, wieso das Loch in deinem Bein schon nach 12 Stunden deutlich weiter abgeheilt ist als der Rest deiner Wunden?!“

Nope. Aber gut zu wissen, dass ich ein Loch im Bein hatte.


2

 

März 2009, psychiatrische Klinik, Hamburg

 

 

Welcher Geruch überwog? Angst oder Ablehnung? Frust oder Traurigkeit?

Sie saß mir gegenüber, nur gut einen Meter entfernt. Endlich. Und doch kam ich so einfach nicht an sie heran.

 

 

„Mein Name ist Limea.“

Automatisch ergriff ich die mir dargebotene Hand, erstaunt darüber, dass er sich die Mühe machte. Sein Händedruck war angenehm fest, seine Finger überraschend warm. 

Der nächste Arzt. War ich eine Knobelaufgabe, an der sich jeder mal ausprobieren durfte? Dieses zuversichtliche Lächeln kannte ich schon. Seinem Vorgänger war es innerhalb weniger Wochen vergangen.

„Leonie, ich erlebe sie heute als extrem unkooperativ.“

„Hmpf.“

„Die latente Aggressivität, die sie aussenden, ist kontraproduktiv für den Heilungsprozess.“

„Wieso latent?“

„Ihr Sarkasmus zeigt mir, dass sie mir keinen Zugang zu ihrem Inneren gewähren.“

„Om.“

Es  blieb abzuwarten, ob dieser hier mehr Ausdauer an den Tag legen würde. Seit drei Monaten war ich jetzt hier. Ich war überzeugt davon etwas Wichtiges verloren zu haben, etwas von immenser Bedeutung. Obwohl ich mir jeden Tag das Gehirn zermarterte, kam ich nicht darauf. Zugriff verweigert. Das beschissene Gefühl des Verlusts machte mich depressiv, egal wie viele Medikamente man mir verabreichte. Ihre einzige Wirkung bestand darin, sich wattebauschartig um jede Windung meines Gehirns zu legen. Erinnerungsisolation. An manchen Tagen, in manchen Situationen, hatte ich das Gefühl, die Erinnerungen kämen zurück. Leider blieb es bei diesem Gefühl. Bevor ich etwas erkennen konnte, verschwanden sie. Ätsch. Wie eine Straßenbahn, deren Türen sich vor meiner Nase schlossen und die davonfuhr, bevor ich einsteigen konnte.

„Ich habe ihre Krankenakte gelesen und entschieden, eine neue Therapieform auszuprobieren. Als erste Maßnahme bekommen sie keine Medikamente mehr.“

Was würde sich ohne sie ändern? Seine Augen waren genauso blau wie die Pillen. Wieso fiel mir das auf? Ich erinnerte mich nicht einmal an den Namen seines Vorgängers.

„Was macht das dann mit mir?“

„Ich arbeite mit Hypnose als Therapieform, um Erinnerungen aufzudecken“, fuhr er ungerührt fort.

Tolle Aussichten.

„Was passiert, wenn ich nackt auf dem Tisch tanze?“

„Da bei ihnen eine retrograde Amnesie vorliegt - “

„Sind sie sich sicher, dass sie meine Akte gelesen haben? Ich bin depressiv und persönlichkeitsgestört.“

Betont ruhig erwiderte er: „Das ist nur teilweise richtig. Sie haben einige der typischen Merkmale der Borderline-Persönlichkeitsstörung, nicht alle.“

„Wenn sie das so sagen, fühle ich mich gleich besser.“

Er blickte mich so forschend an, als wollte er jede meiner Synapsen auf ihre Tauglichkeit überprüfen. Nervös rutschte ich in meinem Stuhl hin und her.

„In ihrem Fall halte ich Hypnotherapie für den richtigen Ansatz.“

„Gehört in diesen Ansatz auch ein Mitspracherecht der Patientin?“

„Wurden sie schon einmal hypnotisiert?"

Okay, kein Mitspracherecht.

„Nicht dass ich wüsste.“

Um seinem Blick auszuweichen, starrte ich das Foto an der Wand hinter ihm an. Ein kleiner Bach plätscherte durch einen dichten Wald. Was an diesem Kitschmotiv kam mir so verdammt vertraut vor?

„Wovor haben sie Angst?"

Erwischt. Die Fassade bröckelte. Bei ihm musste ich mir eine neue Taktik einfallen lassen, um meine Gefühle zu verstecken.

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Wer weiß, was sie in der Zeit alles mit mir anstellen?"

Du bist so blöd, Leonie. Warum kannst du deine Klappe nicht halten? Es gab zwei Dinge, vor denen ich Angst hatte:

1. Was würde die Hypnose ans Tageslicht befördern?

2. Meinen inneren Müll vor einem Fremden auszubreiten.

Das wollte ich vor ihm verheimlichen. Zu spät. Er hatte mich längst durchschaut.

„Lassen sie mich erklären, wie ich arbeite. Ich sehe sie drei- bis viermal die Woche. Die Sitzungen werden lückenlos mit der Videokamera aufgezeichnet. Sie haben jederzeit die Möglichkeit, sich die Bänder anzusehen.“

Bei diesen Aussichten wurde mein Mund trocken.

„Werden die Filme ins Internet eingestellt oder zu Forschungszwecken verwendet?“

Er ging nicht darauf ein. Jetzt waren seine Augen von undefinierbarem Steinlausgrau. Wo war das himmelblau hin? Es stand schlimmer um mich, als ich gedacht hatte.

„Zuerst kümmern wir uns um ihre Erinnerungslücken, dann um den Rest.“

Erinnerungslücken… das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.

Nur die ersten Jahre meines Lebens waren vollzählig vorhanden. Was danach kam, lag in totalem Dunkel. Eine Videokassette, aus der der größte Teil herausgeschnitten worden war. Was sollte es, es ging ja nur um mein Leben.

„Wir sehen uns morgen früh um 10 Uhr. Einen schönen Tag noch“, verabschiedete er mich.

Na prima.

 

 

Morgen erst. Ich musste mich gedulden, mich an meinen Plan halten. Sonst würde sie misstrauisch werden, das konnte ich nicht riskieren.

 

 

„Na erzähl schon, ist der wirklich so gut wie er aussieht? Mensch, wie ich dich beneide! Was würde ich darum geben, die olle Wischnevski gegen den einzutauschen. Das ist doch mal wenigstens was fürs Auge! Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“

Meine aufgezwungene Klinikaufenthaltsabschnittspartnerin Steffi sprang aufgeregt hin und her. Ihre blonden Korkenzieherlocken wippten um ihr Pfannekuchengesicht herum. Ein feister kitschiger Weihnachtsengel. Nur ohne Kerze in der Hand. Genauso trivial wie sie aussah, kam sie auch rüber. Ich verdrehte meine Augen.

„Hast du noch was Anderes als Typen im Kopf? Wir können gerne tauschen.“

Ein Arzt, der seinen Job weniger ernst nahm, wäre mir lieber. Hypnose  - dass man so etwas hier überhaupt zuließ. Nicht mit mir. Ich plante bereits den Boykott. In ein paar Wochen würde er aufgeben und mich mit ein paar Pillen im Gepäck und der Adresse eines gelangweilten Psychiaters gehen lassen, da war ich mir sicher. Ich war schließlich keine Gefahr für mich oder die Menschheit. Wenn ich wüsste, wohin ich gehen sollte, hätte ich mich bereits vor Monaten entlassen.

Steffi ließ nicht locker. Ihre quengelige Stimme kannte kein Erbarmen. Indiskret glotzte sie mich aus ihren babyblauen Puppenaugen an.

„Jetzt sag, wie ist der so? Was hat der mit dir vor?“

„Er gibt mir Drogen und macht mich zu seiner Sexsklavin.“

Ich streckte die Zunge heraus und hechelte wie ein Hund.

„Du bist so doof!“

Ist der Ruf erst ruiniert… Ich warf mich auf mein Bett und schaute hinaus in den Garten der Klinik. Alle Zeichen standen auf Frühling. Die ersten Krokusse und Narzissen schoben ihre Köpfe aus der Erde, eine Amsel zupfte geschäftig einen Regenwurm aus dem Rasen. Alle zogen ihr Ding durch, nur ich wurde fremdbestimmt. Wenigsten konnte ich die Zeit zwischen den psychischen Anwendungen frei gestalten.

Ich schlüpfte in Jogginghose und Turnschuhe und lief los. Treppe hoch, Treppe runter. Bis der Endorphinspiegel wieder hoch genug war, um den Wahnsinn hier zu ertragen.

 

Ich ging zum Therapieraum. Endlose weiße Flure, bunte Bilder. Farbgestaltung und Inneneinrichtung der Klinik sollten erregte Gemüter besänftigen und depressive aufheitern. Ich wartete noch immer auf den Effekt.

Unsere Therapeutin, Frau Doktor Schmöker, lächelte mir entgegen. Sie lächelte immer. Selbst Sitzungen, die im Chaos endeten – was meistens der Fall war – brachten sie nicht aus der Fassung.

Ich hasste diese nachmittägliche Pflichtveranstaltung, es war wie bei den Anonymen Alkoholikern. Jeder quasselte jedem seine persönliche Leidensfrikadelle ans Ohr. Was für ein überflüssiger Scheiß. Die Tür ging auf und hinein kam: Er.

Hatte er nicht ‚Bis morgen’ gesagt? Finster starrte ich ihn an. Ich fühlte mich betrogen.

Steffi hingegen beäugte meinen Therapeuten, als wäre er ein Stück Buttercremetorte. Frau Dr. Schmöker knöpfte total unauffällig den oberen Knopf ihrer Bluse auf. Idiotische Weiber.

„Ich freue mich außerordentlich, ihnen unseren neuen Co-Therapeuten Dr. Limea vorstellen zu dürfen. Er wird uns zukünftig mit seinem reichen Erfahrungsschatz unterstützend zur Seite stehen.“

Bla und Blubb.

Nervös strich sie sich den Rock glatt und versuchte möglichst kokett die Beine übereinander zu schlagen. Dabei blieb sie am Stuhlbein hängen und zog sich eine Laufmasche. Mich befiel akutes Fremdschämen.

„So, wer möchte uns denn heute an diesem herrlichen Frühlingstag ein Stück weit an seinen Gefühlen teilhaben lassen?“

Sie schaute erwartungsvoll in die Runde. Wie immer meldete sich keiner. Same procedure as last lesson.

„Ähem.“

Jörn! Er wollte tatsächlich etwas sagen. Was hatte den denn gebissen?

„Ja, Jörn, was möchten sie uns erzählen?“, ermunterte ihn Frau Dr. Schmöker.

„Ihr wisst ja alle, dass ich versucht hab mich umzubringen…“

Betretenes Schweigen. Das Muster des Linoleums war plötzlich für alle hochinteressant. Jörn war auf Junkieart attraktiv: bläuliche Ringe unter den Augen, schmales Gesicht, Taillenumfang wie Steffis Oberschenkel. Statt Einstichlöchern trug er zickzackförmige Narben auf den Armen. Mensch, musste der sich mies fühlen.

„Ja, Jörn? Wir sind bei ihnen.“

„Und dass ich mir die Arme aufritze, seht ihr ja.“

Gedankenverloren pulte er am Schorf der aktuellsten Narbe herum.

„Ich hab früher nicht so tolle Sachen erlebt. In meiner Familie wars nicht friedlich gewesen. Es gab oft Palaver und der hat dann schon mal mit nem Veilchen oder ner gebrochenen Nase geendet.“

Prima, die Narbe war aufgepult. Nun kam die nächste.

„Für meine Mutter war es echt krass gewesen. Die hats doppelt abgekriegt, weil die wollte uns schützen. Mein Alter hat immer gemeint, wir sind Schuld. Weil wir nichts auf die Kette kriegen. Mama, mein kleiner Bruder Tim und ich, wir taugen nix. Jeden Abend ist er in die Kneipe und hat sich voll laufen lassen. Dann kam er nach Hause…“

Narbe Nummer drei.

„Dieser Mistkerl. Frauen und Kinder verprügeln. Ey und ich war so feige, hab ihm nie auch mal eins auf die Fresse gehauen. Ich hab dann angefangen, mich zu ritzen. Das ist echt geil! Wenn das Blut an meinen Armen herunter läuft – das ist voll cool! Ey, da bin ich süchtig nach.“

Boa ey, krass ey. Wie konnte man darauf abfahren, sich selbst zu verletzen? Die waren krank, eindeutig. Jörn und die Seelenklempner. Alle drei. Ich warf einen Blick auf Dr. Limea. Brauchte er eine gewisse Dosis an Seelenmüll, um sich von seinem eigenen bedeutungslosen Dasein abzulenken?

Jörn sah Dr. Limea unterwürfig an. Ein kleiner Junge, der mal wieder ins Bett gepinkelt hat. Mein Name ist Jörn und ich bin krank. Hier konnte man nur krank werden.

 

3

 

Ich musste weg von hier, jetzt, sofort. Aber es ging nicht. Egal was ich versuchte, wie sehr ich mich anstrengte, ich kam einfach nicht von der Stelle. Als würde ich durch klebrigenSirup waten.

Mit einem stimmlosen Schrei erwachte ich. Mein Bett war völlig zerwühlt, meine Haare klebten feucht in meinem Nacken. Der Wecker zeigte fünf Uhr morgens – gleiche Zeit, gleicher Albtraum. Panik, verfolgt werden, nicht von der Stelle kommen. Weitere Einzelheiten wie immer nicht vorhanden.

Einatmen, Ausatmen. Ruhiger werden. Einige Spritzer Wasser in meinem Gesicht halfen mir, einen klaren Kopf zu bekommen. Was sollte ich jetzt bis zum Morgen tun?

Auf Träumen hatte ich keinen Bock mehr. Ich nahm mir meinen MP3-Player und setzte mich ans Fenster. An nichts denken, vor allem nicht an den kommenden Tag und die erste Hypnosesitzung. 

 

 

Ich ließ mir Zeit, wollte, dass sie vor mir eintraf. Leonie würde sich verspäten. Wenigstens in diesem Punkt war sie berechenbar.

 

 

Zehn Minuten nach zehn saß ich in Dr. Limeas Besprechungszimmer, was für mich noch gut war. Ich hielt es wie Einstein: Zeit ist relativ. Leider sah das meine Umwelt anders. Sein Vorzimmerdrache im fliederfarbenen Twinset hatte mich mit einem vernichtenden Blick hineingeführt.

Das Zimmer sah noch genauso aus wie vorher, er hatte noch keine Spuren hinterlassen. Außer dem merkwürdig vertrauten Kitschbild. Schade, ich hätte mir gerne ein paar persönliche Dinge von ihm angeschaut. Ob er wohl verheiratet war? Er sah zu jung aus für eine Familie und erst recht für den von Frau Dr. Schmöker beschrieenen reichen medizinischen Erfahrungsschatz. Wie auch immer, es ging mich nichts an. Konzentrier dich auf das Wesentliche. Ich wollte ihm die Hypnose so schwer wie möglich machen. Das Rührei vom Frühstück lag wie ein Stück Pappe in meinem Magen und mit meinen Händen hätte ich einen ganzen Bogen Briefmarken zum Kleben bringen können.

Hinter mir ging die Tür auf.

„Hallo Leonie, sie sind pünktlicher, als ich erwartet habe“, sagte er und kam auf mich zu.

Er klang nicht sarkastisch, noch nicht einmal ironisch. Stand mir mein fehlendes Zeitgefühl auf der Stirn geschrieben? Ich musterte ihn konsterniert, während er kurz telefonierte. Als er aufschaute, fühlte ich mich ertappt. Doch er lächelte nur. Die Beachboymasche zog bei mir nicht. Auch wenn er Wimpern hatte, für die Steffi morden würde.

„Ich wäre dann soweit…“

Shit, ich hatte ihn angestarrt wie ein Kalb den Mond. Das Blut stieg mir in den Kopf. Netterweise fuhr er fort, als wäre nichts gewesen.

„Bevor wir mit der Hypnose beginnen, sollten sie mir erst erzählen, an was sie sich noch erinnern.“

„Etwa alles?“

„Ab der frühesten Kindheitserinnerung.“

Pest oder Cholera, Hypnose oder Kindheitserinnerungen -  Letzteres war das eindeutig kleinere Übel für mich. Bestenfalls würde die erste Hypnosesitzung erst in einigen Wochen stattfinden.

Was war meine älteste Erinnerung? Ich starrte auf das Foto hinter ihm und begann zu erzählen:

 

 Komm Leonie, trödele nicht!“ rief meine Mutter und zog mich lachend von den Welpen fort.

„Wir müssen nach Hause!“

„Ich will aber noch bleiben, die sind so süß! Können wir nicht einen mitnehmen, bitte Mama, biiiiiiiiiiiitte!“ bettelte ich.

Ich drückte den fiependen Fellball an mich.

„Wo soll der Hund denn bleiben, wenn ich arbeiten bin und du im Kinderhort, Linni?“

Ich war todtraurig. Mama und ich lebten alleine. Sie hatte mir erzählt, dass mein Vater gestorben war, bevor ich geboren wurde. Ich malte mir aus, mein Vater wäre in Afrika, um bedrohte Tiere vor dem Aussterben zu retten. Er war ein berühmter Zoologe und eines Tages würde er mich holen, damit ich ihm bei seiner Arbeit half.

 

Ich schaute Dr. Limea an. Er hatte den Kopf in seine Hand gestützt und betrachtete mich. „Fahren sie fort.“

 

Ich saß neben Opa Karl im Auto. Meine Tüte war wunderschön: leuchtend gelb mit verschiedenen Tierbabys darauf. Ich war ganz versessen auf alle Arten von Tierbabys.

Die Aula der Grundschule war voller aufgeregter Kinder und noch aufgeregterer Eltern. Überall blitzten Fotoapparate und alles redete laut durcheinander. Ich entdeckte in dem Gewühl meine beste Freundin Julia mit ihren Eltern und zog Mama und Opa in ihre Richtung.

Wir begrüßten uns freudestrahlend. Ich war glücklich, dass Julia und ich dieselbe Klasse besuchen würden. In der Klasse sollten wir aus einem dicken Wollfaden den Anfangsbuchstaben unseres Vornamens bilden und auf ein Stück Papier kleben. Zum Glück konnte ich schon ganz gut lesen und etwas schreiben. Während ich in der Tierarztpraxis auf Mamas  Feierabend wartete, brachte ich mir selber Lesen bei.

An Opas Hand ging ich zum Parkplatz.

„Boah, die hat aber nen alten Vater.“

Ich drehte mich um und erkannte einen Jungen aus meiner Klasse. Schnell riss ich mich von Opas Hand los und lief alleine zum Auto.                                      

 

Ich machte eine Pause, wartete auf irgendeinen Kommentar von ihm. Es war mir unangenehm, solange über mich selbst zu sprechen. Aber sein Blick sagte eindeutig ‚Weitermachen’. Wie der gnädige Herr wünscht.

 

Wie jeden Tag ging ich nach dem Kinderhort allein die paar Schritte bis zur Praxis von Onkel Bernd, dem Mann von Mamas Schwester Lea. Vor der Tür stand ein Pappkarton, aus dem es kläglich maunzte. Vorsichtig schaute ich hinein und entdeckte drei klitzekleine Katzenwelpen. Ich hob den Karton auf und lief damit zu meiner Mutter.

„Mama, schnell, die Babys haben Hunger.“

Meine Mutter kassierte gerade Geld von einer Frau mit einer dicken Bulldogge an der Leine.

„Einen Moment, Linni.“

„Mama, es ist dringend. Ich geh schon mal zu Onkel Bernd.“.

„Halt!“, rief meine Mutter.

„Du kannst nicht einfach in eine Behandlung reinplatzen“.

Zu spät - ich war bereits im Behandlungszimmer, wo gerade ein Kaninchen eine Spritze bekam. Onkel Bernd schaute mich erstaunt an, sagte aber nichts.

Er nickte kurz in Richtung eines blauen Plastikstuhls, damit ich mich setzte, bis er fertig war. Er arbeitete ruhig und konzentriert. Onkel Bernd war groß und schlank, er hatte dunkle Haare und trug eine runde Brille. Damit sah er für mich immer sehr weise aus. Wenn er lachte, strahlten seine Augen hinter den Gläsern.

Als der Mann mit dem Kaninchen gegangen war, schaute sich Onkel Bernd die Kätzchen an.

„Die sehen aber gar nicht gut aus. Wo hast du die denn gefunden?“

„Der Karton stand vor der Tür. Meinst du ihre Mama ist gestorben?“  

Onkel Bernd seufzte.

„Da wusste wohl jemand nicht wohin mit dem ungewollten Nachwuchs. Das kommt leider häufiger vor.“

„Wie können denn Leute so was Gemeines tun?“

„Es ist nicht jeder so tierlieb wie du, Leonie.“

„Was machen wir jetzt, Onkel Bernd?“

„Sie sind noch ziemlich jung. Es wird schwierig sein, sie durchzubekommen. Die einzige Chance ist, sie mit der Hand aufzuziehen und das ist eine Menge Arbeit.“

„Das mach ich!“

Ich war sofort Feuer und Flamme.

„Stell dir das nicht so einfach vor.“

Onkel Bernd schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Du solltest erst mal deine Mutter fragen, was sie davon hält.“

„Bitte, kannst du nicht mit Mama reden? Sie hört doch auf dich.“

Zwei der Kätzchen durfte ich behalten, das Dritte überlebte leider die erste Nacht nicht. Ich taufte sie Bernhard und Bianca. Sie wurden meine engsten Freunde.

 

 

Teil eins meines Plans ließ sich gut an. Ich erfuhr immer mehr von ihr. Alles konnte mir von Nutzen sein.

 

 

Ich rannte durch den Klinikpark. Die neutrale Zone zwischen Psychiatrie und allgemeinem Krankenhaus. Wer sich hier aufhielt, war in der Schweiz. Unter meinen Joggingschuhen verendeten zahlreiche Schneeglöckchen und Winterlinge. Ein Massenmord, den ich gerne an meinen ungeliebten Erinnerungen begangen hätte. Aber sie klebten hartnäckig an mir wie Kaugummi. Ich vermisste meine Mutter so sehr, dass es schmerzte.

Trampel.

Ein Büschel Krokusse weniger auf dieser Welt. Wer auch immer den Spruch ‚Die Zeit heilt alle Wunden’ erfunden hatte, hatte keine Ahnung. Egal wie viele Jahre vergingen, der Schmerz begleitete mich auf Schritt und Tritt.

 

Steffi saß auf ihrem Bett, als ich herein kam. Sie stopfte sich hastig das letzte Stückchen Schokocremetorte in ihren verschmierten Mund und schaute mich schuldbewusst an. Während sie aufsprang, wischte sie sich mit dem Handrücken die Reste aus dem Gesicht.

„Was machst du denn schon hier?“

Unsanft schob sie mich zur Seite und verschwand in der Toilette. Sekunden später rauschte Wasser aus dem Hahn. Ihre Würgegeräusche hörte ich trotzdem.

Durch die geschlossene Tür rief ich: „Gastritis, kaputte Speiseröhre, Zahnschmelzschwund… Wenn du so weiter machst, kannst du dir die stundenlange Schminkerei morgens sparen!“

 

4

 

Etwas war hinter mir her, es kam näher und näher. Gleich würde es mich erwischen und mir wehtun. Mein Atem ging stoßweise, meine Lungen pfiffen. Ich stolperte, stürzte zu Boden. Das war’s. Schützend hob ich die Arme über meinen Kopf. Nichts geschah. Ich drehte mich langsam um. Hinter mir war nichts, absolut nichts.

Ich erwachte schweißgebadet, mein Herz pochte wild. Dieser Traum war anders als sonst. Und zum ersten Mal konnte ich mich an alles erinnern.

 

Es hatte mich Überwindung gekostet, hierher zu kommen. Wie gerne hätte ich mich krank gemeldet und den Tag im Bett verbracht. Aber ich hatte Angst gehabt, mein aufmerksamer Therapeut könnte höchstpersönlich nach mir sehen. Wieder war ich vor ihm da, stellte mich ans Fenster und sah hinaus. Die Aussicht war genauso trübe wie ich mich fühlte – grauer Asphalt und bunte Blechhaufen.

Nach einigen Sekunden begann mein Nacken zu kribbeln, als würde mich jemand beobachten. Dr. Limea stand im Zimmer und fixierte mich mit unbewegter Miene. Ich hatte ihn nicht hereinkommen gehört.

 

Mein achter Geburtstag lag mitten in der Woche und meine Mutter musste arbeiten. Sie hatte mir einen Geburtstagstisch aufgebaut mit einem Kuchen und acht Kerzen darauf, den sie in der Nacht noch gebacken und mit meinem geliebten Schokoguss verziert hatte. Ich sah die dunklen Ringe unter ihren braunen Augen. Meine Augen hatte die gleiche Farbe, auch ihre langen dunklen Haare hatte ich geerbt. Auf beides war ich stolz.

Bernhard pirschte sich leise an den Kuchen heran, um ein Stückchen zu ergattern.

„Gehst du da runter, du verfressenes Subjekt“, schimpfte meine Mutter halbherzig. „Wieso sind diese Katzen nur so essgestört?“

Bianca beschäftigte sich derweil unter dem Tisch mit dem Geschenkband von einem Päckchen, das ich gerade auspackte. Vorsichtig klappte ich den Deckel des kleinen Samtkästchens auf und quietschte vor Freude. Ich nahm den kleinen silbernen Ring heraus und drehte ihn hin und her. Der milchig-weiße Stein schillerte in Blau-, Gelb- und Grüntönen, je nachdem von welcher Seite ich ihn betrachtete.

„Was ist das für ein Stein?“

„Das ist ein Mondstein, Linni.“

„Echt? Der ist vom Mond?“

„Nein, mein Schatz, aber er besitzt magische Kräfte. Wenn du ihn einmal im Monat abwäschst und im Mondlicht - am besten bei Vollmond - auflädst, dann bringt er dir Glück und gute Träume.“

Ich freute mich und drückte meine Mutter ganz fest, bis sie kaum noch Luft bekam. Lachend befreite sie sich aus meiner Umarmung. Nach der Schule ging ich wie immer in die Tierklinik. Onkel Bernd empfing mich mit einem lauten „Herzlichen Glückwunsch, du Große!“, nahm mich in seine Arme und wirbelte mich durch die Luft.

Mir war das peinlich vor den vielen Leuten im Wartezimmer, aber ihm war das egal.

„Setz mich ab, Onkel Bernd!“ rief ich und trommelte mit meinen Fäusten auf seine Schultern.

„Ach herrje, ich habe ganz vergessen, dass du schon fast erwachsen bist“, sagte er grinsend und setzte mich ab.

„Deswegen habe ich für dich ein ganz besonderes Geschenk. Magst du es dir ansehen, oder bist du gerade zu beschäftigt?“

„Au ja!“

„Na, dann komm mal mit. Es steht hinten in der Garage.“

Aufgeregt hopste ich hinter ihm her.

„Mach die Augen ganz fest zu. Du darfst sie erst wieder aufmachen, wenn ich es sage. Und wehe, du schummelst!“, fügte er drohend hinzu.

Dabei zwinkerte er mir zu.

„Ich schummel nicht, Ehrenwort!“ versprach ich und ließ mich von ihm führen. Mein Herz klopfte ganz doll. Die Garage roch nach altem Gummi und Benzin.

„Jetzt kannst du die Augen aufmachen.“

Vor mir stand ein großer, mit einem weißen Bettlaken verhüllter Kasten, auf dem eine große rote Schleife lag.

„Willst du nicht nachschauen?“

Ganz vorsichtig nahm ich die rote Schleife hoch und legte sie auf einen Stapel Autoreifen. Dann zog ich an dem Bettlaken, es rutschte zu Boden.

„Ein Klavier?“ fragte ich ungläubig. „Das ist doch viel zu teuer! Und spielen kann ich auch nicht…“

„Klavierspielen kann man lernen. Schließlich hast du mir immer wieder erzählt, wie toll du es findest, dass deine Freundin Julia Klavierunterricht bekommt. Da dachte ich, das ist genau das Richtige für dich.“

Er zog einen alten Gartenstuhl an das Klavier heran und fing an zu spielen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er Klavier spielen konnte. Fasziniert sah ich zu, wie geschickt sich seine Hände über die Tasten bewegten. Ich wollte unbedingt so schön spielen können wie er.

 

„Was ist aus der Idee geworden, Klavier spielen zu lernen?“

„Mein Onkel hat Wort gehalten. Ein Jahr lang hat er mir den Unterricht finanziert, dann war Schluss.“

„Hatten sie keine Lust mehr?“

„Um Lust ging es nicht.“

Nach diesem einen Jahr musste ich zu Tante Lea ziehen und sie wollte sich mit diesem ‚hässlichen Klotz’ nicht ihr durchgestyltes Luxus-Appartement verschandeln. Sie wusste genau, wie sie mich treffen konnte. Seitdem hatte ich kein Klavier mehr angefasst.

„Haben sie das Klavier hier in der Klinik schon ausprobiert?“, fragte Dr. Limea.

Ich schüttelte den Kopf. Gute Frage. Warum war ich noch nicht auf den Gedanken gekommen, zu spielen?

 

An meinem Geburtstag kam Tante Lea abends zu uns und brachte mir ein Geschenk: Espressotassen! Ich war total enttäuscht.

„Zeig mir doch mal, was du noch bekommen hast“, forderte sie mich auf.

Stolz zeigte ich ihr mein neues Klavier. Sie lächelte verkniffen und sagte keinen Ton.  

Schnell lief ich in die Küche, damit sie nicht sah, dass ich weinte. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer kam ich am Balkon vorbei. Tante Lea und Onkel Bernd standen draußen und stritten sich.

„Was hast du dir bloß dabei gedacht, dem Kind so etwas Teures zu schenken? Nicht nur, dass das Klavier verdammt teuer war – und versuch ja nicht, mir etwas Anderes zu erzählen. Nein, der gnädige Herr muss wieder den Gönner spielen, der Ritter, der der allein erziehenden Mutter unter die Arme greift. Damit setzt du der vorlauten Göre nur unnötig Flausen in den Kopf. Willst du zukünftig alles bezahlen, was das Prinzesschen so möchte? Wieso schenkst du ihr nicht gleich ein eigenes Pony und noch Reitstunden dazu? Das ist doch Perlen vor die Säue werfen, aus dem Balg wird nie etwas Anständiges werden! Die Energie, die du auf sie verschwendest, solltest du lieber auf mich verwenden!“

Onkel Bernd klang mühsam beherrscht.

„Bist du es nicht langsam leid, ständig Gift zu versprühen? Wir reden hier über deine Nichte. Leonie ist schließlich das einzige Kind in der ganzen Verwandtschaft. Wenigstens ein Kind, um das ich mich kümmern kann...“

Seine Stimme klang wütend und resigniert zugleich. Ich riskierte einen Blick auf die beiden.

„So, jetzt sind wir beim eigentlichen Thema angelangt. Ständig reibst du mir unter die Nase, dass ich keine Kinder kriegen kann.“

Sie drehte Onkel Bernd den Rücken zu und ging zum Aschenbecher, der auf unserem klapprigen kleinen Balkontisch stand. Mit zitternden Händen drückte sie ihre Zigarette aus. Ich versuchte mich davon zu schleichen, aber sie entdeckte mich. Ihre Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen.

Schnell rannte ich zu meiner Mutter. Sie saß auf der Couch, ich kuschelte mich in ihre Arme.

„Was hast du denn, Linni?“, fragte sie besorgt.

„Nichts, Mama.“

Ich wollte ihr nicht erzählen, was ich belauscht hatte. Es hätte sie traurig gemacht.

Obwohl Tante Lea und meine Mama Schwestern waren, ähnelten sie sich überhaupt nicht. Meine Mutter erzählte mir einmal, in der Schule hätten sie Besenstiel hinter Lea hergerufen. Sie sah tatsächlich aus wie ein Besen, lang und hager. Ich verstand nicht, was Onkel Bernd an Lea fand. Meine Mama hätte viel besser zu Onkel Bernd gepasst. Und ich hätte dann einen Papa gehabt.

 

 

Ich sah sie nur zweimal pro Tag. In diesem Tempo würde es lange dauern, bis ich mein Ziel erreicht hätte. Viel zu lange.

 

 

Ich saß im Schneidersitz am Beckenrand, schloss die Augen und atmete tief ein und aus.

Nachdem ich die Chlorbrille aufgesetzt hatte, benetzte ich Nase und Mund mehrmals mit Wasser, um den Atemreflex zu unterbinden. Dann ließ ich mich ins Becken gleiten.

Ich tauchte ab und schwamm in langen ruhigen Zügen zum Grund. Ich hielt mich an der im Boden eingelassenen Strömungspumpe fest. Helle Lichtflecken tanzten über die Fliesen auf dem Boden des Beckens. Es war still in meinem blau leuchtenden Weltraum. Hier konnte mir keiner dumme Fragen stellen oder mich verletzen.

Es war ätzend gewesen, meinen achten Geburtstag noch einmal zu durchzumachen. Die alten Gefühle von damals waren alle wieder da. Tante Leas Ablehnung, Onkel Bernds Mitleid. Am Schlimmsten war es, dass jetzt keine Mama da war, die mich in den Arm nahm, damit ich mich ausheulen konnte.

Nicht denken. Jeden sich einschleichenden Gedanken machte ich zu einer Seifenblase, die an meinem Kopf zerplatzte. Der Sekundenzeiger auf meiner Uhr marschierte voran.

Nach einer Weile zog sich mein Kehlkopf ruckartig zusammen. Hallo Leonie! Ich bin’s, dein Atemreflex. Wir bräuchten mal Luft. Halt die Klappe. Beleidigt zog er sich zurück. Genau darin lag für mich der Reiz. Meinen Körper zu bezwingen. Als ich nach fünf Minuten anfing zu frieren, ließ ich die Pumpe los und stieg langsam empor.


4

 

Es war dicht hinter mir, verfolgte mich unbarmherzig. Totes Holz knackte, Laub raschelte, Zweige peitschten mein Gesicht. Mein Brustkorb drohte zu bersten. Taumelnd hastete ich weiter. Plötzlich blieb ich mit dem Fuß an einer Wurzel hängen und fiel. Feuchter heißer Atem in meinem Nacken. Über mir hörte ich Gelächter – irr, definitiv unmenschlich. Ein ganzes Bataillon Spinnen krabbelte über meine Arme. Ich schaute hoch.  Ein riesiger Schatten hob sich gegen den Nachthimmel ab. Das Mondlicht warf fahlen Glanz auf sein schwarzes Fell.  

 

Mit einem Ruck setzte ich mich in meinem Bett auf. Und bekam eine volle Monddröhnung ins Gesicht. Das Gelächter aus meinem Traum hallte in meinem Kopf nach. Es hörte nicht auf. Moment mal, es war gar nicht in meinem Kopf. Irritiert stand ich auf, ging zur Tür und horchte. Das Gelächter schlug in Wehklagen um; jämmerliches nackenhaaraufstellendes Schluchzen.

Jemand oder etwas brauchte ganz dringend Hilfe. Ich trat in den Flur hinaus. Alles still hier, kein Mensch da. Wo war das Nachtpersonal? Außer dem Schluchzen war nichts zu hören. Keine eiligen Schritte, keine Stimmen. Niemand, der zu Hilfe eilte. Mein Instinkt erklärte mich für suizidgefährdet, aber die Anziehungskraft der Stimme war stärker. Ich ging weiter, bis zu einer angelehnten Tür. Kaum hatte ich meine Hand auf die Tür gelegt, war endlich Ruhe. Totenstille. Ich kam mir vor wie die einzige Überlebende einer atomaren Katastrophe. Vorsichtig schob ich mich in das Zimmer. Der Vollmond schien genau aufs Bett. Ein Riesenkerl lag regungslos auf dem weißen Laken. Blass und verschwitzt, mit langen Haaren. Seine Augen waren geschlossen. War er bewusstlos oder schon tot? Als ich mich dem Bett näherte, fiel mein Blick auf die ledernen Gurte. Er war fixiert. Langsam streckte ich meine Hand nach seinem Handgelenk aus, um einen Puls zu suchen.

Falscher Knopf. Sein Oberkörper schnellte in die Höhe. Erschrocken wich ich zurück. Zu langsam. Seine Hand packte mich blitzschnell am Arm. Nutzlos baumelte der Fixiergurt an der Seite des Bettes herunter. Das Linoleum unter meinen nackten Füßen sackte mehrere Etagen nach unten.

„Leonie?“, krächzte er.

Kannte ich diesen durchgeknallten Typen? Seine fiebrigen Finger gruben sich in meinem Arm.

„Wo ist er?“

Er starrte mich mit Röntgenaugen an.

„Lass mich los, du Spinner!“

Scheißgedächtnis. Sollte ich ihn kennen? Sollte ich wissen, von wem er sprach?

„Sag es mir gefälligst!“

Ich versuchte mich aus seinem eisernen Griff zu befreien, aber er drückte fester zu und lachte hämisch. Das Lachen aus meinem Traum hatte ein Gesicht bekommen. Fehlte noch das schwarze Fell.

Verzweifelt schlug ich meine Fingernägel in seine Hand. Ich kratzte und zerrte bis Blut floss. Scheiße! Die andere Handfessel begann unter seinem Zug nachzugeben. Ich beschloss, vor der nächsten Sequenz dieses Horrorstreifens auszusteigen. Ich würde es mit Beißen versuchen. Wie aus dem Nichts verschloss seine andere Hand meinen Mund. Mein Kopf flog unter der Wucht seiner Bewegung nach hinten, bis mein Nacken knackte.

Krach! Die Tür flog gegen die Wand.

„Ferus!“, schrie der Wahnsinnige wütend.

Jemand packte mich von hinten um meine Taille, riss mich zurück. Mein Schultergelenk ächzte bei dem Tauziehen. Eine winzige Maus in den Krallen zweier beutegeiler Katzen. Fauchen, Knurren, Geheul. Laut und voller Hass. Ich schlug um mich, trat blind nach hinten aus.

Dumpfes Keuchen, feuchtes Schnauben an meinem Hals – noch ein Abschnitt meines Traums, der wahr wurde. Ich nahm alle Kraft zusammen, stieß meinen Ellenbogen nach hinten. Hoffentlich traf ich den Solar plexus.

„Hmmpf!“

„Hey, ich bin’s!“, hörte ich eine vertraute Stimme hinter mir.

Eine große Frau beugte sich über das Bett. In ihrer Hand blitzte eine Nadel auf, bohrte sich in den wild um sich schlagenden Verrückten. Dies alles geschah so schnell, als hätte jemand die Vorspultaste gedrückt. Sekunden später verstummte der Mann, wurde schlaff. Im Zimmer wurde es still.

„Bist du verletzt? Lass mich mal sehen.“ 

Ich fuhr herum. Dr. Limeas Gesicht schwebte eine Handbreit über meinem. Er hielt mich immer noch fest.

Was für eine groteske Situation! In zerschlissenem T-Shirt und alten Boxershorts stand ich mitten in der Nacht eng an meinen Therapeuten gepresst. Durch den dünnen Stoff übertrug sich seine ungewöhnliche Körperwärme auf mich. Unter meiner Wange klopfte sein Herz laut und zu schnell – genau wie meins.

„Bring sie zurück ins Bett“, sagte die Frau.

Er ließ mich widerwillig los. Schade.

Die Riesin schaute mich prüfend an, auf ihrer Schulter entdeckte ich einen dunkelgefiederten Vogel, ähnlich einer Krähe. Wo war der denn so schnell hergekommen? Als würde er spüren, dass ich ihn musterte, drehte er seinen Kopf in meine Richtung. Die Kreatur betrachtete mich aus ungewöhnlich intelligenten Augen, dann blinzelte sie mir verschwörerisch zu.

Ich beschloss, schnellstens schlafen zu gehen.

 

 

„Das hätte niemals passieren dürfen! Wie konntest du sie so in Gefahr bringen? Wie konntest du uns solcher Gefahr aussetzen, Neffe?“, funkelte sie mich böse an.

Dieser Psychopath hatte beinahe mein sorgsam geplantes Vorhaben zunichte gemacht. Das würde er nie wieder tun. Sie gehörte mir. Mir allein.

 

 

Mein Kissen war zu dick, meine Bettdecke zu warm, mein Arm pochte. An Schlaf war nicht zu denken. Was für eine Nacht! Ich drehte mich genervt auf die Seite. Steffi lag beneidenswert ruhig in ihrem Bett und schmatzte zufrieden vor sich hin. Ich spürte noch die Berührung an meinem Arm. Seine Finger, die mir Salbe auf die zukünftigen blauen Flecken gestrichen hatten. Es hatte sich gut angefühlt, musste ich zugeben. Die Uhr auf meinem Nachttisch zeigte eins – noch sechs Stunden bis zum Morgenappell. Mein Gehirn ratterte wie ein hochtourig laufender Motor. Wer war der Verrückte in diesem Zimmer und woher kannte er meinen Namen? Wie viele Leonies gab es in dieser Klinik – war das wirklich ein Zufall? Wen hatte er gesucht? Und dann diese Riesin mit der Krähe auf der Schulter… In welchem Verhältnis standen sie und Dr. Limea zueinander? Warum hatte ich nicht daran gedacht, ihn das zu fragen, während er mich verarztet hatte?

Fragen über Fragen wirbelten durch meinen Kopf, ein wildes nie anhaltendes Karussell. Ich zog die Bettdecke über mich und begann Schäfchen zu zählen. Dabei gab ich jedem einzelnen einen Namen. Ich fing bei Adele an, arbeitete mich über Berta, Christoph und Dolly bis zu Rudolph vor. Das S-Schäfchen blieb namenlos, wurde von meinem juckenden Arm zurückgedrängt. Ich schaltete resigniert die Nachttischlampe ein und betrachtete das nervige Ding. Außer meinen Kratzspuren und leicht geröteter Haut war nichts zu sehen. Keine Spur von Quetschungen oder blauen Flecken. Ich tastete mit den Fingern die Stelle ab, an der der Irre mich gepackt hatte. Nichts. Keine Schmerzen. Hatte ich das alles nur geträumt? An wirre Träume war ich gewohnt, allerdings waren diesmal die Eindrücke verdammt real gewesen. Zu real. Vielleicht war ich nicht verrückt, zumindest nicht mehr als sonst, und es lag einfach an der Salbe. Von dem Wunderzeug hätte ich dann gerne mehr. Für alle Fälle.

 

5

 

Heute war Mittwoch, der Tag in der Woche, den ich am meisten verabscheute. Nach der Gruppentherapie war Besuchszeit für alle – nur nicht für mich. In der gesamten Zeit, die ich hier war, hatte mich noch nie jemand besucht. Mittwochs hatte ich noch mehr das Gefühl, etwas Wichtiges in meinem Leben verloren zu haben.

 

 

Ich durfte mich nicht nur auf sie konzentrieren, das wäre zu auffällig. Den Anderen zu helfen würde meine Scharade glaubhafter erscheinen lassen, den Anschein von Professionalität weiter unterstützen.

 

 

„Wir sollten anfangen. Frau Dr. Schmöker scheint aufgehalten worden zu sein“, eröffnete Dr. Limea die heutige Sitzung.

„Zu meinem Einstand hier in dieser Gruppe habe ich Kuchen mitgebracht - bitte bedienen sie sich.“

Die Anderen stürzten sich gierig auf Donuts, Windbeutel und Cremetörtchen. Kindergeburtstag. Was kam als nächstes? Blindekuh oder Topfschlagen? Steffi und ich blieben sitzen. Ich hatte erwartet, sie als Erste am Buffet zu sehen. Sie zappelte hin und her und leckte sich nervös die Lippen. Natürlich – hier war keine Toilette in der Nähe.

„Leonie?“

„Danke, ich hänge an meiner Bauchspeicheldrüse.“

Er sah mich verblüfft an. Chaka! Ich klopfte mir gedanklich auf die Schulter. Dann versuchte er es bei Steffi.

„Kann ich wenigstens sie für ein Stückchen begeistern?“

Dr. Limea hielt Steffi mit einem charmanten Lächeln ein Cremetörtchen, garniert mit einer Cocktailkirsche, direkt vor die Nase. Sie schluckte mehrmals, offensichtlich hatte sie schon eine Pfütze auf der Zunge. Neugierig beobachtete ich, wie sie sich hin und her wand, gegen die Versuchung ankämpfte – und verlor.

Was für eine Art Therapie war das denn – Desensibilisierung? Mit einem für sie ungewöhnlich langsamen Tempo machte sich Steffi an dem Törtchen zu schaffen, sezierte es beinahe. Bei dieser Geschwindigkeit säßen wir noch bis morgen hier, bis sie sämtlichen Kuchen vertilgt hätte. Als erwarte sie jeden Moment, den Kuchen abgenommen zu bekommen, warf sie Dr. Limea zwischen den einzelnen Bissen unsichere Blicke zu. Ohne sie weiter zu beachten stellte er sich auf die andere Seite des Raums.

Damit stand er direkt hinter mir.

 

 

Zitronengras, Kokos, darunter ihr Eigengeruch. Meine Hände wollten sich um ihren Hals legen. Es kostete mich enorme Anstrengung, sie nicht zu berühren. Nicht jetzt, nicht vor Zeugen. Ich musste sie alleine erwischen.

 

 

In meinem Nacken begann es zu kribbeln. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich Steffi beobachtete. Gabel für Gabel des Kuchens verschwand in ihrem Mund. Das Ferrarirot ihres Lippenstiftes verwandelte sich unter dem Einfluss der Schokocreme zu blutfarben. Der Engel wurde zum Vampir. Würde sie gleich aufspringen und zum Waschraum laufen? Und würde er das zulassen? Schalten sie auch nächste Woche wieder ein, wenn es heißt…

„Ich muss mal eben zur Toilette“, murmelte Steffi, stand auf und eilte zur Tür.

Aha, jetzt wurde es spannend.

„Müssen sie das wirklich?“

Seine Stimme ertönte dicht hinter mir, am liebsten hätte ich mich geschüttelt. Ich lugte unauffällig über meine Schulter. Er stützte sich auf meiner Lehne auf. Seine Hände waren nur einen Zentimeter von meinen Schultern entfernt; erneut fiel mir auf, wie merkwürdig warm er war. Ebenso warm wie der irre Patient.

Steffi kratzte sich am Kopf. Sie drückte die Klinke herunter, öffnete die Tür einen Spalt, starrte sie nachdenklich an und schloss sie zögernd wieder.

„Sie sind stärker als sie glauben.“

Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als ob der Kuchen versuchte von selbst heraus zu springen. Letztendlich atmete sie tief ein und ließ die Luft hörbar entweichen.

„Wollen sie sich wieder zu uns setzen?“

Meine Zimmergenossin schleppte sich zu ihrem Platz, als zöge sie ein unsichtbares Gummiband zur Tür zurück.

Dr. Limeas Hände umfassten meine Stuhllehne so fest, dass das Holz knarzend protestierte. Dabei berührten seine Knöchel meine Schulterblätter. Ich kippte nach vorne über, als hätte ich mich verbrannt. Was war bloß los mit mir? Wieso machte mir seine Nähe so zu schaffen?

Ich atmete auf, als Steffi wieder auf ihrem Stuhl saß. Wenn sie hinaus gerannt wäre, wäre ich bestimmt hinterher gelaufen.

Mehr als Kaffee und Kuchen gab es in der heutigen Sitzung nicht, keine Fragen, keine Beichten, kein Seelenstriptease. Wie angenehm.

 

Die Anderen waren schon gegangen. Unter dem Vorwand, ihm mit den Resten des Kuchenbuffets helfen zu wollen, war ich geblieben.

„Wer war der Irre mit dem ausgeprägten Freiheitsdrang?“

„Wieso nur habe ich auf diese Frage gewartet?!“

Irritiert sah ich ihm zu, wie er in aller Ruhe das benutzte Geschirr stapelte.

„Dann müsste ihnen die Antwort ja leicht fallen.“

„Ein Patient.“

„Nicht so viele Details auf einmal bitte.“

„Sie kennen die ärztliche Schweigepflicht?“

„Ach, jetzt siezen sie mich wieder?!“

Er zog eine Augenbraue hoch, als verstünde er die Anspielung nicht.

„Lassen sie mich kurz zusammenfassen: Mitten in der Nacht lacht und heult jemand wie ein Wahnsinniger. Keiner kümmert sich, also gehe ich nachschauen. Der Irre greift mich an und plötzlich tauchen sie und diese Frau mit dem Vogel auf… Also ich finde, ich habe durchaus eine Erklärung verdient!“

„Mag sein. Diese Frau ist die Klinikleiterin, damit müssen sie sich zufrieden geben. Mehr kann ich ihnen nicht sagen.“

Seine Miene war abweisend, verschlossen. Seine Augen hatten die Farbe von Gewitterwolken angenommen. Wie Stimmungsringe. Offensichtlich konnte man an ihnen seine momentane Laune ablesen. Die Botschaft war angekommen, ich angemessen eingeschüchtert. Ich schaute aus dem Fenster und hielt sicherheitshalber den Mund.

„Wir sehen uns morgen.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging.

„Woher wusste der Typ meinen Namen? Und wer zum Geier ist Ferus?“, rief ich hinter ihm her.

An der Tür zögerte er kurz, dann ging er hinaus.

 

An diesem Abend ging ich früh zu Bett. Meine Gedanken kreisten um den Mann, der mich offenbar kannte. Warum hatte er mich so finster angestarrt? Was hatte ich ihm getan in meiner Vergangenheit, an die ich mich nicht erinnern konnte? Scheiß-Amnesie. Womit hatte alles angefangen? Der Unfall.

Mugan hatte mich verletzt vor seiner Tür gefunden; wenn mir überhaupt jemand helfen konnte, dann war er das.

 

„Leonie, was kann ich für dich tun? Ich habe nicht viel Zeit.“

Mugan klang nicht direkt unfreundlich, aber distanziert.

„Wir haben uns seit meinem Unfall nicht mehr gesehen. Ich habe mich nie richtig für deine Hilfe bedankt.“

Erstmal einschleimen, dann ausquetschen.

„Schnee von gestern“, erwiderte er und machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Ich muss zur Visite.“

Ohne mich nur eines Blickes zu würdigen, wandte er sich ab. Hey, ich war noch nicht fertig. Ich hielt ihn am Ärmel fest.

„Mugan, bitte, ich brauche deine Hilfe. Es gibt so vieles, an das ich mich nicht erinnern kann… Du bist der Einzige, der weiß, was bei dem Unfall passiert ist!“

Ich appellierte an den Ritter in ihm. Wenn der nicht verschütt gegangen war im Laufe der Evolution.

„Wie kommst du auf die Idee?“

„Aber irgendetwas musst du doch wissen!“

Er blieb stehen und kaute auf seiner Unterlippe. Endlich schaute er mich eine Sekunde lang an. Er seufzte.

„Komm heute nach dem Mittagessen in den Park. Aber versprich dir nicht zu viel.“

Jede Kleinigkeit, die Mugan mir erzählen würde, war mehr als nichts zu wissen. Davor hatte ich allerdings noch ein Date mit meinem persönlichen Seelenklempner.

 

6

 

Es war ein heißer Tag im August, der letzte Samstag in den Sommerferien. Wir wollten uns in Hamburg am Elbstrand treffen, meine Großeltern, meine Mutter, Onkel Bernd und ich. Meine Großeltern und ich fuhren voraus, Mama und Onkel Bernd waren noch bei einem Bauern, dessen Kuh gerade kalbte.

„Wann sind wir da, Opa?“ fragte ich ungeduldig.

Ich schwitzte, Opas uralter VW-Käfer hatte keine Klimaanlage, aber das störte mich nicht. Meine Vorfreude auf den Strand war riesig.

Oma lachte. „Wir sind gleich da, du Jungfer Ungeduld. Der Strand läuft uns nicht weg!“

„Geht’s wirklich nicht schneller, Opa? Mama und Onkel Bernd sind bestimmt vor uns da, wenn wir weiter kriechen wie die Schnecken“, schmollte ich.

Onkel Bernd fuhr einen großen schnellen Volvo. Ich hüpfte auf meinem Sitz hin und her vor lauter Ungeduld.

„Was meinst du Leonie, wer findet heute die schönsten Muscheln?“ fragte Opa und blickte mich im Rückspiegel an.

„Pass auf!“, schrie Oma bevor ich antworten konnte.

Opa trat mit voller Wucht auf die Bremse und ich wurde gegen die Vordersitze geschleudert.

„Aua!“

Ich rappelte mich auf.

„Was ist denn da vorne los?“ Vor lauter Schreck zitterte meine Stimme.

Niemand antworte mir. Oma und Opa starrten auf die Straße vor uns. Es war plötzlich ganz still in unserem Auto.

Die Landstraße machte vor uns eine Kurve, mehrere Autos standen kreuz und quer. Polizeiautos blockierten die Strecke davor und hatten ihre Warnlichter angeschaltet. In der Ferne hörte ich ein Martinshorn.

„Das sieht nach einem schlimmen Unfall aus“, sagte Oma. „Mal sehen, ob wir daran vorbei fahren können.“

Opa fuhr langsam auf die Unfallstelle zu.

Ein weißer Lieferwagen stand schräg auf der Straße. Seine Motorhaube war komplett eingedrückt. Dahinter stand halb verdeckt ein schwarzes Auto. Mein Bauch sackte nach unten, wie auf der Achterbahn.

„Oh Gott, lass es bitte nicht….“ Oma brach mitten im Satz ab.

Ich rüttelte an der Kopfstütze. „Halt an, Opa, lass mich raus!“

Der Käfer hatte nur zwei Türen und ich konnte nicht aussteigen, solange vorne noch jemand saß.

„Warte Leonie, du bleibst schön sitzen. Lass uns erstmal in Ruhe schauen.“

Seine Worte sollten beruhigend wirken, doch ich konnte hören, dass er das Auto ebenfalls erkannt hatte.

Ich blinzelte, um besser sehen zu können. Wir rollten immer näher an die Stelle heran.

Da sah ich es: Den Aufkleber auf der Heckscheibe. Ein großes rotes V, in dessen Mitte sich eine Schlange um einen Stab wand. Das Zeichen für einen Veterinär.

Ich hörte mich selbst schreien.

„Oma, lass mich raus! Das ist Mama…!“

Mehr brachte ich nicht heraus, mein Kopf war leer, kalt.

„Warte Schatz, Opa geht nachschauen. Selbst wenn das Onkel Bernds Volvo ist, so ist den beiden bestimmt nichts passiert. Das ist ein sehr sicheres Auto mit Airbags“, versuchte Oma mich zu beruhigen.

Mir kam es vor, als würde alles in Zeitlupe ablaufen. Als Opa in die Nähe des Volvos kam, blieb er wie angewurzelt stehen und führte die Hand zum Mund. Ich hielt es nicht länger aus. Ich drückte die Lehne nach vorne, angelte nach dem Türgriff, aber meine Finger waren wie Pudding.

 „Leonie, nein, bleib hier!“ rief Oma.

Ich hörte nicht auf sie. Endlich bekam ich die Tür auf und stolperte hinaus. So schnell ich konnte, lief ich zu Onkel Bernds Wagen. Eine uniformierte Frau wollte mich aufhalten, aber ich riss mich los und rannte im Zick Zack Kurs an den Polizeiautos vorbei. 

 

 

Sie roch beißend, metallisch. Kaum zu ertragen. Ich wollte dem ein Ende machen, mich nicht länger damit herum quälen. Die Gelegenheit war günstig, wir waren alleine…

 

 

„Ich mache mal das Fenster auf, okay?“

Die Sonne schien, genau wie an diesem schrecklichen Augusttag. Die Welt drehte sich weiter, ohne Rücksicht darauf, wer auf ihr verloren ging. Ich sah wieder das ganze Blut, die Scherben, hörte noch das Martinshorn. Diese Szene hatte ich bis heute erfolgreich verdrängt.

Schwindelgefühl. Rauschen in den Ohren. Meine Finger krallten sich in die Fensterbank.

„Sollen wir eine Pause machen?“

Seine Stimme klang besorgt.

 „Machen wir weiter, dann habe ich es hinter mir,“ sagte ich entschieden und ging wieder an meinen Platz.  

 

Die Windschutzscheibe war völlig gesplittert. Ein riesiges Spinnennetz aus Glas. Dahinter sah ich zwei große weiße Ballons, die Airbags, wie ich erst einen Moment später begriff.

„Mama?“ rief ich verzweifelt.

„Wo bist du?“

Neben dem Auto lag eine braune Handtasche. Ich hob sie auf - es war Mamas Tasche. Die Beifahrertür des Volvos stand offen. Auf den Sitzen lagen überall Scherben von den kaputten Seitenfenstern. Dunkle nasse Flecken verteilten sich auf den beigen Polstern.

Ich drehte mich suchend um und sah gerade noch, wie Sanitäter eine Bahre in einen Rettungswagen schoben. Wie aus dem Nichts stand eine Polizistin an meiner Seite und hielt mich sanft aber beharrlich fest.

„Ich will mitfahren, lassen sie mich bitte mitfahren!“, rief ich.

Mittlerweile hatte Opa mich entdeckt und nahm mich fest in den Arm.

„Leonie, geh zu Oma. Ich fahre in dem Rettungswagen mit und ihr kommt hinterher.“

„Was ist mit Mama?“, brachte ich schluchzend heraus.

Sanft schob er mich in Richtung seines Autos. Ich betete, dass der Krankenwagen schnell genug in der Notaufnahme ankam. Die gesamte Fahrt über hielt ich ihre Handtasche fest an mich gedrückt.

 

„Willst du etwas trinken, Leonie? Ich habe auf dem Gang einen Automaten gesehen, der macht Kakao“, fragte mich Opa.

Wir saßen im Wartezimmer.

„Nein, ich will nur zu Mama!“

Mir kamen wieder die Tränen. Wütend wischte ich sie weg. Ich nahm mir fest vor, Mama richtig zu verwöhnen, wenn wir erst wieder zuhause waren. Ich würde früh aufstehen, im Dorf ihre Zeitung holen und ihr einen Kaffee ans Bett bringen. Dann würde ich mich an sie kuscheln während sie las. Vielleicht konnte ich sie mit einem selbstgebackenen Kuchen überraschen. Oma würde mir bestimmt dabei helfen. Mama mochte am liebsten Käsekuchen…

 

„Familie Kremer?“

Die Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Im Raum stand ein Arzt, ganz in grün. Ein Mundschutz hing um seinen Hals.

„Es tut mir sehr leid. Sie hat es nicht geschafft. Diverse Frakturen führten zu massiven inneren Blutungen, die wir nicht mehr rechtzeitig zum Stillstand bringen konnten. Es tut mir wirklich sehr leid.“

In meinem Kopf dröhnte es. Das konnte nicht sein. Die Ärzte mussten sich irren.

„Kann ich Mama sehen? Wird sie wieder gesund?“, rief ich verzweifelt.

Wenn ich nur fest genug daran glaubte, dann würde alles wieder gut werden.

„Engelchen, es tut mir so leid!“ schluchzte Oma.

Opa legte mir den Arm um die Schultern. Er zitterte. Ich wand mich aus seinem Arm.

„Nein, nein!“ schrie ich. „Das kann nicht sein! Wir wollten uns doch heute am Strand treffen!“

Ich rannte zur Tür, riss sie auf, so dass sie krachend gegen den Rahmen flog. Schluchzend lief ich den Gang hinunter zur Notaufnahme. Vor der Tür fing mich eine Schwester ab.

„Du kannst dort nicht rein“, sagte sie und hielt mich mit beiden Armen fest.

Ich versuchte mich aus ihrer Umklammerung zu befreien, schlug um mich und trat ihr vors Schienbein. In dem Moment ging die große Flügeltür auf und ein Arzt kam heraus. Bevor sich die Türen wieder schlossen, sah ich, wie eine Schwester eine Frau auf der OP-Liege mit einem weißen Laken bedeckte. Ich wurde schlaff wie eine Puppe. Ich hatte das lange dunkle Haar meiner Mutter erkannt.

„Ich habe ihr gar nicht richtig Tschüss gesagt“, wimmerte ich.

 

 

Lange würde ich das nicht mehr ertragen. Meine Selbstbeherrschung schwand zusehends.

Der Stift in meiner Hand zerbrach mit einem Knacks. Zum Glück hörte sie es nicht.

 

 

Der Unfall war gute zehn Jahre her und trotzdem war es, als wäre es gestern gewesen.

„Sie fehlt mir.“

„Glauben sie mir, ich weiß, wie sie sich fühlen.“

„Wieso glauben sie das?“, giftete ich.

Die Mitleidsmasche zog bei mir nicht.  

„Haben sie schon einmal mit jemandem über den Tod ihrer Mutter gesprochen?“

Nach dem Unfall hatte ich ein oder zwei Mal eine Kindertrauergruppe besucht. Lea hatte wenig Interesse daran gezeigt, wie ich den Tod meiner Mutter verarbeitete. Damals schon hatte ich Probleme damit gehabt, mit Anderen über meinen Schmerz zu sprechen. Ihn in mich hinein zu fressen war dagegen ein Kinderspiel gewesen.

„Was ist denn mit ihrem Onkel geschehen?“

„Onkel Bernd war sofort tot.“  

 

7

 

„Hallo Leonie, wie geht es dir? Tut mir leid, dass ich so abweisend zu dir war, aber im Krankenhaus ist es immer schwierig, über Privates zu sprechen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie dort getratscht wird.“

Bei der hohen Frauenquote ergab sich das von selbst. Mugan war pünktlich zu unserer Verabredung erschienen. Es war Besuchszeit. Der Park füllte sich mit Patienten und Angehörigen. Jogginganzüge und Adiletten schoben sich über die Kieswege und reckten die blassen Gesichter in die Märzsonne.

Wieso eigentlich Privates? Ich war eine ehemalige Patientin von ihm, nicht mehr und nicht weniger. Oder?

„Nett von dir, dass du dir jetzt Zeit für mich nimmst. Du hast mich doch damals vor deiner Haustür gefunden?“

Er nickte.

„Weißt du, wie ich da hingekommen bin?“

Mugan starrte gedankenverloren auf einen Riss in der Mauer. Wieso konnte er mich nicht ansehen, während ich mit ihm sprach?

„Du warst einfach vor meiner Tür. Ich …“

Er schloss abrupt den Mund.

„Ich…? Und weiter? Mugan, bitte!“

Die Mauer war noch immer interessanter.

„Versteh doch, es ist nervtötend, einen Teil seiner Erinnerungen zu verlieren. Ich will endlich wissen, was mit mir passiert ist. Mir fehlt ein Riesenstück in meiner Vergangenheit und du bist mein einziger Anhaltspunkt. Bitte!“

Er trat von einem Bein auf das Andere, schaute abwechselnd auf den Riss in der Mauer, auf seine Uhr, überall hin, nur nicht in meine Augen. Er kramte in seinen Taschen und beförderte ein zerknülltes Päckchen Zigaretten hervor. Während er sich eine Zigarette ansteckte, zitterte seine Hand. Das erste Streichholz zerbrach, das zweite ebenfalls, erst mit dem dritten Streichholz gelang es ihm, seine Kippe anzuzünden. Parkinson oder Nervosität?

„Ich dachte immer, Ärzte leben gesund.“

„Das ist ein Klischee. Wir trinken Alkohol und essen Zucker, wie alle anderen Menschen. Nur wissen wir besser bescheid darüber, welche Folgen das hat.“

Er zuckte die Achseln.

„Ach Leonie, glaub mir, ich würde nichts lieber tun, als dir zu helfen. Aber ich denke, du brauchst einfach Zeit. Dann kommen deine Erinnerungen von ganz alleine wieder.“

Er zündete sich eine weitere Zigarette an und inhalierte tief. Die erste hatte er halbgeraucht auf den Boden geworfen und ausgetreten. Ich war es satt, dass jeder hier wusste, was das Richtige für mich war. Verdammt noch mal, ich wollte endlich die Wahrheit wissen.

„Ich bin schon seit Monaten in dieser Irrenanstalt. Soll ich hier etwa versauern? Du könntest mir wenigsten erzählen, was du weißt. Den Rest krieg ich während der Therapie mit Dr. Limea heraus!“

Mugan verschluckte sich am Rauch seiner Zigarette.

„Das ausgerechnet der Psychoklempner spielen darf, ist echt ein Witz. Wenn es nach mir ginge, würde der nicht mal auf zehn Meter Entfernung an dich heran kommen“, krächzte er hustend.

„Soll er dir doch erzählen, was passiert ist!“

Er wirkte richtig bissig; ein Hund, der einen Rivalen in seinem Revier entdeckt hat.

Ich starrte ihn ungläubig an.

„Willst du damit sagen, er weiß bescheid über meinen Unfall?“

„Ich muss jetzt wieder rein. Komm bitte nicht mehr hier her. Ich wünsche dir alles Gute.“

Er drehte sich um, zögerte kurz und kam noch einmal auf mich zu. Er drückte mir hastig einen Kuss auf die Stirn. Bevor ich etwas sagen konnte, war er verschwunden. Bah!

Ich verzog das Gesicht und wischte seinen Kuss weg. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum benahm er sich so komisch, sprach in Rätseln?

 

 

Was hatte sie in der Klinik zu suchen? Wütend schloss ich das Fenster und zog die Vorhänge zu.

„Tante, schick Laszlo los. Ich will, dass sie rund um die Uhr überwacht wird. Sie soll uns nicht noch einmal entwischen.“

Sie nickte.

 

 

Während ich zurückging, wurde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Möglichst unauffällig musterte ich die Leute um mich herum, keiner zeigte irgendein Interesse an mir. Wahrscheinlich wurde ich paranoid – kein Wunder nach der langen Zeit unter Verrückten.

Ich schob mich durch die Drehtür. Etwas strich mir über die Haare, reflexartig tastete ich danach. Nichts. Erst als ich in den Flur trat, sah ich, wer mich berührt hatte: leise krächzend flog der schwarze Vogel der Klinikleiterin vor mir her und verschwand im Gebäude. Ungläubig schüttelte ich den Kopf; ich war mir sicher, der Vogel hatte über mich gelacht.

 

Endlich hörte ich Stühle rücken, die Gruppentherapie war vorbei – ich hatte nichts davon mitbekommen. Ich ließ mir viel Zeit, um als Letzte den Raum zu verlassen. Schon wieder.

„Gibt es noch etwas, Leonie?“, fragte Dr. Limea.

„Kann ich kurz mit ihnen reden?“

„Wird das langsam zur Gewohnheit?“

„Was wissen sie über meinen Unfall?“

Er schloss die Tür und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen. Austritt verboten.

„Ich weiß das, was in ihrer Krankenakte steht. Sie wurden ohnmächtig in das Krankenhaus nebenan eingeliefert -“

„Den ganzen Kram kenne ich schon. Ich will hören, was sie darüber hinaus wissen. Das, was nicht in der Akte steht.“

„Wie kommen sie auf die Idee, ich wüsste mehr darüber?“, fragte er mit Unschuldsmiene.

„Sie wollen mir also nichts dazu sagen?“

Mann, nervte der.

„Leonie, ich kann ihnen nicht sagen, was ich nicht weiß.“

Er sprach mit mir wie mit einem Kleinkind. Ich kam in Kampfstimmung.

„Ich habe heute mit Mugan, dem Arzt, vor dessen Tür ich gefunden wurde, gesprochen. Raten sie mal, was der gesagt hat.“

Mit Genugtuung registrierte ich, dass er bei Mugans Namen zusammenzuckte.

„Sie haben heute mit Dr. Batam gesprochen?“

Seine Augenbrauen schoben sich zu einer einzigen Linie zusammen. Freaky. Ich trat einen Schritt zurück.

„Was hat er ihnen erzählt?“

„Er hat angedeutet, sie wüssten über meinen Unfall bescheid.“

Sein Gesichtsausdruck wurde zunehmend finsterer, aggressiver. Mein Plan, ihn zur Rede zu stellen, erschien mir inzwischen weniger brillant. Nur nicht den Mut verlieren.

„Für mich hörte es sich an, als wären sie sogar dabei gewesen, als mein Unfall passierte. Ist das so ein Machtspielchen? Der tolle Doc weiß was, was ich nicht weiß? Macht sie das scharf?!“

Es war ein Schuss ins Blaue.

Er traf ins Schwarze.

Jetzt sah er wirklich gefährlich aus. Ich war das Kaninchen, er das Raubtier. Beinahe erwartete ich ein Knurren zu hören.

„Spiel nicht mit dem Feuer!“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Gedanklich streifte ich dem Kaninchen mein Superwomanshirt über. Zusätzlich stellte ich mich hinter einen stabil aussehenden Stuhl. Nicht, dass ich wirklich glaubte, er würde sich davon aufhalten lassen. Aber einen Versuch war es wert.

„Also wissen sie etwas, wollen es mir aber nicht sagen?“

Todessehnsüchtiges Leonie-Kaninchen.

„Genau. Du wirst mir vertrauen müssen.“

Er war nicht zum Angriff übergegangen. Gut. Allerdings brachte mich seine überhebliche Art noch mehr auf die Palme.

„Vertrauen? Ihnen? Wie hat Mugan sich so nett ausgedrückt: einem Psychoklempner?!“, spuckte ich ihm vor die Füße.

Nun knurrte er wirklich. Egal. Mein Angriffsprogramm lief bereits auf vollen Touren.

Da lag des Rätsels Lösung direkt vor mir, zum Greifen nah auf einem Silbertablett, aber er ließ mich nicht heran. Meine bisher so mühsam aufrecht erhaltene Selbstbeherrschung fiel in sich zusammen. Ich sah rot.

„Ich scheiß auf Vertrauen!“

Feindselig starrten wir uns an. Das Raubtier und das tollkühne Kaninchen. Seine Selbstbeherrschung war eindeutig besser als meine.

 

 

Einatmen, ausatmen. Konzentrier dich, bleib ruhig. Erwürgte Patientinnen im Therapieraum ließen sich schlecht erklären.

 

 

„Leonie, sei vernünftig -“

„Auf Vernunft scheiße ich erst recht!“

Dass ich ungerecht war, war mir vollkommen egal. Ätzende Säure floss durch meine Adern. Ich wollte um mich schlagen. Ihn schlagen. Eine winzige Stimme in mir riet mir dringend davon ab - ich erstickte sie unter meinem T-Shirt.

„Leonie, tu das nicht. Bitte, lass es gut sein“, hörte ich ihn wie durch Watte. Hypnotisierende Worte. Beruhigende Klänge. Wasser, das über glatte Kieselsteine plätschert. Vergiss es. Jetzt zu stoppen hätte bedeutet, zu explodieren. Ich war ein Geysir. Meine Wut schoss ungehindert nach draußen.

„Was wissen sie denn schon? Haben sie Erinnerungslücken? Haben sie ihre Mutter verloren -und ihren Vater? Und das auch noch am gleichen Tag?“

Ich schaute ihn herausfordernd an – und sah, wonach ich gesucht hatte: seinen wunden Punkt.Ich grinste böse. Die dunkle Seite der Macht hatte das Kaninchen ergriffen.

„Wer ist denn bei ihnen gestorben? Ups, jetzt hätte ich fast unsere Rollenverteilung vergessen. Ich lege einen Seelenstrip hin und sie sehen zu! Eins interessiert mich trotzdem brennend: Waren sie auch live dabei? Ist ihnen dabei einer abgegangen?“

Knurrend machte er einen Schritt auf mich zu. Das Kaninchen hatte genug von der Kostümparty. Es wollte nur noch Kaninchen sein. Ich ließ es nicht.

„Komm schon, schlag zu!“, schrie ich ihn an.

Er ließ sich nicht provozieren. Im Gegenteil, er trat den Rückzug an. Wo war seine Grenze, was musste ich noch tun, damit er mir endlich Kontra gab? Mit Worten kam ich offensichtlich nicht weiter. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, hob die Fäuste.

Blitzschnell hatte er meine Handgelenke ergriffen. Ich kämpfte gegen ihn an. Genauso gut hätte ich versuchen können, mich aus stählernen Handschellen zu befreien. Ich keuchte vor Anstrengung, die Haut an meinen Handgelenken brannte. Als ich nicht mehr konnte, starrte ich ihn so mörderisch wie möglich an.

Mit dem was ich sah, hatte ich nicht gerechnet. Ich wollte wegschauen, konnte es aber nicht. Seine Augen waren aschgrau, kalt. Was passierte, wenn sie schwarz wurden? Würde er mich dann umbringen?

Die Synapsen in meinem Gehirn beendeten ihren Streik, mein Verstand nahm seine Arbeit wieder auf. Was hatte ich getan? Verzweifelt suchte ich in seiner Mimik nach einem Hinweis darauf, dass er mich gehen lassen würde. Unbeschadet.

„Es tut mir leid“, sagte ich kleinlaut. Vielleicht wirkte das besänftigend.

Ohne ein weiteres Wort ließ er mich los, drehte sich um und ging aus dem Zimmer. So nicht. Ich folgte ihm.

„Bitte warten sie! Es tut mir wirklich leid“, rief ich ihm hinterher. Mein Gewissen biss mich. Ohne klärendes Gespräch würde es damit nicht so schnell aufhören.

Er hob kurz die Hand, dann ging er weiter. Ich starrte ihm wie betäubt hinterher. Irgendwann stolperte ich in mein Zimmer zurück. Ich verkroch mich in mein Bett, zog mir die Decke über den Kopf und wünschte mir, nie wieder aufwachen zu müssen.

 

 

Das war knapp. Verdammt knapp. Noch eine Minute länger, und mir wären sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Ich hätte es an Ort und Stelle erledigen können. Aber der Plan musste eingehalten werden. Nur so würde es perfekt werden.

 

 

Ich stand auf dem Flur.

„Wenn du jetzt gehst, brauchst du gar nicht mehr zurückzukommen! Dann kannst du bleiben, wo der Pfeffer wächst!“

Der Untertitel lautete: Bleib stehen, bitte bleib stehen. Hör nicht auf mich, lass mich nicht alleine, ich ertrag es nicht, wenn du gehst. Er zuckte nur die Schultern und ging weiter, ohne sich umzudrehen. Es war zu spät. Er würde nie mehr zurückkommen. Ich wusste, dass ich ihn verloren hatte und nie wieder finden würde, egal wie sehr ich nach ihm suchte.

Ich wachte auf. Mein Kissen war feucht. Bisher war ich verfolgt worden, diesmal wurde ich verlassen. Schlimmer ging es nicht mehr – oder?

Dieser Traum war vollkommen anders. War es eine Erinnerung? Eine Vorahnung? Kannte ich den Mann? Haltung, Figur, Gang erinnerten mich an Dr. Limea. Wahrscheinlich hatte ich meine Kaninchen-Revolte in die Traumwelt mitgenommen.

Ich fühlte mich ähnlich mies wie an dem Tag, als ich meine Eltern verloren hatte – was mir selber reichlich überzogen vorkam. Es gelang mir nicht, das Gefühl loszuwerden und den Traum abzuschütteln. Bis zum Morgengrauen lag ich wach und grübelte.

 

 


8

 

Am nächsten Morgen fühlte ich mich, als wäre ein Schwertransporter über mich gerollt. Ich blieb apathisch im Bett liegen. Da Steffi nicht der unterlassenen Hilfeleistung angeklagt werden wollte, zog sie nach dem Schminken los, um einen Arzt zu holen. Mir fehlte der Antrieb, sie davon abzuhalten.

Grippaler Infekt, Bettruhe. Das war mir recht. So konnte ich meine nächste Therapiesitzung mit Dr. Limea herauszögern. Bei dem Gedanken, ihm gegenüber treten zu müssen, wurde mir schlecht.

Ich war gerade eingenickt, als es erneut klopfte. Niemand zuhause. Das Klopfen wiederholte sich. So konnte ich nicht wieder einschlafen.

„Herein.“

Das bereute ich umgehend, als ich sah, wer den Kopf durch die Tür steckte.

„Wie geht es ihnen? Ich habe gehört, sie wären krank.“

Dr. Limea trat in das Zimmer. Ich zog mir die Bettdecke bis zum Hals hoch. Er setzte sich.

Schweigend schaute er mich an. Okay, es wurde Zeit sich nach einem neuen Therapeuten umzusehen. Das wäre dann der dritte in drei Monaten. Ein übler Schnitt.

„Es tut mir leid, dass ich sie gestern im Stich gelassen habe.“

Wie meinen? In meinem Gehirn ratterte es erfolglos.

„Normalerweise gehe ich nicht einfach, wenn mich jemand ruft.“

Ich war dran mit Entschuldigen, aber ich kam nicht dazu.

„Vielleicht bin ich nicht der richtige Therapeut für sie…“

„Doch!“, sagte ich ziemlich laut.

Er war nervig, keine Frage. Aber er hatte die Pillen gestrichen. Und er war sexy. Nicht dass das eine Rolle spielte. Wenn schon Therapie, dann mit schönen Aussichten.

„Sie sind genau der Richtige für mich.“

Er grinste.

„Äh, psychologisch betrachtet natürlich.“

Er grinste breiter.

„Also, nicht körperlich.“

Ich redete mich gerade um Kopf und Kragen.

„Aha.“

„Sie wissen schon was ich meine!“

Wenigstens er hatte seinen Spaß. Als kleine Entschädigung.

„Dann tun wir einfach so, als wäre das gestern nie passiert.“ Er hielt mir seine Hand hin.

Handshake. Der Pakt mit dem Teufel war geschlossen.

 

 

Ich hatte den Ausrutscher von gestern wieder gerade gerückt, hatte mir ihr Vertrauen gesichert. Eigentlich hatte das Ganze mich weiter vorangebracht, mir kostbare Zeit erspart.

Sie wollte mich, keinen anderen. Umso besser.

 

 

Ich verschlief mehr oder weniger den ganzen Tag, ohne zu träumen.

„Du willst doch heute nicht schon wieder zu den Therapien gehen?“, fragte Steffi mich am nächsten Morgen entgeistert, als sie sah, dass ich mich in meine Jeans warf.

„Gönn dir besser noch einen Tag ohne den ganzen Mist hier. Bringt doch sowieso alles nichts. Übrigens war gestern Abend dein Therapeut noch mal hier, um nach dir zu sehen, aber du hast schon geschlafen.“

Sie wandte sich wieder ihrem Schminkspiegel zu. Sorgfältig trug sie die dritte Schicht Wimperntusche auf. Schwarze Fliegenbeine umrahmten ihre mit Glitterlidschatten bepinselten

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 06.05.2014
ISBN: 978-3-7368-0868-3

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