Prolog
Dunkel starrte ihr das Paar Augen aus dem Spiegel entgegen, vor welchem sie stand. Schwarz wie die Nacht. Oder schwarz wie ihre Seele. Sie wusste es nicht. Das Haar hing ihr in nassen Strähnen ins Gesicht, die Augen leer. Leer war das Stichwort, denn genauso fühlte sie sich. Da war nichts, wenn sie an die letzten paar Stunden dachte. Kein Gefühl. Keine Trauer und auch kein Gewissen, weil sie die Männer, die sie angegriffen hatten, einfach getötet hatte.
Falsch! Sie hatte sie nicht nur getötet. Sie hatte sie zerrissen. Hatte ihre Krallen, ihre Zähne, immer wieder in ihr Fleisch gehauen, bis kein Funken Leben mehr in ihnen weilte. Erst als ein paar starke Hände sich um ihre Arme legten und eine Stimme beruhigend auf sie einsprach, hatte sie aufgegeben.
Um sie herum das pure Chaos aus Leichen, Blut und Verderben. Nichts anderes hatten diese Männer gebracht. Sie hatten das Verderben über ihre Familie gebracht. Und ihr Vater?
Er hatte daneben gestanden. Hatte sich nicht gerührt und nur zugesehen, wie sie ihre Mutter getötet hatten, als wäre sie ein Stück Vieh gewesen. Ihr Schrei war kilometerweit zu hören gewesen. Doch seitdem? Seitdem fühlte sie einfach nichts mehr. Stunden waren vergangen, in denen sie draußen im Regen im Garten gestanden und den Stimmen zugehört hatte, zu denen man sie und ihre Schwester gebracht hatte.
Nun stand sie hier, in ihrem neuen Zimmer und starrte in den Spiegel. Ein leeres Augenpaar starrte ihr entgegen und sie wusste, der Wolf in ihr wollte mehr. Er hatte noch lange nicht genug, während sich das 10 jährige Mädchen wünschte, seine Mutter würde endlich wieder aufstehen und den Alptraum damit beenden.
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Der Wecker klingelte und riss sie aus ihrem Schlaf, der nicht mal 4 Stunden gedauert hatte. Müde streckte sie ihre Beine aus dem Bett, stellte den Wecker aus, bevor sie noch das ganze Haus weckte und fuhr sich durch das lange dunkle Haar.
Die Nacht war noch nicht vorbei. Draußen war es noch dunkel und es würde noch Stunden dauern, bis die ersten wach wurden und das Frühstück vorbereiteten.
Entschlossen stand sie also auf, ging an ihren Schrank und griff nach ihren Sportsachen. Dabei fiel ihr Blick in den Spiegel und dunkle Augen starrten ihr entgegen, gezeichnet von dunklen Ringen, die auf zu wenig Schlaf hindeuteten.
Eine Art Déjà-vu durchfuhr sie und ehe sie weiter darauf einging, schloss sie die Schranktüre schnell wieder.
Alles was mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte, hatte sie mittlerweile tief vergraben. Es war 5 Jahre her und sie wollte nicht mehr daran denken. 5 Jahre in denen sie gelernt hatte, ihre Wut und ihren Zorn zu bändigen.
Sie hatte gelernt Kontrolle über den Wolf zu bekommen und das nur dank der Hilfe ihrer Schwester und demjenigen, der mehr ein Vater für sie war, als sonst irgendjemand auf dieser Welt.
Das schlechte Gewissen zuckte durch ihre Gedanken, als sie an damals dachte. Ein Kopfschütteln vertrieb diese Gedanken wieder. Sie wollte nicht mehr daran denken. Sie wollte nie wieder daran denken, was sie getan hatte.
Kapitel 1
„Bist du sicher, dass du fliegen willst, Grace? Du solltest hier bleiben.“ Ein letzter Versuch, ihres Zwillings sie zu überreden, nicht nach Los Angeles zu fliegen. Doch die Dunkelhaarige blieb hart.
„Em, jetzt hör auf dir Sorgen zu machen. Wir telefonieren jeden Tag miteinander, okay?“ Ihre Schwester hat seit damals nicht aufgehört sich Sorgen um sie zu machen. Doch ihre Besorgnis in allen Ehren, sie musste langsam anfangen ihr eigenes Leben zu führen. Und dazu gehörte nun einmal, dass sie studierte.
Warum nicht in Chicago? Weil sie hier keine Uni gefunden hatte, die das anboten, was sie wollte. Ausserdem musste sie einfach weg um herauszufinden, wer sie alleine ohne ihre Schwester und dem Rudel war.
Das ging nun mal nur, wenn sie ein paar tausende Kilometer zwischen sich und ihre Familie brachte, auch wenn ihr die Entscheidung nicht leicht gefallen war. Im Gegenteil, es war die schwerste Entscheidung, die sie je in ihrem Leben getroffen hatte.
Und doch war sie nötig um endlich herauszufinden wer sie eigentlich war. Dumm nur, dass ihre Schwester gerade aussah wie ein Hund, dem man sein liebstes Spielzeug abegenommen hatte. Ohne Grund, wohl bemerkt.
„Emilia, ich verspreche dir hiermit hoch und heilig, dass du einen stündlichen Bericht von mir bekommst! Nur bitte hör auf, mich anzugucken, als hätte ich deinen Geburtstag vergessen.“ Zumal das ganz unmöglich war, hatte sie doch am gleichen Tag geburtstag. Es musste einfach sein und irgendwann würde ihre Schwester es auch einsehen. Die Stunden, die sie damit verbracht hatte, Robert dazu zu überreden, dass sie gehen durfte, hatten ihr gereicht. Schlussendlich hatte er jedoch eingeknickt. Allerdings nicht ohne ihr das Versprechen abzunehmen, dass sie nach Hause kam, wenn irgendetwas ungewöhnliches passierte, oder wenn sie das Gefühl hatte, dass der Wolf in ihr wieder herausbrach.
Bisher hatte sie ihn unter Kontrolle. Sie hatte sogar gelernt, ihn nur heraus zu lassen, wenn es unbedingt nötig war. Und das war seit damals nicht mehr der Fall gewesen. Also was sollte schon passieren. Sie hatte es unter Kontrolle. Grace hatte sich unter Kontrolle und das war alles was zählte.
„Aber was ist, wenn du dort jemanden kennen lernst, dich unsterblich verliebst und vergisst, wer du bist?“
„Bist du gerade nicht ein wenig sehr dramatisch Em?“ Ihr Blick ging zu ihrer Schwester, die auf ihrem Bett saß, während sie am Schrank ihre Sachen in ihren Koffer packte. Der Flug ging am nächsten Morgen in der Früh, da wollte sie nicht auch noch packen müssen. Und soweit sie es mitbekommen hatte, war am Abend sogar eine Abschiedsfeier geplant gewesen.
„Ganz und gar nicht. Ich denke realistisch, das ist alles. In LA kann dir alles passieren. Denkst du gar nicht daran, was alles passieren kann, wenn du dich dort verwandelst?“ Und wie sie daran dachte. Jeden Tag dachte sie daran, was alles passieren könnte. Dort war sie auf sich alleine gestellt. Sie konnte nicht mal eben zum Rudel laufen und hoffen, dass jemand ihren Mist wieder zurecht bog. Nein, dort war sie ganz alleine auf sich gestellt.
„Doch Em, ich denke jeden Tag daran. Aber was soll es bringen, ständig in Angst leben zu müssen. Die Vergangenheit hat mir gezeigt, dass es nichts bringt, wenn man sich nur versteckt. Warum also das Leben nicht genießen.“
Nun war sie rüber zum Bett gegangen, hockte sich vor ihre Schwester und nahm ihre Hände in ihre eigenen, drückte diese einmal kurz.
„Sei bitte vorsichtig Grace. Bitte versprich es mir. Du bist dort alleine. Dort ist niemand der dir helfen kann, oder wird. Ich hab Angst. Mehr nicht.“ Mehr musste sie gar nicht mehr sagen. Grace spürte es auch so. Es mochte ein Zwillingsding sein. Es konnte aber auch an ihren Wolfsgenen liegen. So oder so konnte sie ihre Schwester verstehen, denn sie würde nicht anders reagieren oder handeln. „Ich passe auf, ich verspreche es dir.“
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Emilia hatte erst Ruhe gegeben, als sie wirklich sicher sein konnte, dass Grace wusste was sie tat und auf sich aufpassen würde. Am Schluss hatte Grace ihre Schwester sogar so weit bekommen, dass sie ihr noch beim Packen der restlichen Sachen half. Wenn auch eher widerwillig, wie sie hinterher feststellen musste. Denn wirklich zufrieden war Emilia immer noch nicht, ihre Schwester einfach so ziehen zu lassen. Ihr Alpha hatte es aber abgesegnet, also stand ihrem Umzug nach LA nichts mehr im Wege. Etwas, was Emilia zähneknirschend hingenommen hatte. Und nach 100 weiteren Zusagen, dass sie aufpassen und sich melden würde, sollte etwas sein, war das Thema auch endlich beendet gewesen.
Jetzt wollte Grace sich vollkommen auf ihr neues Leben konzentrieren. Ein Leben fernab von ihrer Familie, ihren Freunden und vor allem von ihrer Vergangenheit. Erst am Morgen hatte Emilia ihr erzählt, dass sie wieder bei ihrem Vater gewesen war. Sie hatte sie gefragt, warum sie ihn nie besuchen ginge. Grace war seit 9 Jahren nicht mehr bei ihm gewesen. Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, war der Tag gewesen, an dem sie ihre Mutter verloren hatte. An dem sie ein Stück von sich selbst verloren hatte. Sie konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als sie ihre Schwester in die Augen blickte. Pure Angst hatte aus ihnen gesprochen, weil Grace wie verwandelt gewesen war. Sie war nicht mehr sie selbst gewesen. Der Wolf hatte damals die Kontrolle über sie genommen. Hatte ihr Handeln und ihr Denken kontrolliert, regelrecht gesteuert.
Es war der Moment gewesen, an dem Grace Angst vor sich selbst gehabt hatte. Angst, dass sie ihrer Schwester etwas antun könnte. Ihrer Familie, die ihr noch geblieben ist. Wovor sie jedoch keine Angst gehabt hatte, war der Moment, als sie ihren Vater angeschaut hatte. Die Gier danach, ihm die Kehle aufzureißen war groß gewesen. Sie wollte ihn dafür leiden lassen, was er getan hatte. Nämlich nichts. Er hatte nur daneben gestanden und hatte zugesehen, wie die Jäger ihre Mutter regelrecht geschlachtet haben. Bei Grace sind die Sicherungen durchgebrannt und der Wolf in ihr hat den Rest erledigt. Am Ende war kein Jäger mehr übrig gewesen. Sie konnte die Schreie ihrer Schwester immer noch in ihren Ohren klingeln hören.
Die Bitte danach aufzuhören und sich zurück zu verwandeln. Erst als das restliche Rudel eintraf und ihr Alpha sie nach draußen zog, hatte sie zu sich selbst zurück gefunden.
Das war der Moment, als sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hatte. Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ihn nie wieder sehen. Emilia war da anders. Emilia war schon immer anders gewesen. Sie hatte nie die Hoffnung aufgegeben, dass ihr Dad wieder wie früher werden würde.
Dass er wieder mit ihnen Zelten ging. Oder gemeinsam auf die Jagd. Dass sie gemeinsam einfach Zeit als Familie verbrachten. Grace hatte es aufgegeben, ihr zu sagen, dass nichts mehr wie früher werden würde.
Die Zeiten einer glücklichen Familie waren vorbei. Sie hatten jetzt eine neue Familie. Etwas womit sich Grace mittlerweile abgefunden hatte. Emilia jedoch besuchte ihren Vater immer noch einmal die Woche. Brachte ihm etwas zu essen, machte seine Wäsche, räumte bei ihm auf. Alltägliche Dinge, die er alleine anscheinend nicht mehr auf die Reihe bekam.
Laut Emilia saß er den ganzen Tag nur in seinem Sessel in seiner Holzhütte außerhalb der Stadt und starrte aus dem Fenster.
Ob ihn der Tod seiner Frau mitgenommen hatte? Mit Sicherheit. Doch schien es ihn nicht im geringsten zu interessieren, dass er noch zwei Töchter hatte, die ihn mehr als je zuvor brauchten.
In Robert hatte Grace jemanden gefunden, der mehr Vater gewesen war in den letzten Jahren, als es ihr Vater je hätte sein können.
Robert hatte sich den beiden Mädchen angenommen, als fest stand, dass ihr Vater sich nicht um sie kümmern würde. Er hatte sie aufgenommen und ein Zuhause gegeben. Natürlich hatten sie immer dem Rudel angehört, doch sie hatten außerhalb gewohnt. Ihre Mutter hatte das Stadtleben gehasst, weswegen sie in einem Haus nur wenige Kilometer außerhalb der gewohnt hatten. Für Grace war es dennoch ungewohnt gewesen, in eine neue Umgebung zu kommen. Sie musste sich an das neue Leben erst gewöhnen. Und die erste Zeit hat sie niemand zu Gesicht bekommen, außer Robert und Emilia. Ihre Schwester hatte relativ schnell neue Freunde im Rudel gefunden. Aber damit hatte sie auch noch nie wirkliche Probleme gehabt. Die Menschen mochten sie, während Grace eher lieber für sich war und nur wenig von sich selbst preis gab. Man konnte nicht behaupten, dass sie viele Freunde hatte. Dafür ging sie einfach zu wenig raus.
Umso mehr musste sie diese Reise nach LA machen. Es war gefährlich, der Wolf konnte jederzeit wieder herausbrechen. Sie konnte jederzeit wieder die Kontrolle über sich verlieren, doch war das ein Risiko, das sie bereit war einzugehen.
Es war ein wichtiger Schritt für sie. Sie wollte und musste einfach herausfinden, wer sie ohne ihre Familie, ohne ihre Schwester war.
Und vor allem wollte sie die Vergangenheit endlich hinter sich lassen und ein neues Kapitel in ihrem Leben einschlagen.
Sie hatten beide die Highschool beendet, konnten aufs College gehen oder sonst irgendwas machen.
Robert hatte damals darauf bestanden, dass sie Unterricht bekommen. Man konnte Grace in ihrem Zustand nicht auf eine öffentliche Schule stecken. Daher haben sie privaten Unterricht bekommen. Bis Robert entschieden hatte, dass Grace sich so weit unter Kontrolle hatte, dass man sie auf eine Schule schicken konnte. Das war vor zwei Jahren gewesen. Das letzte Jahr hatte sie an einer Highschool verbracht und diese auch beendet.
Grace fühlte sich nun bereit, den nächsten Schritt zu gehen. Sie wollte studieren. Sie wollte ein College besuchen und ein ganz normales Leben führen.
In Chicago war ihr das unmöglich. Hier wurde sie immer wieder daran erinnert, was passiert war. Sie wollte es endlich hinter sich lassen. Außerdem hatte LA ein sehr gutes College, an dem sie Musik studieren konnte.
Schon als kleines Kind, hatte ihre Mutter ihr das Gitarrenspielen beigebracht. Grace war damals schon Feuer und Flamme dafür gewesen. Und jetzt nach dem Tod ihrer Mutter, wollte sie ihr Andenken in Ehren halten.
„Bist du bereit für dein neues Leben,“ riss die Stimme von Robert sie aus ihren Gedanken. Die Abschiedsfeier war in vollem Gange und sie hatte wie immer nur dabei gesessen und darüber nachgedacht, was die letzten Tage und Jahre passiert war. Was aus ihnen geworden war und wo sie wohl in den nächsten Jahren sein würden.
Sie war einfach schon immer ein Kopfmensch gewesen. Jemand der alles immer erst überdenken musste, bevor er handelte.
„Nicht wirklich nein. Euch zurück zu lassen bricht mir das Herz.“
„Du kannst dich immer noch dagegen entscheiden und hier bleiben. Chicago hat auch gute Unis,“ sprach Robert leise.
Grace schüttelte den Kopf. Es ging einfach nicht. Wie lange träumte sie davon, ihr Hobby zu ihrem Beruf zu machen. Und Chicago bot einfach nicht das, was sie suchte.
„Falls irgendetwas sein sollte, ruf uns an. Du bist hier jederzeit willkommen,“ setzte ihr Alpha noch hinterher. Er schien zu spüren, dass sie irgendetwas bedrückte. Und wenn er genau darüber nachdachte, wusste er wieso sie gehen wollte und wahrscheinlich würde er es genauso machen.
Es war eine Art Flucht vor der Vergangenheit. Eine Flucht vor sich selbst, um herauszufinden, wer man wirklich war.
Meistens fand man das nur heraus, wenn man sich seinem bisherigen Leben abwandte und irgendwo ein neues begann.
Und wenn es nur für ein paar Monate war. Wenn Grace diese paar Monate brauchte, dann sollte sie sie nutzen.
In Chicago hatte sie jedenfalls immer einen Platz, an den sie heimkehren konnte. Auch wenn sie es aktuell vielleicht nicht als ihr Zuhause betrachtete. Robert war sich sicher, dass sie es tun würde wenn sie erst einmal in LA war, weit ab von ihrer Familie. Von ihrem Rudel.
„
Emilia
Im Gegensatz zu ihrer Schwester, war sie keine typische Frühaufsteherin. Sie hatte keine Probleme damit, früh aus dem Bett zu kommen wenn es sein musste. War dies aber nicht nötig, blieb sie auch schon einmal länger im Bett liegen. Heute jedoch war nicht der Tag für langes herum trödeln. Der Flug ihrer Schwester ging um 9. Um 7 mussten sie am Flughafen sein und um 5 klingelte somit der Wecker.
Ein wenig wehmütig war ihr dabei immer noch. Ihr gefiel es nicht, dass Grace sie und das Rudel einfach verließ. Es kam ihr egoistisch vor, auch wenn sie ihre Schwester verstehen konnte.
Zwar hatte sie nicht mit den gleichen Dämonen zu kämpfen wie Grace. Jedoch machte ihre Vergangenheit auch ihr zu schaffen, weil es Grace zu schaffen machte. Sie konnte es regelrecht spüren, wie sehr sie darunter litt. Am schlimmsten jedoch war es für sie, dass sie ihr einfach nicht helfen konnte.
Grace fühlte sich hier nicht mehr wohl und das spürte Emilia. Sie ergriff die Flucht vor ihrem Leben. Vor dem was sie nun einmal war. Emilia hatte noch nie Probleme gehabt, den Wolf in sich drin unter Kontrolle zu halten. Ganz anders als ihre Schwester. Doch was passierte, wenn er in LA ausbrach. Wenn sie dort drüben die Kontrolle verlor. Niemand war da, der ihr helfen konnte. Es würde niemanden geben, der eingreifen konnte, sollte es wirklich so weit kommen.
Auch wenn Robert versichert hatte, dass er einen befreundeten Werwolf dort drüben kannte, der ein Auge auf Grace warf. Beruhigt war Emilia damit aber noch lange nicht. Sie konnte erst wieder ruhiger schlafen, wenn Grace irgendwann wohlbehalten wieder beim Rudel war.
Sie musste es jedoch akzeptieren. Ihre Schwester hatte schon immer einen eigenen Kopf besessen. Das merkte sie immer wieder, wenn sie sie versuchte zu überreden, ihren Dad zu besuchen.
Es war nichts zu machen. Sie weigerte sich partout, auch nur in seine Nähe zu kommen. Und irgendwo konnte sie sie verstehen. Es hatte sie nach dem Vorfall damals auch einiges an Überwindung gekostet, doch wen hatte er denn noch. Das Rudel hatte sich gegen ihn gewandt. Grace wollte nichts mehr von ihm wissen und ihre Mom war tot. Es gab nur noch sie, auch wenn sie nicht glaubte, dass ihre Besuche etwas bewirkten. So war es zumindest für sie ein weg, sich langsam wieder besser zu fühlen.
Langsam wurde es Zeit, herunter zum Frühstück zu gehen, bevor Robert noch persönlich hinauf kam um sie zu wecken. Dabei war sie längst fertig umgezogen und zurecht gemacht.
Sie stand einfach nur da, betrachtete sich gedankenverloren im Spiegel und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es wirklich richtig war Grace ziehen zu lassen.
Lange dunkle Haare umrahmten ihr, von der Sonne gebräuntes, Gesicht. Dunkelbraune Augen starrten ihr entgegen, die so voller Neugier und Lebensfreude steckten. Doch in diesem Moment war in ihnen einfach nur pure Traurigkeit zu erkennen. Es fühlte sich an, als würde sie einen Teil von sich selber verlieren. Ihr ganzes Leben hatte sie an der Seite ihres Zwillings verbracht und nun war der Tag gekommen, an dem sie sie verließ. Noch nie waren sie auch nur eine Sekunde getrennt gewesen. Früher hatte man immer Scherze darüber gemacht, ob sie nicht doch irgendwo zusammengewachsen waren, weil man die eine nie ohne die andere gesehen hatte.
Diese Zeiten waren nun vorbei. Grace würde sie verlaßen und es war ungewiss, wann sie wieder kam. Am liebsten hätte sie sich an sie gefesselt und wäre einfach mitgeflogen. Doch das war unmöglich. Sie hatte ihr Studium hier in Chicago und das Rudel brauchte sie. Ganz davon abgesehen, dass sie ihren Dad nicht verlassen konnte. Die anderen aus dem Rudel würden sicher nicht einmal die Woche dort vorbeigehen und nach seinem Zustand schauen.
Er hatte nur noch sie. Er brauchte sie und sie brauchte ihn. Aber sie brauchte auch ihre Schwester. Das wurde ihr jetzt erst so richtig bewusst, wo es so weit war, dass sie sie verließ.
„Hey, ich komm wieder!“ Emilia zuckte zusammen und schaute zur Türe. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Grace das Zimmer betreten hatte.
„Woher…?“
„Ich sehe es dir an der Nasenspitze an, dass irgendetwas nicht stimmt.“ Wie sie selbst hatte Grace lange braune Haare, die zu den Spitzen hin in sanften Wellen auf ihre Schulter fielen, dunkle Augen und sonnengebräunte Haut. Sie beide besaßen die Nase ihrer Mutter, schmal und klein.
Wenn sie sich im Spiegel betrachteten, glichen sie wie ein Ei dem anderen. Grace hatte einmal gescherzt, dass sie sich die Haare abschneiden konnte, dann würde man sie wenigstens auseinander halten können. Doch Emilia wusste, dass ihre Schwester das niemals übers Herz bringen würde.
Und mittlerweile hatte jede ihren eigenen Style entwickelt. Während Grace lieber Jeans und Tops anzog, hin und wieder mal eine Lederjacke, war Emilia eher diejenige, die auch gerne mal ein Kleid anzog. Vor allem im Sommer liebte sie diese leichten Sommerkleider. Sie konnte es einfach nicht leiden, wenn zu viel Stoff an ihrer Haut klebte, während draußen die Sonne brannte.
„Ich finde immer noch, du solltest hier bleiben. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, Grace,“ sagte sie, während sie sich eine der vielen Haarklammern von ihrem Nachttisch nahm und ihren Pony zurücksteckte.
„Und ich habe kein gutes Gefühl dabei, wenn ich hier bleibe. Versteh das doch. Es muss einfach sein.“
„Aber wieso? Wieso gerade jetzt?“ Wieso hatte sie sich nicht gleich letztes Jahr, nach ihrem Abschluss dafür entschieden? Warum musste sie überhaupt fliegen? Hier gab es Menschen, die ihr helfen wollten. Menschen die sie liebten.
„Weil ich das Gefühl habe, hier keine Luft mehr zu bekommen. Weil ich das Gefühl habe, mein Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben Em. Ich kann das nicht mehr. Ich muss es einfach tun. Für mich selber, verstehst du?“
Nein, sie verstand es nicht. Aber es brachte auch nichts, ihr da weiter herein zu reden. Grace würde ihre Meinung nicht mehr ändern. Egal wie sehr sie sich auch dagegen sträubte.
„Ich liebe dich Em, wie niemanden sonst auf der Welt. Und es ist die schwerste Entscheidung meines Lebens. Aber ich muss es tun, damit ich endlich Frieden finden kann, mit dem was passiert ist.“
Emilia seufzte leise. Es würde eh nichts bringen weiter zu protestieren. Grace war schon immer Stur gewesen. Eine Eigenschaft die sie sich mit ihrem Dad teilte.
„Und jetzt komm, Robert wartet mit dem Frühstück auf uns. Oder willst du unsere letzten Stunden etwa schmollend verbringen?“
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Grace hatte recht gehabt. Sie wollte nicht schmollen oder traurig sein, auch wenn sie das nur schwer abstellen konnte. Sie wollte die letzten Stunden mit ihrer Schwester lieber genießen. Viele hatten sie davon nämlich nicht mehr.
Robert hatte angeboten, sie zum Flughafen zu fahren, damit sie sich kein Taxi nehmen musste. Außerdem wollte er sich am Flughafen von ihr verabschieden. Das Rudel kam auch ein, oder zwei Stunden alleine aus. Davon mal abgesehen waren die meisten eh nicht daheim. Und die, die sich heute Morgen nicht von Grace verabschiedet hatten, hatten es gestern Abend getan.
Das Frühstück war eher schweigend verlaufen. Jeder hing seinen Gedanken hinterher und niemand traute sich auszusprechen, was jeder im Rudel vermutete. Die Aktion würde nach hinten losgehen. Emilia war sich sicher, dass es nicht gut ging. Sie kannte Grace. Sie kannte ihr Temperament. Damals hatte sie es mit eigenen Augen gesehen. Seitdem war nichts mehr dergleichen passiert. Aber auch nur, weil sie hier ihren Halt hatte. Hier hatte sie Menschen, die ihr halfen den Wolf zu kontrollieren. Emilia hatte Angst, dass Grace es alleine nicht schaffen würde. Es war vor allem Robert, Liam, der wie ein Bruder für sie war und ihr, Emilia zu verdanken, das ihre Schwester sich wieder gefangen hatte. Zwar hatte es gedauert, aber sie hatten es geschafft.
Doch was war, wenn sie nicht bei Grace waren. Wenn Grace in Situationen kam, die sie alleine nicht bewältigt bekam? Emilias Gedanken kreisten immer wieder um Momente wie diese - was wäre wenn?
Die Dunkelhaarige redete sich den kompletten Weg zum Flughafen ein, sie müsse ihr einfach vertrauen. Ihre Schwester wusste was sie tat und wenn es das war, was sie für richtig hielt, dann sollte sie ihr einfach glauben. Sie musste einfach daran glauben, dass es gut ging und darauf vertrauen.
Im Endeffekt wollte sie Grace nur glücklich sehen. Wenn es das war, was sie wirklich glücklich machte, dann würde sie sich dem auch nicht in den Weg stellen. Das Problem dabei war jedoch, dass sie immer noch das Gefühl hatte, dass Grace sich unsicher war. Egal wie vehement sie behauptete, das Richtige zu tun, spürte Emilia einfach, dass da noch mehr war.
„Okay wir sind da,“ riss Roberts Stimme sie aus ihren Gedanken und der Motor des Wagens verstummte. Vor ihnen das riesige Gebäude des Flughafens und bevor Emilia aussteigen konnte, konnte sie ein kurzes Zögern bei ihrer Schwester sehen, ehe diese entschlossen die Türe öffnete und ausstieg.
Emilia tat es ihr gleich und stieg schließlich aus, während Robert schon längst den Koffer aus dem Kofferraum geholt und abgestellt hatte.
„Bist du dir wirklich sicher? Du kannst immer noch umdrehen.“ Die junge Studentin konnte den eindringlichen Blick erkennen, den Robert ihrer Schwester zuwarf. Wieder ein kurzes Zögern, ein Blick zum Flughafen, ehe sie nickte und sich zurück wandte und den Griff des Koffers in die Hand nahm.
„Lasst uns gehen, sonst verpasse ich meinen Flug.“ Emilia warf Robert einen zweifelnden Blick zu, dieser zuckte jedoch nur die Schultern und folgte der jungen Frau. Es dauerte einen Moment, ehe auch Emilia ihr folgte. Schlussendlich konnte sie es eh nicht ändern, egal wie sehr sie sich dagegen jetzt wehren würde. Irgendwann war auch der Moment gekommen, an dem sie aufgab. Und dieser war jetzt eingetreten. Sie hatte einfach keine Kraft mehr, Grace davon zu überzeugen, dass es falsch war was sie tat. Dass sie nicht nach LA gehörte, sondern nach Chicago.
Das beklemmende Gefühl in ihrem Bauch wurde dadurch jedoch nicht besser. Im Gegenteil. Je näher der Moment kam, an dem Grace in den Flieger steigen würde, desto beklemmender wurde das Gefühl.
Niemand sagte ein Wort auf der Suche nach dem Gate. Und als der Moment gekommen war, an dem sie sich verabschieden mussten, stiegen Emilia doch die Tränen in die Augen. Auch wenn sie sich feste vorgenommen hatte nicht zu weinen, konnte sie sie in diesem Moment einfach nicht mehr stoppen. Ein Teil von ihr würde fehlen, für unbestimmte Zeit einfach nicht mehr da sein.
Grace schien zu merken, dass Emilia sehr zu kämpfen hatte, weswegen sie den Koffer los ließ und Emilias Gesicht zwischen ihre Hände nahm.
„Vergiss nicht. Ich werde immer bei dir sein. Egal was passiert, wir gehören zusammen okay? Ich liebe dich Em und ich verspreche dir, dich mit Briefen, Mails und Anrufen zu zu spammen, bis du die Schnauze voll von mir hast!“
Ein Lachen erklang, obwohl ihr gar nicht nach Lachen zumute war. Doch Grace hatte es schon immer geschafft, sie aufzubauen. Ihr ein Lachen zu entlocken schien für ihren Zwilling so einfach zu sein, während sie sich heute immer noch fragte, wie sie ihrer Schwester helfen konnte, damit es ihr besser ging.
Grace Lächeln erreichte schon seit Monaten nicht mehr ihre Augen. Ihre Augen zeigten immer eine gewisse Traurigkeit und Emilia hoffte so sehr, dass ihre Schwester in LA das fand wonach sie suchte. Sie hoffte aus tiefstem Herzen, dass sie dort glücklich werden würde, auch wenn sie sich wünschte sie würde einfach hier bleiben und sich helfen lassen.
So wurde ihr doch in diesem Moment bewusst, dass Grace hier niemals glücklich werden würde, wenn sie nicht wenigstens versuchte, irgendwo anders einen Neuanfang zu starten. Und Robert hatte Recht. Am letzten Abend kam er zu ihr und erzählte ihr, dass Grace genau das jetzt brauchte. Sie brauchte diesen Abstand um herauszufinden was sie als Person eigentlich aus machte. Wer sie eigentlich war. War sie einmal in LA, würde es sicher nicht lange dauern, bis sie anfing ihre Heimat zu vermissen. Roberts Worte hallten immer noch in ihrem Kopf wieder und sie hoffte, dass er Recht behielt.
„Also dann. Ich muss los. Ich rufe dich an, sobald ich gelandet bin. Versprochen. Mach dir nicht so einen Kopf, mir geht es gut Em.“
Ein kurzes Lächeln, eine kurze Umarmung, ehe sie sich umdrehte und hinter der Absperrung verschwand, die Besucherseite und die Seite für die Reisenden trennte.
„Komm lass uns fahren. Zuhause wartet Arbeit auf uns.“ Robert legte Emilia einen Arm um die Schulter und zog sie sachte mit sich mit. Am liebsten wäre sie noch ein wenig hier geblieben und hätte gewartet. Vielleicht überlegte Grace es sich doch noch einmal anders. Und wenn ja, war niemand da, der sie mit nach Hause nehmen konnte. Wunschdenken, das war Emilia bewusst, aber tief in ihr drin war immer noch ein Funken Hoffnung, dass sie umdrehte, weil sie der Meinung war, ihre Schwester nicht alleine lassen zu können.
„Was glaubst du wie lange wird sie dort bleiben? Wie lange wird sie ohne das Rudel auskommen? Ohne mich?“
Robert sah sie lange an, eigentlich solange bis sie beim Auto waren und eingestiegen. Erst dann gab er ihr eine Antwort, während er den Schlüssel drehte und den Motor startete.
„Ehrlich gesagt, gebe ich ihr keine 4 Wochen. Aber ich weiß Grace ist stur und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, wird es durchgezogen. Wir können nur hoffen, dass in LA nichts passiert, was uns auffliegen lässt. Und du vergisst, ich habe immer noch Freunde dort. Sie werden auf sie aufpassen, dessen bin ich sicher.“
Damit nahm er ihr jedoch nicht im geringsten ihre Sorgen. Emilias Gedanken drehten sich immer wieder und wieder darum, was aus ihrer Schwester geworden war, seit sie damals von den Jägern angegriffen worden sind. Seit sie ihre Mutter tot war, hatte Grace sich verändert. Emilia erkannte sie teilweise kaum wieder. Geschweige denn, dass sie zu ihr durch drang.
Vielleicht hatten sie alle recht. Vielleicht war es nötig, damit sie wieder die Alte wurde. Die Grace, mit der sie früher immer zusammen bis spät Abends aufgeblieben war und unter der Decke mit der Taschenlampe Bücher gelesen hatte. Oder mit der sie oft die Rollen getauscht hatte, besonders dann wenn neue Wölfe zum Rudel stießen.
„Mach dir keine Sorgen, sie wird auf sich aufpassen, dessen bin ich mir sicher. Und bis sie wieder da ist, kümmerst du dich um die neuen. Ich glaube die Aufgabe nimmt dich genug in Anspruch, damit du dir keine Gedanken machen kannst.“
Emilia lächelte. Robert hatte recht. Sie sollte aufhören sich Sorgen zu machen. Grace war alt genug und sie war erwachsen. Was sie jetzt brauchte, war Ablenkung. Die neuen im Rudel würden dafür sorgen, dass sie sich keine Gedanken um ihre Schwester machen konnte.
Texte: Jenny Price
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2022
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