1. Tag
Er verdrehte die Augen. » He, Raphael! «, die Stationsschwester rief ein zweites Mal.
Raphael leistete seinen Zivildienst nur im Krankenhaus ab, weil er sich zu spät um einen anderen Platz bemüht hatte. So konnte er aber seine Wohnung behalten und brauchte nicht umzuziehen.
» Ja, was ist? « Mit einem aufgesetzten Lächeln drehte er sich zur Schwester um.
» Wir haben eine neue Patientin. Deine Aufgabe wird es sein mehrmals am Tag bei ihr hereinzuschauen und dich um sie zu kümmern. Sie möchte keinen Besuch empfangen und damit ihr die Decke nicht auf den Kopf fällt, wirst du sie ein wenig ablenken. Sie ist in deinem Alter, da werden dir bestimmt ein paar Gesprächsthemen einfallen. «
» Weshalb ist sie denn hier? «
» Es müssen einige Untersuchungen mit ihr durchgeführt werden. Die dauern die nächsten fünf Tage an. Verdacht auf akute Leukämie im fortgeschrittenen Stadium. «
Raphael runzelte die Stirn. Er hatte schon früh gemerkt, dass er dem Personal alles aus der Nase ziehen musste. Nur nicht zu viel erzählen, schien hier die Devise zu sein.
» Das heißt genau? «
» Das heißt «, erwiderte Schwester Irene, » dass sie vermutlich bald sterben wird. Die Krankheit scheint, wie erste Blutuntersuchungen ergeben haben, ziemlich weit fortgeschritten zu sein. Genaueres wissen wir erst Ende der Woche. Denk dran, sie ist gerade mal dreiund-zwanzig Jahre alt.«
» Oh shit!“ «, dachte Raphael. » Warum muss ich das machen? «
» Ganz einfach, du bist der Zivi und wir sind eh schon knapp besetzt. Daher fällt das ausnahmsweise in deinen Aufgabenbereich. Uns ist schon bewusst, dass das nicht ganz einfach wird. Aber glaubst du uns gefällt das, dass wir kaum noch Zeit für die Patienten haben?! «
» Was genau soll ich denn machen? «
» Du sollst einfach mehrmals am Tag nach ihr schauen und dich mit ihr unterhalten oder im Park spazieren gehen, comprende? «, Schwester Irene lächelte.
» Ist okay. Ich gebe mir Mühe ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten...«
» Hör mal zu! Ich weiß nicht, ob du das verstanden hast. Es kann sein, dass sie bald stirbt und sie ist darüber informiert. Nimm das nicht auf die leichte Schulter...«
» Ja, ja. Verstanden. Ist scheiße, aber ich kenn’ sie doch gar nicht und außerdem sollen wir doch Distanz zu den Patienten aufbauen. So, kann ich meine Runde fertig machen? Die Patienten warten. «
Langsam kotzte Raphael der Job an. Er war froh, wenn er die Zeit um hatte. » Hast du nicht was vergessen? «
Raphael zuckte mit den Schultern, » Was denn? «
» Sie heißt Julia und liegt im Zimmer 405. Stell dich ihr nach deinem Rundgang vor. Alles klar?! «
» Wird gemacht. Kann ich weiter arbeiten oder ist noch was? «
» Tu dir keinen Zwang an. « erwiderte die Schwester. In der Frühschicht war Raphael fast immer schlecht gelaunt, aber was sollte sie machen, dass gehörte zum Pflegedienst nun mal dazu. Sonst machte er seine Arbeit richtig gut und war bei den Patienten sehr beliebt.
Während seines morgendlichen Rundgangs überlegte er, wie er die Sache mit Zimmer 405 angehen sollte. Er hatte sich angewöhnt die Patienten nach ihren Zimmernummern zu benennen, um nicht zu persönlich zu werden. Was er auch gar nicht wollte. Da ihm zu seiner neuen Aufgabe nichts einfiel entschloss er sich die Sache spontan anzugehen. Ihm fehlte nur noch Zimmer 425 und dann war er mit seiner Runde fertig. Dort lag Frau Meyer.
» Die zickt sowieso wieder rum, weil sie sich nicht von einem Mann waschen lassen will. Eigentlich könnte ich gleich eine Schwester holen gehen. «, dachte Raphael.
Er machte sich bereit. Klopfte an und ging ins Zimmer. » Einen schönen guten Morgen. Zeit zum Aufstehen. Wie geht’s uns denn heute? «
Er konnte sich das grinsen gerade noch verkneifen. Er ahnte, was jetzt kam. Er mochte Frau Meyer und das hier war so was ihr allmorgendliches Ritual. Obwohl Frau Meyer schon Ende siebzig war, war sie immer noch schlagfertig und immer für einen Spaß zu haben.
» Wie es UNS geht, weiß ich nicht, aber mir geht es blendend. Wissen Sie, ich liege nur im Krankenhaus, weil ich momentan nichts besseres zu tun habe. Die Frage wie es mir geht können Sie sich getrost in den Allerwer...«
» Na, Frau Meyer wir wollen doch nicht unhöflich werden. Fertig zum waschen? «
Sofort unterbrach Frau Meyer Raphael und polterte los, » Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?! Ich lasse mich nicht von Ihnen und auch von sonst keinem Mann waschen. Sie scheinen schwer von Begriff zu sein, was denken Sie sich eigentlich dabei? Holen sie eine Schwester und damit basta. «
» Na schön, ihr Wunsch ist mir ein Befehl. « An der Tür drehte sich Raphael um, » Basta sagt heutzutage kein Mensch mehr. «, er lachte.
» So, warten sie es ab. Kommt alles wieder in Mode! «, konterte Frau Meyer. » Und Sie könnten mal wieder zum Friseur gehen. Ihre Haare sind länger als die einiger Schwestern. «
» Würde sie mir sofort abschneiden, wenn...«, er machte eine theatralische Pause, » sie sich von mir waschen lassen würden. «
» Unverschämtheit! Machen Sie, das Sie rauskommen. «, aber da war Raphael schon aus der Tür hinaus. Frau Meyer drehte sich um und schmunzelte. » Heute war es unentschieden «, dachte sie, aber morgen würde sie wieder punkten. Raphael war der Einzige, der wenigstens ein wenig Abwechslung hereinbrachte. Sie fand, dass er einer der Nettesten auf der Station war. Er nahm kein Blatt vor dem Mund, dass gefiel ihr. Nichtsdestotrotz empfand sie es als eine Zumutung, dass sie sich von einem Mann waschen lassen sollte.
Julia saß in ihrem Bett als es an der Tür klopfte. Sie schaute auf die Uhr. Sie wunderte sich, für die erste Untersuchung war es noch zu früh. Sie hoffte, dass nicht doch jemand aus ihrer Familie oder ihre beste Freundin Sabine gekommen war. Sie hatte ausdrücklich gesagt, dass sie keinen Besuch will. Sabine hat sie zur Sicherheit gar nichts gesagt. Sie wollte in Ruhe ihre Gedanken sortieren und dazu wollte sie alleine sein.Sie hatte ihrer Familie erzählt, es handle sich um Routineuntersuchungen, weil sie sich in letzter Zeit immer so müde uns schlapp fühle.
Sie hatte wiederholt Nasen bluten gehabt und sie bekam schnell blaue Flecken. Müde und schlapp war sie wirklich, so gesehen hatte sie niemanden belogen. Den Arztbesuch schob sie immer wieder auf, weil sie dachte, dass es sich wieder von alleine legte und sie einfach zu viel Stress auf der Arbeit hatte. Als sie sich schließlich immer schlechter konzentrieren konnte und obwohl sie so viel wie möglich schlief, immer müde war, hatte sie doch einen Arzt aufgesucht. Er verschrieb ihr Eisentabletten und nahm ihr Blut ab. Sofort als die Ergebnisse des Bluttestes da waren, bestellte der Arzt sie in die Praxis und gab ihr die vorläufige Diagnose. Zu weiteren Untersuchungen wurde sie direkt ins Krankenhaus eingewiesen und hier war sie nun. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Bisher war sie ruhig und gefasst gewesen. Für den Aufenthalt hatte sie alles mechanisch geregelt. Sie wusste nur eines, dass sie Zeit für sich alleine brauchte.
» Herein. « Fassungslos blickte sie Raphael an. Raphael, der die Tür öffnete, traute seinen Augen nicht als er Julia sah. Geschockt blieb er in der Tür stehen.
» Hallo Raphael. « Julia fand als erste ihre Stimme wieder. Ausgerechnet jemand, den sie kannte. Extra hatte sie ihren Freunden nichts erzählt und nun war es ausgerechnet ein Kumpel von ihren guten Freunden Fabian und Dirk der sie hier sah.
Raphael regte sich noch immer nicht. » Hi Julia, ich wusste nicht, dass du... «, stammelte er.
Julia, die den ersten Schock überwunden hatte, bat Raphael herein. » Komm doch rein oder gefällt es dir in der Tür zu stehen? « Zögernd betrat er das Zimmer.
» Seid wann arbeitest du hier? «, fragte Julia, » und als was? Du hast doch eine Ausbildung als Elektriker gemacht, oder? Machst du eine Umschulung? «
Immer noch sprachlos stand Raphael im Zimmer. Er wusste nicht wie er sich verhalten sollte. Er hörte die Stimme der Schwester »...bald stirbt...Leukämie. «
Julia versuchte das Beste aus der Situation zu machen. » Setz dich doch. « Sie wies auf den Stuhl neben ihrem Bett. » Wir sollten miteinander reden. Raphael! Würdest du dich bitte setzen?! « Julia wurde nervös, da Raphael keine Anstalten machte sich zu regen. Er stand einfach da uns sah sie stumm an. » Setz dich doch. «, wiederholte sie ihre Bitte. Raphael nickte wie unter Trance, blieb aber stehen. Er sammelte sich. Langsam ging er auf den Stuhl zu und setzte sich. Gerade als er sich für sein Verhalten entschuldigen wollte, versagte ihm die Stimme.
» Sie haben dir gesagt, warum ich hier bin, oder? « Julia wusste, dass die Frage überflüssig war. So wie sich Raphael benahm, war er sicherlich über alles aufgeklärt. Raphael nickte. » Das darfst du niemanden erzählen? Schweigepflicht und so, oder? «, fragte Julia leicht verunsichert. Wieder brachte Raphael nur ein Nicken zustande. Sie atmete erleichtert auf. Raphael, dem sein Verhalten langsam selber komisch vorkam, sagte bloß » Ich bin hier Zivi und mache keine Umschulung. « Was anderes als Julias Fragen zu beantworten fiel ihm nicht ein. Zu seinem Glück betrat Schwester Irene das Zimmer um Julia zu ihrer ersten Untersuchung abzuholen. » Oh, wie ich sehe haben sie sich bereits kennengelernt. Raphael schaut später sicher später nochmal vorbei. «
» Dann bis später. «, sagte Julia.
» Bis später. «, antwortete Raphael und war dankbar das Zimmer verlassen zu können. Er eilte zum Schwesternzimmer. Dort wartete schon die Frühstücksausgabe auf ihn. Geistes-abwesend verteilte er das Frühstück. Er musste an vorhin denken. Erst gestern hatte er noch mit Fabian telefoniert. Mit keinem Wort hatte er erwähnt, dass es Julia schlecht ging und sie ins Krankenhaus musste. Auch wunderte er sich, warum sie ausgerechnet auf seiner Station war, obwohl eine eigene Krebsstation hatten sie nicht, aber müsste sie dann nicht in ein anderes Krankenhaus eingeliefert werden? Diese und andere Fragen beschäftigten ihn den restlichen Morgen. Auf alle Fälle würde er Schwester Irene fragen warum sie nicht in eine Spezialklinik eingewiesen wurde, da könnte ihr doch bestimmt besser geholfen werden als hier. Nach der Essensausgabe suchte er die Schwester. Sie kam aus Julias Zimmer, die von ihrer Untersuchung wieder da war. Als er die erste Frage zu Ende gestellt hatte, antwortete die Schwester, » Weißt du was, dass kannst du Julia alles selber fragen. « Bevor Raphael protestieren konnte, hatte Schwester Irene schon die Klinke zu Zimmer 405 in der Hand. » Hallo Julia, Raphael ist hier und möchte dir ein paar Fragen stellen. Ist das okay? «
» Ja, natürlich. «
Damit schob ihn Schwester Irene ins Zimmer und schloss die Tür. Wieder war es Raphael unbehaglich zumute, aber dieses Mal konnte er sich besser auf die Situation einstellen. » Tut mir leid, wegen vorhin, aber ich wusste nicht... «
» Ist schon gut. Du brauchst dich nicht für etwas zu entschuldigen für das es nichts zu entschuldigen gibt. «
» Können wir reden? «, fragte sie.
» Ja, ich wollte dich sowieso einiges fragen, aber wenn du nichts darauf antworten willst, brauchst du das nicht. «
» Hätte ich sowieso nicht gemacht. Da ich bald sterbe, kann ich jetzt tun und lassen was ich will. «, grinste sie frech.
Raphaels Unbehagen wuchs. » Äh, tut mir leid. So war das nicht gemeint. «
» Ich habe doch gerade gesagt, dass du dich nicht entschuldigen brauchst... «, Julia führte den Satz nicht zu Ende. Sie wurde ein wenig zornig. » Siehst du, das ist mit ein Grund warum ich keinen Besuch wollte. Sobald Leute wissen, dass jemand krank ist, behandeln sie ihn anders. Sonst entschuldigst du dich bestimmt auch nicht die ganze Zeit, oder? « Sie dachte an Dirks letzten Geburtstag, wo sich Raphael mit seinem Kumpel Olli darüber unterhalten hatte, wie witzig es wäre jemanden die Zahnbürste zu klauen und sich die durch den Hintern zu ziehen. Davon ein Foto zu machen und sie dann wieder zurückzustellen, damit sich derjenige damit die Zähne putzt um ihm danach dann das Foto zu zeigen. Julia fand das einfach nur ekelig und in keinsterweise witzig. Dirk hatte ihr aber hinterher versichert, dass Raphael und Olli nur redeten und das nie machen würden. Sie hätten im Fernsehen gesehen, dass vermummte Typen während der Urlaubszeit ein Auto geknackt und die Story durchgezogen haben und der Familie am Ende der Ferien die Bilder zugeschickt haben, wie sie die Zahnbürsten zweckentfremdet haben. » Na, hoffentlich nicht. «, hatte Julia da gedacht. Zuzutrauen würde sie es ihnen. Von den paar Mal, wo sie bei Dirks und Fabians Freunden mit dabei war, kamen ständig solche merkwürdigen Witze. Und genau dieser Raphael entschuldigte sich am laufenden Band und druckste herum.
» Es wäre nett, wenn du mich so behandelst wie immer und dich so gibst wie sonst. Andernfalls kannst du dir das hier sparen. «
» Ach ja und Finger weg von meiner Zahnbürste, sonst vergesse ich mich. «, fügte Julia hinzu.
» Häh? Wieso Zahnbürste? « Raphael war komplett verwirrt.
» Na ja, Dirks Geburtstag und die Story mit der Zahnbürste. «
Raphael blickte Julia verwundert an und überlegte, » Ach das. Das war doch nur ein Gag. « Er lachte. Das Eis war gebrochen. » Das weißt du noch? «
» Ja, weil ich das nicht witzig sondern widerlich finde. «
» Ich finde es lustig. Die Gesichter von den Urlaubern hätte ich zu gerne gesehen. «
Julia schüttelte mit dem Kopf.
» Was? «, fragte Raphael, der das sah.
» Ich hoffe, dass derjenige, dem du die Zahnbürste klaust Herpes hat und du dann Hinternherpers bekommst. Dann weißt du mal, wie lustig das ist. «, antwortete Julia.
Raphael musste laut lachen. » Hinternherpes? Wirklich? «
» Ja, genau. « Jetzt musste auch Julia lachen. Danach schlug sie wieder ernstere Töne an.
» Bitte, sag Fabian und Dirk nicht das ich hier bin. Ich brauche die Zeit für mich. Das ging alles so schnell und ich... « Julia konnte Raphael nicht erklären, dass sie gerade jetzt ihre Freunde nicht um sich haben konnte.
» Und bitte auch niemanden aus meiner Clique falls du jemanden triffst, versprochen? «
Raphael sagte nichts. Wie sollte er denn eine Woche lang für sich behalten, dass Julia tod-krank bei ihm auf der Station ist. » Ich weiß nicht.«
» Bitte, das musst du mir versprechen. Versprich es mir. «, flehte sie.
Das erste Mal sah Raphael Julia richtig an. Sie machte einen müden Eindruck, aber sonst sah sie ganz okay aus. Allerdings hatte er sie zuvor nie besonders beachtet. Sie war halt die Freundin von Fabian und Dirk und die anderen aus seiner Clique, er selbst eingeschlossen, hatten nichts mit ihr zu tun. Sie war mit seinen Kumpels befreundet und hin und wieder mit dabei, wenn sie war unternahmen. Aber dann redete sie immer nur mit Fabian und Dirk. Allgemein sprach sie nicht viel. Daher war sie ihm nie wirklich aufgefallen. » Das heute, müsste die längste Unterhaltung gewesen sein, die er bisher mit ihr geführt hatte «, dachte er. Schließlich sagte er, » Versprochen. Ich werde es niemanden sagen, aber wieso sollen deine Freunde nicht wissen das du hier bist? «
» Ich hab es schon gesagt. Ich brauche Zeit für mich. Ich brauche die Zeit alles richtig zu realisieren und um in Ruhe entscheiden zu können, ob ich mich behandeln lassen soll, falls eine Behandlungsmöglichkeit für mich noch in Frage kommt. « Sie spürte, dass es ihr zu viel wurde. Sie konnte nicht weiter darüber sprechen. » Ich möchte meine Freunde nicht damit belasten. Ich finde es schöner, wenn sie mich gesund und lebend in Erinnerung behalten und nicht sterbend. «
» Heißt das etwa du willst es deinen Freunden gar nicht sagen? «, fragte Raphael alarmiert.
» Erst dann, wenn ich sicher weiß, wie es weiter geht. «, versuchte Julia die Situation zu retten. Sie wollte unter keinen Umständen, dass jemand den Grund erfuhr, weshalb sie im Krankenhaus war.
» Warum bist du eigentlich hier und in keiner Spezialklinik? «
» Weil ich in der Nähe meiner Familie sein möchte. Ich will nicht, dass für den Fall, dass etwas mit mir passiert, sie erst Stunden brauchen um da zu sein. Ich möchte sie nicht finanziell belasten indem sie sich irgendwo ein Zimmer nehmen müssen. «
» Für gewöhnlich setzen Eltern aber alles daran, damit ihre Kinder wieder gesund werden, egal was es kostet. «, brachte Raphael entgegen.
» Das möchte ich aber nicht. Außerdem kann ich das immer noch entscheiden, wenn ich die endgültigen Ergebnisse meiner Untersuchungen habe. So lange möchte ich nicht, dass jemand davon erfährt, hörst du? Können wir die Fragerei bitte sein lassen? «
Es klopfte an der Tür. Pfleger Björn brachte das Mittagessen, wo Raphael ihn für gewöhnlich bei half.
» Ich komme gleich. «, sagte er zu Björn.
» Lass die Zeit. Ist kein Problem. « » Guten Appetit. «, sagte er an Julia gewandt.
» Danke. « Björn verließ den Raum.
» Du kannst ruhig gehen. Ich mag es sowieso nicht, wenn mir jemand beim Essen zusieht, den ich nicht so gut kenne. Dann fühle ich mich immer so beobachtet. «
» Wie du meinst. «, erwiderte Raphael und war schon fast draußen, « Dann bis später. Ich komme nach meiner Schicht noch mal vorbei. «
» Meinetwegen. «, entgegnete Julia kühl. Dann war sie allein. Sie hatte keinen richtigen Appetit, aß aber trotzdem. Sie wusste nicht wie sie mit Raphael umgehen sollte. Nachdem Raphael seine Arbeiten erledigt hatte, ging er zu Julia. Sie war nicht da. Vermutlich bei einer Untersuchung, da er ihr versprochen hatte vorbeizukommen, beschloss er zu warten. Er ging zum Schwesternzimmer um sich Julias Untersuchungsplan anzusehen. Er sah auf die Uhr. Er musste wahrscheinlich eine ganze Stunde warten. » Na, super. «, dachte er. Schwester Sophie meinte, er könne sich die Zeit mit Krankenakten sortieren vertreiben. Er erinnerte sie daran, dass er schon frei hatte. Da er aber nichts Besseres zu tun hatte, machte er sich ans sortieren. Nach knapp einer Stunde ging er erneut zum Zimmer 405. Er klopfte an. » Herein. «, hörte er Julia schwach sagen.
Als er eintrat sah er, dass Julia mit geschlossenen Augen im Bett lag. Wieder fühlte er dieses Unbehagen wie bei ihrer ersten Begegnung.
» Hallo. Möchtest du schlafen? «, fragte er leise.
» Ja. Ich fühle mich ziemlich erschöpft. «
» Ich habe jetzt Feierabend. Dann sehen wir uns morgen. «
» Gut, dann bis morgen. «
» Tschüss. «
» Auf Wiedersehen. Tschüss klingt so endgültig. «, sagte sie leise.
Augenblicklich schlief sie ein. Auf dem Heimweg ärgerte sich Raphael. » Dann hätte ich gleich nach Hause fahren können. Über eine Stunde umsonst verschwendet. Die Zeit hätte ich besser nutzen können. « Zu Hause angekommen stellte er seinen Rechner an um World of Warcraft zu zocken. Seine Kumpels waren noch alle am Arbeiten. Montags trafen sie sich immer noch in der Kneipe ums Eck, aber das cancelte er heute, damit er sich den anderen gegenüber nicht verplapperte. Zum Glück hatte er diese Woche Frühschicht, dann würden sie ihn die Woche über nicht besonders vermissen. Kam ihm gerade ganz gelegen. Nach drei Stunden schob er sich eine Pizza in den Backofen und nahm sie, nachdem er geduscht hatte, mit an den PC. Olli und Saskia waren jetzt online. Neben dem Spielen, meldete er sich für den Abend mit der Begründung „Frühschicht“ bei Olli und Saskia ab. Schließlich verabschiedeten sich die Beiden um die anderen zu treffen. Raphael machte noch ein wenig weiter und ging sich dann die Zähne putzen. Als er die Zahnbürste sah musste er unweigerlich an Julia denken. Er versuchte sich an den Geburtstag zu erinnern. Wieder fiel ihm auf, dass er Julia nicht weiter beachtet hatte und wenn er sich recht entsann hatte sie den ganzen Abend keinen Laut von sich gegeben und nur den anderen zugehört. Er zog die Achseln hoch und ging zu Bett. » Verdammt «, ihm fiel ein, dass er sich zu morgen mit Dirk im Fitnessstudio verabredet hatte, das würde er absagen müssen. » Die Woche fängt ja gut an. «, dachte er.
Julia schlief bis zum Abend durch. Nach dem Essen versuchte sie über ihre Situation nachzudenken. Ihr Arzt hatte ihr nicht viel Hoffnung auf Genesung geben können. Jetzt wo sie wach war, stieg die angst in ihr hoch, was wenn sie alleine sterben würde? Wenn es heute Nacht passiert, dann wäre niemand da. Die Angst wuchs. Die Nachtschwester schaute nach dem Rechten. Julia stellte sich schlafend. Sie war wie gelähmt vor Angst. Ihre Gedanken kreisten ohne Unterlass ums Sterben. Sie nahm sich vor nicht einzuschlafen. Sie würde wach bleiben. Sie versuchte gegen die angehende Müdigkeit anzukämpfen. Doch gegen fünf Uhr in der früh wurden ihre Lider schwer. » Durchhalten! «, mahnte sie sich. Nur noch zwei Stunden bis zum Wecken. Dennoch schlief sie ein.
Raphael, der schon um zehn ins Bett gegangen war, wälzte sich hin und her. Er konnte kein Auge zu tun. Jetzt, wo er nicht mehr abgelenkt war, dachte er in einer Tour an Julia. Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Fast zu jeder Stunde blickte er auf seinen Wecker. Er versuchte mit allen Mitteln zu schlafen. Gegen halb drei schlief er ein. Sein Wecker klingelte um viertel nach vier. Die erste schlaflose Nacht. Vollkommen übermüdet machte er sich zur Frühschicht auf.
2. Tag
Schlecht gelaunt betrat Raphael das Krankenhaus. Bei der Übergabe trank er bereits seinen dritten Kaffee. Es gab nichts Besonderes für den Tag. Er stellte die Tabletten zusammen und ging seinen gewohnten Arbeiten nach. Gegen sieben fing er an die Patienten zu wecken. Als er zu Zimmer 425 kam entschied er sich gleich eine Schwester zu holen. Heute war er nicht in der Lage sich auf Frau Meyers Macken einzulassen. Da sich niemand außer Björn im Schwesternzimmer befand, fragte er ihn nach Schwester Irene. » Die habe ich bei Julia in die 405 hereingehen sehen. «
» Auch das noch. «, dachte er. Überrascht über seine eigene Abneigung machte er sich auf den Weg. Er gab Julia Unrecht. Schließlich konnte sich nichts für ihre Krankheit. Er ging ohne anzuklopfen in Julias Zimmer. » Schwester Ir... «
Raphael bleib wie angewurzelt stehen. Er sah wie Julia aus dem Mund blutete. Schwester Irene half ihr die Blutung zu stoppen. Ihr Schlafanzug war voller dunkler Flecken. » Was ist? «, fragte die Schwester gereizt. » Zimmer 425, äh, Frau Meyer... «, stammelte Raphael.
» Komm schon her. Halt das. « Raphael ging wie in Zeitlupe auf Juli zu. Er nahm Schwester Irene das Tuch ab. Die Blutung war gestoppt. Entkräftet lehnte sich Julia zurück.
» Alles in Ordnung? «, fragte Schwester Irene besorgt. Julia nickte schwach und versuchte zu lächeln. » Du bleibst hier. «, sagte sie zu Raphael. » Bin gleich wieder da. «
» Du siehst müde aus. «, stellte Julia fest. Raphael war ganz überrascht das Julia mit ihm sprach.
» Hab' nicht viel geschlafen. Geht aber schon. «
» Ich auch nicht. «, sagte Julia zerschlagen.
» Ist bei dir denn alles klar? «
» Ja. Ich war nur erschrocken über die Blutung. Bisher hatte ich nur Nasen bluten. «
» Ich hab' mich auch erschrocken. «, gab Raphael ehrlich zu.
» Tut mir leid... «
» Du kannst ja nichts dafür. Ruhe dich aus. Du solltest versuchen zu schlafen. «
Schwester Irene, die den Raum betrat, stimmte Raphael zu. » Was ist denn das, Raphael? Wieso hat Juli noch ihren blutigen Schlafanzug an? Geh schon. Ich mach' das alleine. Frau Meyer ist fertig. «
Julia war froh. Auf keinen Fall hätte sie Raphael erlaubt ihr beim umziehen zu helfen. Zum Glück konnte sie die peinliche Situation umgehen. » Sie sollten wirklich schlafen um zehn Uhr ist die Visite und im Anschluss haben sie ihre erste Untersuchung. Die andere ist um vier Uhr. «, teilte Schwester Irene, Julia mit. Danach schlief Julia erschöpft ein.
Raphael kam nicht darum herum, er würde Schwester Irene nach Ende seiner Schicht um Urlaub bitten. Das konnte er einfach nicht mehr aushalten. Er war überfordert. Raphael brachte das Frühstück zu den Patienten. Als er Julias Zimmer betrat, sah er, dass sie schlief. Er betrachtete sie eine Weile und fand, dass sie einen friedlichen Eindruck machte. Fast als wäre sie. Er erbleichte! Er sah sie atmen. Schnell beruhigte er sich wieder. Er war definitiv urlaubsreif. Er versicherte sich noch einmal, das mit Julia alles in Ordnung war und beendete die Essensausgabe. Zum Mittag hin war Julia wieder wach. Doch es herrschte Stress auf der Station, weil ein Patient der Meinung war beklaut worden zu sein, so dass Raphael und Julia keine Zeit fanden miteinander zu reden. Wegen der Unruhe konnte er der Schwester sein Anliegen nicht darbringen und verschob es somit auf später. Er musste auf einer anderen Station aushelfen, da sich dort zwei Mitarbeiter krank gemeldet hatten. Als er seine Schicht beendet hatte und wieder auf der Station war, stellte er fest, dass Schwester Irene schon gegangen war. Björn erzählte ihm, dass der Patient sein Portmonee in seiner Bademanteltasche wieder gefunden und sich bei den Angestellten für die Unannehmlichkeiten entschuldigt hatte. » Dabei steht doch überall, dass auf seine Wertsachen aufgepasst werden muss. «, sagte Björn. Raphael hörte gar nicht richtig hin. » Wo bist nur mit deinen Gedanken? «, neckte er ihn, » wahrscheinlich bei der Neuen auf Zimmer 405, was? Also, wenn ich nicht wüsste, dass sie so krank ist... « Raphael wurde wütend.
» Hör auf mit dem Scheiß. Ich kenn’ Julia über Kumpels und bin so’n bisschen fertig. Weiß nicht, was ich machen soll! «
» Ey, Alter, Kacke, das wusste ich nicht. Sorry. Soll ich das für dich übernehmen? «, fragte Björn.
» Eigentlich wollte ich Schwester Irene um Urlaub bitten. «
» Frag Schwester Sophie, die kann das kurzfristig immer ganz gut hinbekommen. Schwester Irene würde dir sowieso sagen, dass das so spontan nicht geht. Als Zivi sollte das aber eigentlich kein Problem sein. Aber am Besten du erzählst Schwester Sophie, das du mit Julia bekannt bist und dir das zu viel wird. «
» Danke. Werde ich machen. «
» Kommst du mit runter? «, fragte Björn.
» Ne, ich gehe noch zu Julia... «
» Willst du dir das echt antun? Ich will das sonst auch für dich machen. «
» Lass mal. Heute gehe ich noch zu ihr. «
» Von mir aus. Dann ‘nen schönen Feierabend. Man sieht sich. «
» Hau rein. « Raphael ließ sich viel Zeit beim Umziehen. » Vielleicht schläft sie noch. «, hoffte er und klopfte an.
» Herein. «
Raphael trat ein. » Wie schaut’s aus? «, fragte er.
» Wieder besser. Der Schlaf hat gut getan. Und bei dir? Immer noch müde? «
» Ich bin ziemlich fit. Habe meinen toten Punkt überwunden. Äh, Entschuldigung, das war... «
» Schon okay. Ich sterbe nicht gleich oder breche zusammen, nur weil jemand das Wort „tot“ in den Mund nimmt, okay? Behandle mich bitte so, als wäre ich nicht sterbenskrank. Das wäre nett. Verstell dich nicht extra wegen mir. Sag’s einfach wie immer, abgemacht? «
» Ich gebe mir Mühe. Wann hast du deine nächste Untersuchung? «
» Können wir über etwas anderes reden als nur über meine Krankheit und alles was damit zusammenhängt? «, bat Julia.
» Was macht ihr denn am Wochenende? «, fragte Julia, » Schon was geplant? «
Erfreut über den Themenwechsel gab Raphael gerne Auskunft.
» Ich habe dieses Wochenende Dienst und was die anderen machen weiß ich nicht. Aber wahrscheinlich in die Kneipe. Viel mehr gibt es hier ja nicht. «
» Stimmt, was gibt es bei euch denn sonst so Neues? «
» Nicht viel. Läuft alles wie gehabt. « Langsam gingen Julia die Fragen aus. Raphael fiel auch nichts ein und es entstand eine bedrückende Stille.
» Ist das im Krankenhaus üblich, dass ihr die Patienten zuerst mit der Zimmernummer benennt? Ich finde Namen sind viel einfacher zu merken, aber ich habe es eh nicht so mit Zahlen. Was für eine Nummer hab’ ich noch gleich? «
» Steht doch vorne am Bett. Nummer 405. «, entgegnete Raphael gelangweilt. » Im Grunde ist es egal, wir müssen beides wissen. Namen und Zimmer, aber ich benenne die Patienten lieber nach ihrer Zahl. Das wird dann nicht zu persönlich. «
» Was, wenn mehrere Patienten in einem Zimmer liegen? Dann funktioniert dein System doch gar nicht mehr. «
» Doch. Ich zähle dann ab dem ersten Bett uns sage Zimmer 401a, 401b und so weiter. «
» Dann bin ich für dich also 405. «, stellte Julia zerknirscht fest.
» Bei dir ist das was anderes, weil ich dich kenne, mache ich das bei dir nicht. «
» Wieso ist das was anderes? Ich bin ein Patient wie jeder andere auch. Außerdem finde ich die Vorstellung, dass du Menschen zu Zahlen machst, ganz schön schlimm... «
» Jetzt übertreib' mal nicht. Ich mache Menschen nicht zu Zahlen und wenn schon, was soll da Schlimmes dran sein? Das hilft mir eine Distanz aufzubauen. «, gab er leicht verärgert zurück.
» Du kannst die Distanz auch durch Oberflächlichkeit wahren. Was daran so schlimm ist? Ganz einfach, wenn man Menschen zu Zahlen macht, vergisst man ganz schnell, dass hinter den Zahlen Menschenleben stehen. Menschen mit einer Geschichte. Mit einem Leben: Mit ihren Wünschen, Träumen und Hoffnungen. Natürlich wahrst du dadurch Distanz, aber die Möglichkeit den Menschen an sich dabei zu vergessen ist sehr hoch. Wenn du mich fragst, ist das eine richtige Unsitte Menschen zu Zahlen zu machen. Das ist inzwischen fast überall so. Als Student bekommst du eine Matrikelnummer, als Versicherter eine Versichertennummer, als Kunde eine Kundennummer und das kannst du auf alle Lebensbereiche ausführen und dabei wird der Mensch vergessen, der hinter dieser Nummer steht. Man sieht eventuell das Anliegen mit dem er zu einem kommt, doch dann wird anhand seiner Daten entschieden, was mit ihm passiert. Dass der Student die Klausuren vielleicht nicht besteht, weil er Prüfungsangst hat, kannst du an den Zahlen nicht erkennen. Das ein Kunde seine Rechnung nicht zahlen kann, weil er das Geld für seine kranke Frau braucht, siehst du nicht. Und wenn sie versuchen sich zu erklären, siehst du nur die Daten, siehst das die Rechnung seit drei Wochen überfällig ist und sagst, dass man da nichts machen kann. Und das hältst du nicht für schlimm? Die Menschlichkeit geht dadurch komplett verloren. «
Von diesem Standpunkt aus hatte Raphael das noch nie betrachtet, aber er versuchte sich zu verteidigen. » Das magst du eventuell Recht haben, aber wie willst du den ganzen organisatorischen Verwaltungsaufwand sonst durchführen? Ohne Zahlen oder Kundennummern ist das nicht möglich. Wie willst du denn eine gleiche Basis für alle schaffen? Wenn an einer Uni 40.000 Studenten sind, kannst du niemanden bevorzugt behandeln nur weil er Prüfungsangst hast. Dann würde jeder Student, der seine Klausur nicht besteht, sagen, er hätte Prüfungsangst. Das macht doch auch keinen Sinn. Zahlen schaffen eine Gleichheit und der Organisationsaufwand ist viel schneller und einfacher mit Zahlen. «
» Wieso? Lass die Zahlen einfach weg. Gib den Menschen wieder ihre Namen zurück. Dann ist der Aufwand zwar größer, aber wer sagt denn, dass immer alles schnell und einfach gehen muss? So würden neue Arbeitsplätze entstehen, weil eben der Aufwand höher ist. Wo wir wieder bei den Zahlen sind. Überleg' doch mal, wenn die Arbeitslosenquote vermeldet wird geht es dabei ausschließlich um Zahlen. Wer gibt sich denn die Mühe die Menschen dahinter zu sehen? Den älteren Arbeitslosen, der einfach keine Stelle bekommt, weil er für den Arbeitsmarkt zu alt ist. Einfach vergessen, weil er einer von drei Millionen ist. Wegen meiner auch den, der keine Lust zu arbeiten hat, dass interessiert gar nicht mehr. Er oder sie ist die Nummer 1503. « Julia war gar nicht mehr aufzuhalten und erzählte weiter. Raphael saß neben ihr und hörte mit gespielter Gleichgültigkeit zu, aber er ertappte sich dabei, dass er fand, dass Julia zumindest in einigen Dingen gar nicht so Unrecht hatte. Allerdings waren ihre Ansichten einfach zu utopisch. Trotzdem unterbrach er sie nicht.
» Oder wenn du die Nachrichten hörst, da wird berichtet, dass durch einen Bombenanschlag hundert Menschen ums Leben gekommen sind. Wer entwickelt da noch Mitgefühl? Würde der Sprecher aber sagen, » Heute sind bei einem Bombenanschlag hundert Menschen ums Leben gekommen. Darunter eine junge Frau, die heute von ihrem Arzt erfahren hat, das sie schwanger ist. Oder. Der fünfjährige Tim mit seinen Eltern, die gerade einen Ausflug machten. Sein Lieblingsfeuerwehrauto hatte er zum Zeitpunkt des Anschlages in der Hand. « würden sie so berichten, würde den Zuschauern erst richtig klar werden um was es wirklich geht. Hundert Menschen, hundert Leben, genauso ein Leben wie deines. Fändest du es gut, wenn du bei einem,... «, Julia überlegte kurz, » Flugzeugabsturz ums Leben kommen würdest, dass sie einfach sagen, dass zweihundert Menschen ums Leben gekommen sind? Dann bist das nicht mehr du sondern du bist zweihundert. Nicht die Angehörigen, die Freunde und die Familien zu vergessen, die ebenso hinter den zweihundert stehen. Die werden nur erwähnt, wenn es tragische Bilder dazu gibt. Und dann wird als nächstes über irgendeinen Promi berichtet oder die Fußballergebnisse werden vermeldet. Was ist denn das? Für mich ist das einfach nur krank. « Julia war schon ganz aus der Puste und machte eine Pause.
Raphael qualmte der Kopf und erwiderte, » Ich will dir da nicht widersprechen, aber so wie du das berichtet haben möchtest, lebst du in einer sehr glücklichen Welt. Es sterben nicht nur gute Menschen, was ist denn mit dem Attentäter selber oder wenn die Eltern den kleinen Tim misshandeln. Vielleicht war ein Kleinkrimineller unter den Opfern, der zuvor einer alten Frau die Handtasche geklaut hat und die sind jetzt beide tot. Dann ist das Letzte, was die alte Frau erlebt hat, Angst und mit der musste sie sterben. «
» Das sollte natürlich auch berichtet werden, weil die Menschen auch dadurch ins grübeln kommen, dann denken sie vielleicht an den armen Tim, der keine Chance mehr auf ein besseres Leben hatte. Die alte Frau hatte nicht mehr die Möglichkeit das verlebte zu verarbeiten und vielleicht hätte sie dem Handtaschenräuber verzeihen können. Das alles ist nicht mehr möglich, weil sie zu hundert geworden sind. «
» Ich will dir deine Illusionen nicht nehmen, aber glaubst du, die Menschen möchten, das wirklich wissen? Ich würde behaupten die meisten Menschen sind froh, wenn sie nur von den Hundert hören. Dann ist es für sie einfacher wieder zum Alltag zurückzufinden. Dann können sie direkt nach den Nachrichten, sich von einem Spielfilm oder einer Show berieseln lassen ohne an den kleinen Tim denken zu müssen. «
» Ja, vielleicht hast du Recht, aber vielleicht ist es genau das, was in unserer Welt nicht richtig läuft. Die meisten Menschen haben einfach kein Mitgefühl mehr. Jeder ist nur noch auf sich und seine Probleme fixiert, so dass niemand mehr wahrnimmt, dass es anderen sehr, sehr viel schlechter geht. Sie lassen sich viel zu sehr ablenken. Hauptsache jeder wird so gut wie möglich unterhalten. Man könnte ja ein Gegenstück zu den schlechten Nachrichten berichten. So könnte man nach dem erwähnten Flugzeugabsturz berichten, dass am gleichen Tag zwölftausendsiebenhundertdreiundvierzig Maschinen sicher gelandet sind. Dazu könnten sie dann Bilder zeigen auf denen zu sehen ist, wie die Menschen die Flugzeuge verlassen, wie sie vom Flughafen abgeholt werden, wie sich Touristen auf ihren Urlaub freuen und so weiter, anstatt immer nur das Schlechte allein zu zeigen. «
» Nicht zu vergessen, dass der Auftragskiller sicher angekommen ist und dadurch einen Dreifachmord ausüben konnte und der Bankangestellte, der untertaucht, nachdem er die Konten seiner Kunden leergeräumt hatte. « Raphael sah Julia provozierend an. Doch das wirkte nicht, denn Julia erwiderte nur freudig, » Wie ich sehe, wir verstehen uns. Genau das meine ich doch. Man sollte den Zuschauern klar machen, dass es dabei um Menschen geht. Nicht Zahlen sondern Menschen. Damit die Menschen anfangen umzudenken. «
» Amen. «, sagte dieser. » Das wird niemals passieren. «
» Ach, du bist doch doof. «, erwiderte sie nur. » Denk' wenigstens darüber nach. «
» Mache ich. «
Es klopfte an der Tür. Schwester Sophie kam herein um den Kaffee zu bringen. In Julias Fall war es Tee. Als Raphael den Kuchen erblickte merkte er, dass er richtigen Hunger hatte und sah sehnsüchtig auf das Stück Kuchen.
» Kannst es ruhig essen. Ich mag keine Erdbeeren. «, sagte Julia.
» Nein, danke. Das ist für dich. «
» Du kannst es essen. Ich lasse es sowieso liegen. « Raphael gab sich einen Ruck und aß das Stück in eins auf. Dabei überlegte er, was er Julia fragen konnte um von den schweren Thema, über das sie sich gerade unterhalten hatten, abzulenken.
» Was ist dein größter Wunsch? «, fragt er geradeaus.
Julia blickte ihn verdutzt an. » Das dürfte offensichtlich sein, wieder gesund zu werden. « Raphael wurde verlegen. » Aber da sich dieser Wunsch wohl nicht erfüllen wird. Ich hätte gerne ein Buch geschrieben. «
» Worüber? «, fragte er neugierig.
» Über die Dinge, die wir gerade besprochen haben. Die Menschen zum Nachdenken anregen, ob die Welt so wie sie ist, sein muss oder ob man sie nicht besser machen kann. «
» Das ist aber ziemlich schwere Kost. «, meinte Raphael, » Das wollen die meisten wahrscheinlich gar nicht lesen. Also ich meine... «
Julia unterbrach ihn. » Ich weiß, deshalb hätte ich eine Geschichte darum herum erzählt. «
» Was für eine Geschichte? «, erkundigte sich Raphael.
» Eine Liebesgeschichte natürlich. «, antwortete Julia, » Denn die Liebe interessiert alle oder fast alle, aber es ist egal. Ich werde es nicht mehr schreiben können. «
Raphael wollte die nächste Frage nicht stellen, aber trotzdem stellte er sie, » Weißt du wie lange noch? «
» Nein, das weiß nur Gott. « Julia lächelte. Sie wusste das Raphael nicht an Gott glaubte.
» Sehr witzig. «
» Wieso? Stimmt doch. Die Ärzte können nur eine Diagnose abgeben, was auch nur eine Zahl ist. Im Endeffekt ist es Gott, der das bestimmt. «
» Glaubst du das wirklich? Du glaubst an Gott? «, Raphael war überrascht, das hatte er nicht gewusst.
» Ja, ich glaube an Gott oder zumindest an eine höhere Existenz, die über allem steht. Nennen kannst du es wie du es möchtest. Ich glaube daran, dass es mit diesem Leben nicht vorbei ist. Das es mit dem Tod nicht endet. Deshalb habe ich mir vorgenommen allen „ Auf Wiedersehen“ zu sagen, weil ich glaube, dass wir uns alle irgendwann wiedersehen. Wo auch immer das sein mag. «
Raphael war überzeugter Atheist und verkniff sich seine Kommentare, denn er wollte Julia in ihrer Lage nicht verletzen. Ihm kam ein Einfall und er forderte Julia auf, » Erzähle mir von der Geschichte aus deinem Buch. Wenn du glaubst sie nicht mehr schreiben zu können, dann könntest du sie mir doch erzählen. Was hältst du davon? «
» Ich weiß nicht, das ist bisher nur eine Idee gewesen und ich bin mir nicht sicher, ob ich das gut erzählen kann. «
» Versuche es doch mal, wenn sie mich langweilt, dann sage ich dir das. «
Wieder klopfte es an der Tür. Julia musste zur Untersuchung. Raphael sah auf die Uhr und war überrascht wie schnell die Zeit vergangen war. Er musste noch unbedingt mit Schwester Sophie sprechen. Doch zuerst ging er in die Cafeteria um was zu essen. Dort ging er die Unterhaltung mir Julia noch einmal in Gedanken durch. Dabei hörte er wie sich am Nachbartisch zwei Männer über die Nachrichten unterhielten und zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass Julia Recht hatte. Sie unterhielten sich nur über negative Sachen. Erst als sie über die Lokalnachrichten sprachen wurden die Themen etwas positiver. Wobei sich aber vieles um Fußball drehte, was er aber als positiv ansah. Er würde Julia davon erzählen, dass durchaus positives berichtet wurde auch wenn es sich dabei nur um die Lokalnachrichten handelte.
Gegen sechs Uhr ging er wieder hoch. Die Untersuchung dauerte zwar nicht allzu lange, aber er wollte Julia noch Zeit zum erholen geben. Seine Müdigkeit machte sich nun doch bemerkbar und er hoffte inständig, dass er den Urlaub bekam. Julia würde er nichts von seinen Plänen erzählen. Sie würde ihn bestimmt nicht vermissen. So viel hatten sie nicht miteinander zu tun und Björn würde sich ab morgen dann um sie kümmern.
Er klopfte an Zimmer 405 und trat ein.
» Wie ist die Lage? «, fragte er.
» Gut. «, antwortete sie knapp. Sie hatte Zeit über die Idee mit dem Buch nachzudenken und hatte den Entschluss gefasst, Raphael nicht davon zu erzählen. Sie konnte die Geschichten, die sie sich vorstellte nicht umsetzen. Sie fand nicht die richtigen Worte.
» So, erzählst du mir jetzt von deiner Geschichte? «
» Ich habe die Vorstellung von der Geschichte und ihren Inhalten in meinem Kopf, aber ich kann es nicht umsetzen. Tut mir leid, aber ich glaube, dass ich das wirklich nur schriftlich könnte und selbst das habe ich nie versucht. Es war immer nur eine Idee. «, sagte sie traurig. » Es wäre eine einfache Liebesgeschichte aber ohne Happy End. «
» Klingt doch gar nicht so schlecht. Dann ist es also nicht dieses, sie sehen sich, verlieben sich und kriegen sich, auf das ihr Frauen so abfahrt. «
» Eigentlich schon. «, dachte Julia, behielt das aber für sich.
» Das Angebot steht, wenn du es doch versuchen willst, kannst du es mir erzählen. «
» Danke. «, sagte Julia.
Es klopfte wieder an der Tür. Schwester Sophie schaute noch einmal nach dem Rechten bevor die Nachtschwester in einer Stunde ihre Schicht antreten würde. Zu Raphael sagte sie,
» Magst du gleich bevor du nach Hause gehst noch zu mir ins Schwesternzimmer kommen? «
» Ja, klar. «
» Gut, dann bis gleich. «
» Was liegt denn morgen bei dir an? «, fragte Raphael Julia.
» Nicht viel. Eine Untersuchung und ein Gespräch mit dem Krankenhauspsychologen. «
» Na, dann viel Spaß. Der ist ziemlich speziell. «, verriet Raphael.
» Was soll das heißen? «
» Das siehst du morgen selber. «, grinste er. » Ich muss los. «
Raphael hielt ihr ihr seine rechte Hand zur Verabschiedung entgegen. Julia ergriff diese und sagte, » Dann bis morgen und Gute Nacht. «
» Gute Nacht. «
Er ging in das Schwesternzimmer wo er Schwester Sophie antraf. » Ich habe hier deinen Urlaubsantrag und wollte wissen, ob du den Urlaub wirklich brauchst? Du weißt, dass wir diese Woche knapp besetzt sind. « Er erklärte ihr seine Situation und dass er seit fast achtzehn Stunden wach und ausgepowert war. Er wollte eigentlich Schwester Irene heute um Erlaubnis bitten und ihr erklären, dass er mir Julia bekannt sei, aber als er von Station zwei wieder da war, hatte diese schon Feierabend gemacht. Schwester Sophie hatte Einsicht mit ihm und gewährte ihn vorläufig bis zum Ende der Woche Urlaub, aber nur wenn die anderen kein Problem damit haben. Für Morgen gab sie ihn frei. Raphael war dankbar und fuhr nach Hause. Er sprang schnell unter die Dusche um dann gleich ins Bett zu fallen. Doch er konnte nicht einschlafen. Er redete sich ein, kein Feigling zu sein, nur weil er Julia nicht informiert hatte. Er war ihr keine Rechenschaft schuldig und er konnte Urlaub nehmen wann er wollte. Er spürte noch immer ihre Hand in seiner. Er wälzte sich umher, während die Zeit verstrich.
Wieder war Julia allein mit ihren Gedanken. Sie versuchte sich mit Lesen abzulenken, aber es half nicht. Sie starrte auf die Seiten. Sie las und sie las doch nicht. Nach zwei Stunden legte sie das Buch beiseite ohne zu wissen was darin stand. Sie hatte gehofft, dass sie nach der schlaflosen Nacht gestern heute schnell einschlafen würde ohne sich vorher Gedanken machen zu müssen. Sie drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Doch sie konnte nicht schlafen. Sie versuchte an die schönen Dinge zu denken, die sie erlebt hatte, doch immer wieder tauchten die Gedanken ums Sterben auf und damit auch ihre Gedanken darüber wie viel Lebenszeit sie mit unwichtigen Dingen verschwendet hatte. Zeit die sie nicht wieder zurück bekam. Sie drehte sich umher.
Die zweite schlaflose Nacht für beide.
3. Tag
Julia hatte sich die ganze Nacht schlaflos hin- und hergedreht. Um sich abzulenken schaltete sie den Fernseher ein. Um fünf Uhr liefen die Frühnachrichten. Überall Mord und Totschlag. Davon wollte sie nichts mehr hören. Nichts mehr sehen. Wann begriffen die Menschen endlich wie viel Wert ein Leben hat?! Das jeder nur das eine Leben hatte. Am liebsten würde sie jeden einzelnen schütteln und sagen, » Wacht auf! Wacht endlich auf! Werft euer Leben und das der Anderen nicht einfach so weg. Ihr habt nur dieses eine Leben. « Aber das haben schon viele versucht und sind gescheitert. Trotzdem glaubte sie daran, dass die Menschen irgendwann begreifen, das es mit der Welt nicht so weiter gehen kann. Sie hoffte nur, dass es die Menschen nicht zu spät bemerkten. Sie war fassungslos über die Blindheit der Menschen. Ständig wurde immer alles aufgeschoben, was die Welt besser machen könnte. Es wurden irgendwelche Abkommen für die nächsten zehn oder zwanzig Jahre beschlossen, anstatt sofort zu handeln. Julia versuchte die negativen Gedanken beiseite zu schieben. Sie hatte keinen Grund mehr sich Sorgen um die Welt zu machen, sie würde sowieso nicht mehr erleben, wie es mit der Welt bergab ging.
Sie wurde wütend auf sich selbst, weil sie auch nichts unternahm. Sie würde gerne ein Schild basteln auf dem einfach steht » DAGEGEN! «, aber sie hatte immer schon Probleme damit, die Erste zu sein. Hatte Schwierigkeiten ihre Meinung vor anderen als ihrer Familie und ihren Freunden zu vertreten. Sie hätte wirklich gerne ein Buch darüber geschrieben. Sie war zwar nicht gut im reden aber schreiben konnte sie. » Warum habe ich es immer nur aufgeschoben? Ich bin nicht anders als all die anderen die auch nichts tun. «, dachte sie. Alle ihre Gedanken würde sie nun mit ins Grab nehmen. Julia begann zu schluchzen. Zum ersten Mal realisierte sie, dass es tatsächlich zu spät war, denn sie würde sterben. Und damit all ihre Wünsche und Hoffnungen, die sie bisher nie realisiert hatte, aus angst vor den anderen. Aus angst was andere über sie dachten. Es waren immer die Menschen gewesen, die ihr angst machten. Nie hatte sie sich vor den Tieren oder der Natur gefürchtet. Es waren immer nur die Menschen, die alles kaputt machten. Niemals würde ein Tier auf die Idee kommen seinen Heimatplaneten, der ihn am Leben hielt, zu vernichten, auszubeuten und zu töten. Im Gegenteil es würde alles darum geben seine Umwelt zu erhalten, denn es wusste, dass davon sein Leben abhing. » Vielleicht wäre es für die Erde besser gewesen, wir wären Affen geblieben. «, dachte sie bei sich. Sie hielt die Tiere in vielen Dingen für intelligenter als die Menschen.
Sie versuchte ihre Gedanken in eine positive Richtung zu steuern. Sie dachte über die Liebe nach, denn es ist die Liebe die die Menschen zu dem machen was sie sind. Angeblich! Wenn das nicht auch nur eine scheiß Hollywooderfindung ist. Sie musste an ihre Schwester denken, die nach den meisten Happy End Filmen immer betonte, dass das nicht die Realität ist und das Leben kein scheiß Hollywoodfilm ist. Dem konnte Julia nur zustimmen. Sie würde sterben und kein Wunder, kein plötzliches Ende zum Guten hin würde sie retten. Sterben würde sie. Einfach einschlafen und nicht wieder aufwachen. Julias Körper fing zu beben an und zum ersten mal seit ihrer Diagnose weinte sie bitterlich.
Raphael sah auf seinen Wecker. Eigentlich hätte er schon längst auf der Arbeit sein müssen. Er war froh, dass er Urlaub hatte. Was Schwester Irene wohl dachte? Bewusst versuchte er die Gedanken an Julia zu verdrängen. Doch dann dachte er doch an sie, » Was Julia wohl dachte, wenn er heute nicht zur Arbeit kam? Wie reagieren, wenn sie erfuhr, dass er für die ganze Woche Urlaub eingereicht hatte? « Eigentlich konnte es ihm egal sein. Schließlich waren sie keine Freunde und außerdem erfüllte er ihr ihren Wunsch keinen Besuch zu bekommen. Das schien ihr sehr wichtig zu sein. Er redete sich ein ihr damit sogar einen Gefallen zu tun. Darüber dachte er lange nach bis er schließlich mit dem Gefühl einschlief, das einzig Richtige getan zu haben.
Wie gerädert wachte Julia nach der kurzen Nacht auf. » Noch so ein Unding «, dachte sie, » das man im Krankenhaus so früh geweckt wird. Dabei hieß es doch, schlafen ist die beste Medizin. «
Nach dem Frühstück hatte sie das Gespräch mit dem Krankenhauspsychologen worauf sie überhaupt keine Lust hatte. Sie hatte nichts gegen Psychologen, aber es kam ihr doch so vor, dass die meisten Psychologen meinten, die Weisheit für sich gepachtet zu haben und ihre Lebenseinstellung die einzig Richtige sei. Dabei gab es ihrer Meinung nach so was wie die richtige Lebenseinstellung gar nicht. Ist auch nur eine Erfindung von den Leuten, die am längeren Hebel sitzen und versuchen den Menschen einzutrichtern, dass Erfolg, Karriere, Geld und der ganze andere Rotz so wichtig sind. Sie wollte nie die Karriereleiter hinauf. Es reichte ihr eine einfache Angestellte zu sein. Dann doch lieber was vom Leben haben als im Alter bemerken, dass man die wertvollste Zeit seines Lebens verschwendet hat. » Aber alt werde ich nicht mehr. «, sagte sie zu sich selbst.
Was ihr der Psychologe gleich wohl zu berichten hat? Er brauchte nicht zu erwarten, dass sie ihm auch nur irgendetwas anvertraute. Nicht wer sie ist, nicht ihre Träume und Gedanken. Sie würde doch nicht jemand völlig Fremden ihr tiefstes Inneres anvertrauen. Sie würde sich ihm nur anvertrauen, wenn sie selbst das Gefühl dazu hatte, aber das hatte sie nicht. Außerdem hatte sie Gott zum reden. Er gibt zwar selten Antwort aber er kennt mich und weiß wie ich ticke. Oder sie oder es. Sie ist eben mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Gott ein alter Mann auf einem Thron ist. Daher ist er für sie immer noch ein er. Allerdings hatte sie sich seit ihrer Diagnose nicht einmal an ihn gewendet. Er war ihr irgendwie abhanden gekommen. So als sei ihr bester Freund gerade auf reisen und steckt in einem Funkloch fest und er hat auch nicht die Möglichkeit einen Brief zu schreiben. Gott war ihr bester Freund. Jeder hatte seine eigene Vorstellung wer oder was Gott war und sie lebte sehr gut damit, dass Gott ist bester Freund ist. Also blieb er das, allen Theologen und Wissenschaftlern zum Trotz. Da niemand genau sagen konnte wer oder was Gott genau ist konnte es so etwas wie einen falschen Glauben überhaupt nicht geben. » Es könnte ja tatsächlich sein, das Gott ein kleines, grünes Männchen in einer fliegenden Untertasse ist. « Bei der Vorstellung musste sie grinsen. Aber möglich wäre es und das Gegenteil konnte niemand beweisen und wird es nie können, weil Gott nicht beweisbar ist. Das Geheimnis um ihn würde erst dann gelüftet werden, wenn der Hüter des Geheimnisses es selbst wollte. Daher hatte sie keine Probleme damit, wenn Menschen an kleine, grüne Männchen glaubten oder eben an gar nichts glaubten. Die Hauptsache war es doch, dass aus welchen Glauben auch immer nichts schlechtes daraus entstand. Das die Menschen friedlich miteinander lebten und die Überzeugungen der anderen respektierten auch wenn man sie selbst für falsch hielt. Sie überlege was wohl der Psychologe dazu sagen würde, wenn sie behaupte, das ihr bester Freund, der gleichzeitig Gott ist, ein kleines, grünes Männchen ist. » Wahrscheinlich würde ich meine letzten Tage in der Geschlossenen verbringen und dass nur, weil der Psychologe vermutlich nicht daran glaubte, das Gott ein kleines, grünes Männchen sein kann. «, dachte sie. Wieder musste sie grinsen. Ihr wurde bewusst, dass die Gott wiedergefunden hatte. Sie hielt es für traurig das Menschen sobald sie nicht der Norm der großen Masse entsprachen als verrückt oder anders abgestempelt wurden. Julia stellte fest, dass sie doch Ablenkung vertragen konnte. Nicht dass, sie den Psychologen doch noch zu textete. Seitdem sie krank war hatte sie viel mehr das Bedürfnis sich mitzuteilen als vorher. Sie sah auf den Wecker. Es war schon zehn Uhr durch. Sie wunderte sich ein wenig wo Raphael blieb. Vielleicht hatte er viel um die Ohren. » Immerhin bin ich nicht seine einzige Patienten. Schade eigentlich.. .«
» Das habe ich gerade nicht wirklich gedacht. «, stellte sie laut fest. Da klopfte es schon an der Tür. » Herein. «
» Hallo Julia. Ich bin Herr Dr. Schmidt. Der Psychologe. Wir haben einen Termin. Wie geht es Ihnen denn heute? «, fragte er betont fröhlich.
Julia verdrehte innerlich die Augen, aber sie wollte Herrn Schmidt eine faire Chance geben. Ihre ersten Eindrücke, die sie von den Menschen hatte, waren meist nicht die richtigen und vielleicht war der Herr Schmidt gar nicht so schmierig wie er tat.
» Hallo Herr Schmidt. Es freut mich sich kennenzulernen. «
» Entschuldigen Sie, aber ich heiße Dr. Schmidt, auf den Dr. lege ich großen Wert. «, fügte er mit einem etwas unaufrichtigen Lächeln hinzu.
» Chance vertan. «, dachte sich Julia. » Dann erzähle ich ihm jetzt, was er hören möchte, dann habe ich meine Ruhe und er das Gefühl einen guten Job gemacht zu haben. «
Zum Glück las sie das ein oder andere psychologische Buch, somit konnte sie erahnen wie das gleich ablaufen würde. Nach einer Stunde verabschiedete sich Dr. Schmidt von Julia. » Hier ist meine Karte. Sie können mich zu den Sprechstunden anrufen oder meine Praxis besuchen. Aber denken Sie daran, ich habe noch andere Patienten um die ich mich kümmern muss. Da kann es zu Wartezeiten kommen. In ihrem Fall würde ich aber eine Ausnahme machen. Sie machen aber einen sehr gefestigten Eindruck auf mich und das trotz Ihrer schweren Krankheit. Falls wir uns nicht mehr sehen oder sprechen sollten, wünsche ich Ihnen alles Gute. Falls Sie weitere Gespräche wünschen, können sie es der Schwester mitteilen. «
» Vielen Dank. «, sagte Julia erschöpft, » Noch einen schönen Tag. «
» Danke, Ihnen auch. «
Julia sah sich die Karte an und legte sie beiseite. Sie glaubte nicht, dass sie die noch mal gebrauchen würde aber zur Sicherheit bewahrte sie die Karte auf. Während der Sitzung bekam Julia Nasen bluten, was die Redezeit von Herrn Dr. Schmidt ein wenig beeinträchtigte. Das fand sie aber nicht weiter tragisch. Julia brauchte nicht viel sagen, denn Herr Dr. Schmidt hörte sich gerne selbst reden. Zumindest hatte sie den Eindruck erhalten. Aber was soll’s. Er half Menschen damit. Nur weil sie ihn nicht mochte hieß das noch lange nicht, dass er einen schlechten Job machte. Das konnte sie nach einer Stunde wohl schlecht beurteilen. Eventuell mochte er sie auch nicht. Seine Patienten kann er sich anscheinend nicht aussuchen. Allerdings hatte sie die Sitzung körperlich erschöpft das sie bis zum Mittag schlief.
Gegen zehn Uhr wachte Raphael auf. Nachdem er gefrühstückt hatte, überlegte er sich, was er mit seiner freien Zeit anfangen sollte. Da seine Kumpels am arbeiten waren und sich vermutlich wundern würden, warum er plötzlich Urlaub hatte, zockte er erst mal eine Runde World of Warcraft. Doch schon seit dem Aufstehen kreisten seine Gedanken um Julia. Er war sich nicht mehr ganz so sicher, dass einzig Richtige getan zu haben. Außerdem hatten sich sich gestern morgen richtig gut verstanden. Er fand es immer noch nicht richtig, dass sie ihren Freunden nicht erzählen wollte, aber das war Julias Entscheidung. Während er zockte überlegte er, wie es Julia mit dem Psychologen erging. Egal mit was er sich versuchte abzulenken Julia war allgegenwärtig. Schließlich setzte er sich in Ruhe an seinen Küchentisch. Er dachte an ihre Unterhaltung von gestern. Es überraschte ihn, dass hinter der sonst so stillen Julia so viele Gedanken steckten und auch dass sie die Story mit der Zahnbürste noch wusste. Bei dem Gedanken musste er lachen. Er sah auf die Uhr, wenn er sich beeilte würde er es zum Mittag ins Krankenhaus schaffen.
Erneut klopfte es an Julias Tür. » Herein. «, sagte sie und dachte, » Dafür dass ich keinen Besuch möchte ist hier aber ein ganz schön reger Betrieb. « Raphael trat herein.
» Hi, sorry. Bin ein bisschen spät. «
» Hi, kein Problem. Herr Dr. ... «, das Dr. betonte sie besonders übertrieben, »... hatte mich bereits mit seiner Anwesenheit beglückt und danach habe ich geschlafen. Hast du viel zu tun gehabt? « Ihr war nicht aufgefallen, dass Raphael seine normalen Straßenklamotten anhatte. Bevor Raphael antworten konnte, kam Schwester Irene mit dem Mittagessen herein.
» Hallo. « Sie stutze kurz als sie Raphael sah. » Mir dir habe ich nicht gerechnet. Was machst du denn hier? Du hast doch Urlaub? Ich habe Björn schon deine Aufgabe, sich um Julia zu kümmern, übertragen. « Bei dem Wort »Aufgabe« bekam Julia ein flaues Gefühl in der Magengegend. » Braucht er nicht. Ich wollte sowieso noch mit ihnen sprechen. Julia und ich kannten uns vorher schon und ich komme sie wie weiterhin besuchen. «
» Schön zu hören. Da kann ich Björn noch anderweitig beschäftigen. « Sie wünschte Julia einen guten Appetit und verließ den Raum.
Julia war sauer und traurig zugleich. Dann war sie bloß eine Aufgabe, eine Beschäftigung für Raphael. » Also, bist du nicht freiwillig hier sondern weil es dein Job ist. «, stellte Julia fest. » Du brauchst dich nicht um mich kümmern. Ich komme gut alleine klar. Brauchst dich nicht an deine Aufgabe gebunden oder dich verpflichtet fühlen. Kannst gerne wieder gehen. «, merkte sie gekränkt an.
Raphael schnappte nach Luft. Damit hatte er nicht gerechnet. » Erstens, ja das stimmt. Du warst so was wie eine Aufgabe,...lass mich ausreden...aber da wusste ich noch nicht, dass du das im Zimmer 405 bist. Und zweitens habe ich Urlaub, also bin ich freiwillig hier und nicht weil ich mich verpflichtet fühle. Drittens gehe ich, wenn ich gehen will und nicht wenn Madame alles in den falschen Hals bekommt und sauer wird. Alles klar!? «
» ‘tschuldigung, aber... «
» Kein aber und jetzt iss erst mal. In der Zeit gehe ich zu Schwester Irene und komme dann wieder. Du magst es ja eh nicht, wenn dir jemand beim Essen zuguckt. «
» Stimmt. Danke. «
Als Raphael die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah Julia zum Essen. Sie hatte keinen Hunger und ihre Hände zitterten. Sie würde vermutlich das Besteck nicht halten können. Also schloss sie ihre Augen und dachte an die Unterhaltung von gerade.
Nach einer halben Stunde klopfte es an der Tür. » Herein. «
Es war Raphael. Gleich sah er das unberührte Essen. » Hast du gar nichts gegessen? «, fragte er rhetorisch.
» Hab’ keinen Hunger. «, erwiderte Julia knapp. Sie hatte keine Lust auf Diskussionen. Raphael sprang gar nicht darauf an und schon Julia das Tablett direkt unter die Nase. » Du spinnst wohl. Ich bleibe hier so lange sitzen bist du das aufgegessen hast. Du musst doch was essen. «
» Du darfst bestimmt nicht zu deinen Patienten sagen, das sie spinnen. «, versuchte Julia vom Essen abzulenken. Doch das misslang ihr.
» Hast wohl vergessen, dass ich privat hier bin und da kann ich sagen was ich will. Iss jetzt und lenk' nicht ab. «
» Da du privat hier bist, kannst du mir nicht befehlen zu essen. Tja doof gelaufen, was? «
» Nein, das stimmt, aber ich kann dich darum bitten. Du weißt, dass du was essen musst. Durch die Krankheit ist dein Körper schon geschwächt genug. Also bitte iss. «
» Ich habe wirklich keinen Hunger. «, versuchte Julia es noch einmal. Raphael seufzte. Er setzte seinen liebenswürdigsten Blick auf und sagte ganz lieb, » Biiiitttteee. «
» Du bist doof. Unter diesen Bedingungen kann ich wohl nicht anders und guck’ mich nie wieder so an, das ist unfair. «
» Soll ich rausgehen? «
» Wäre nett, wenn es dir keine Umstände macht. «
Raphael sah Julia verdutzt an. » Echt jetzt? «
» Ja, wieso fragst du? «
» War eigentlich nur aus reiner Höflichkeit. Du möchtest also wirklich, dass ich hinaus auf den kalten Flur gehe ... «
» Bevor du noch zu weinen anfängst «, grinste Julia, » wäre es äußerst zuvorkommend von dir, wenn du die Tür zu machst. «
Er sah zur Tür. » Die ist doch zu. «
» Von außen, meine ich. « Julia grinste immer noch.
» Na schön. Du hast echt Marotten. « Als Raphael immer noch sitzen blieb, griff Julia zum letzten Mittel und sagte, » Raphael, ich werde bald sterben, deshalb möchte ich keine weitere Lebenszeit verschwenden indem ich mit dir herum diskutieren muss. «
Raphael lief rot an. Bevor er sich entschuldigen konnte, sagte Julia schnell. » Das war ein Scherz. «
» Ein ganz schlechter Scherz! «, fiel Raphael ihr wütend ins Wort.
» Entschuldige, aber was kann ich anderes machen als darüber zu scherzen? Außerdem musst du zugeben, das es ein gutes Mittel ist um die Leute dazu zu kriegen, was ich will. « Sie sah ihn verschmitzt an.
» Gut zu wissen, dann werde ich das gekonnt ignorieren. «
» Vielen Dank. Ich habe von dir nichts anderes erwartet. « Sie sah ihn auffordernd an.
» Was? «, fragte Raphael.
» Gehst du jetzt oder was?! Ich meine es ernst. Vorher esse ich nichts. «
» Ist ja schon gut. Dann bis später. « Raphael gab sich geschlagen und verließ kopfschüttelnd den Raum.
Julia nahm ihre Hände unter der Decke hervor. Sie zitterten noch immer. Sie konnte den Löffel nur schwer greifen. Die Hälfte des Eintopfes verschüttete sie bereits auf dem Weg zu ihrem Mund. Nach mehrmaligen Versuchen zu essen, ließ sie es sein. Als sie die ganze Kleckerei sah, würde sie wütend und schmiss den Löffel gegen die Wand. » Ich kann nicht mal mehr vernünftig essen. « Julia verdrückte die Tränen. Vom weinen hatte sie genug. Notdürftig beseitigte sie die Bescherung als es klopfte und Pfleger Björn herein kam. » Hallo, hat es geschm...? Was ist denn hier passiert? «, fragte er verwundert.
Julia lief rot an. » Äh, mir ist der Löffel weggefallen, aber ich habe sowieso keinen Hunger mehr. War aber sehr lecker. «, fügte sie schnell hinzu.
» Na, wenn das so ist. « Julia hob den Löffel auf, während Björn das Bettlaken wechselte.
Er nahm das Tablett und das dreckige Laken. An der Tür drehte er sich um und sagte, » Dann ist der Löffel aber ganz schön weit weggefallen... « Wieder wurde Julia rot. Björn zwinkerte ihr zu und verließ den Raum. Raphael, der draußen gewartet hatte, sah wie Björn Julia lächelnd zuzwinkerte. Als er das Zimmer betrat war Julia noch immer rot im Gesicht. » War was? «, fragte er. Julia befürchtete schon das Raphael etwas von dem Vorfall mitbekommen hatte. Sie spürte das sie wieder rot anlief und fragte, » Nö, was soll denn sein? «
» Keine Ahnung. Heißer Flirt mit Björn. « Gespannt wartete er Julias Reaktion ab. Immerhin wusste Raphael, das Björn bei den Frauen gut ankam. Julia konnte nicht mehr an sich halten und prustete vor lachen los. Über die absurde Vorstellung lachte sie Freudentränen und bekam schon Seitenstiche. Jedes mal, wenn sie versuchte zu antworten, überkam sie ein neuer Lachkrampf. Mit der Reaktion hatte Raphael überhaupt nicht gerechnet. War ja wohl eine berechtigte Frage. Doch Julias lachen war so ansteckend, dass er mitlachen musste. Als sich Julia einigermaßen wieder gefangen hatte, fragte Raphael, » Was ist daran so komisch? Das kann doch wohl sein? «
» Wie kommst du bloß auf so eine absurde Idee? «
» Na ja, ich habe gesehen, wie er dir zugezwinkert hat und du bist rot angelaufen. -Zweimal! «, fügte er überzeugend hinzu.
» Da kann ich getrost sagen, du hast sie nicht mehr alle. Glaubst du ernsthaft, das ich in meiner derzeitigen Situation das Flirten anfange? Da musst du dir selbst eingestehen, dass das 'ne selten dämliche Vermutung ist. Außerdem...ach ist auch egal. «
» Außerdem was? « Irgendwie war Raphael froh über die Antwort. Sehr froh sogar ohne zu wissen warum.
» Außerdem würde mich Björn in dieser Hinsicht nicht interessieren. «, dachte sie. Sagte aber, » Außerdem würde es dich nichts angehen, wenn es so wäre. « Raphael wurde verlegen.
» Entschuldigung. Das geht mich wirklich nichts an. «
» Zum hundertsten Mal, du sollst dich nicht dauernd entschuldigen. «, Julia war genervt.
» Ja, aber was war denn jetzt? «
» Das geht dich nichts an. «, antwortete sie barsch. Bereute ihre Antwort sofort, als sie Raphaels Gesicht sah. Sie sprang über ihren Schatten und nahm ihre gefalteten Hände auseinander und zeigte Raphael ihr zittern. Sie blickte ihn nicht dabei an. » Das war. «, sagte sie gereizt. » Ich habe die Hälfte vom Essen verschüttet und dann den Löffel an die Wand geschmissen. Björn hat es gemerkt und mir war es peinlich. Ende der Geschichte. « Da Raphael nichts zu erwidern wusste, nahm er kurzerhand Julias Hände in seine und drückte sie, so dass das zittern nicht mehr zu sehen war. Julia sah Raphael immer noch nicht an. Als sie Raphaels Hände spürte, bemerkte sie ein kribbeln in ihrer Magengegend. » Du bist krank da braucht dir gar nichts peinlich zu sein. Wir verstehen dich doch. « Julia entzog Raphael ihre Hände als das Kribbeln stärker wurde. » Danke. Ist schon besser « Sie sah ihn an, » Ihr versteht mich nicht. «, sagte sie bedrückt. » Wie könnt ihr mich verstehen? Ich bin es die hier liegt und nicht ihr. Ihr versteht gar nichts. «
» Entschuldigung, so war das,... « Bevor er den Satz zu Ende führen konnte, hatte er sich einen Klaps von Julia eingefangen. » Au, wieso haust du mich? «
Julia sah ihn an. » Denk mal drüber nach. « Sie lächelte. » Auch eine Methode dich von deinem Entschuldigungstrip runter zubringen. « Jetzt grinste Raphael. Seine nächste Entschuldigung konnte er sich gerade noch verkneifen.
Julia sah auf dem Wecker. » Ich werde gleich abgeholt. Gehst du dann nach Hause? «, fragte Julia mit der Hoffnung das Raphael noch bleiben würde.
» Dauert es lange? «
» Keine Ahnung. «
» Ich gehe einen Happen essen und komme dann wieder, wenn es dir recht ist. «
» Ja, fände ich gut. Ehrlich gesagt, ein kleines bisschen Ablenkung kann ich doch ganz gut vertragen. «
» Dann sage doch den anderen Bescheid. « Das Thema wollte Raphael sowieso anschneiden.
» Nein. Auf keinen Fall. Du weißt, wie ich dazu stehe. Ich möchte nicht das sie mich so sehen. Ich bin es die stirbt und ich muss mich darauf vorbereiten und das kann ich in der Gegenwart meiner Freunde nicht. Du hast es versprochen. Denk dran! «
» Ich weiß. Aber verspreche mir, dass du wenigstens darüber nachdenkst deinen Freunden die Wahrheit zu sagen. Du musst ihnen selbst die Wahl lassen ob sie dir beistehen wollen oder nicht. Du kannst es ihnen nicht verbieten. «
» Versprochen. «, sagte Julia schnell. Das Thema war sie leidig. » Wolltest du nicht gehen? Ich will mich dann noch für den feschen Björn aufbrezeln, der kommt mich gleich zu meinem Date abholen. «, wechselte Julia das Thema.
» Ich glaube das bringt nicht viel. Wer lässt sich denn schon auf eine Sterbekandidatin ein? Da nützt auch kein aufbrezeln mehr. «, brachte ihr Raphael entgegen. Julia blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen.
» Das war ein Gag! Ehrlich! « Julia regte sich noch immer nicht.
» Guter Scherz. «, sagte sie schließlich. » Da hätte ich nicht erwartet, mehr so’n Entschuldigung, aber trotzdem... « Sie haute ihn.
» Aua, womit habe ich das jetzt verdient? « Raphael war erleichtert, das Julia ihm den Scherz nicht übel nahm.
» Nur die Sterbekandidaten dürfen Witze übers sterben machen. Alle anderen nicht. Dafür! «
» Wer sagt das? Lass mich raten. Du! «
» Du lernst schnell. « Julia grinste.
Raphael überlegte kurz, » Da wir aber alle sterben müssen. Sind wir alle Sterbekandidaten. Also darf ich da genauso Witze drüber machen wie du und damit habe ich den hier gut. « Er gab Julia einen leichten Schubser in die Seite. Die tat so, als krümmte sie sich vor Schmerzen. Raphael, der außer sich vor Schreck war, wollte schon nach der Schwester klingeln, als er Julia lachen hörte. » Reingefallen! «
Julia sah Raphaels leichenblasses Gesicht und entschuldigte sich sofort. » Das war scheiße von mir. Tut mir leid! Das kommt nie wieder vor. Aber Frauen schlägt man nicht. Lasst dir das eine Lehre sein. « Raphael fasste sich wieder und gab ihr erneut 'nen Klaps.
» He, hörst du mir nicht zu? «
» Das war für den beschissenen Scherz. Hoffe, dass DIR das eine Lehre ist. Nur weil du todkrank bist, hast du noch lange keinen Freischein für alles. «
» War wirklich dumm von mir. Sorry. « Nachdem sich die Gemüter wieder beruhigt hatten sagte Julia, » Du hast Recht. «
» Womit jetzt genau? «, fragte Raphael verwirrt.
» Mit dem aufbrezeln. Es würde wirklich niemand eine Sterbekandidatin daten. «
» Ach was. Da gibt es bestimmt jemanden. «, brachte Raphael nicht ganz glaubwürdig hervor.
» Stimmt. So ein paar Perverse gibt es immer. Die finden es wahrscheinlich geil mit einer fast Leiche auszugehen. «
» So, war das nicht gemeint. «, unterbrach Raphael sie. » Ich meine, wenn sich jemand verliebt ohne zu wissen, das die Person krank ist, dann würde er sie um ein Date bitten. «
» Die Frage ist aber, würde er sie bitten, wenn er es wüsste oder wenn er es weiß, würde er trotzdem um ein Date bitten, denn darauf kommt es an. Die Wahrscheinlichkeit so jemanden zu finden dürfte ziemlich gering sein. «
» Es sein denn... «, sagte Raphael, » ... er ist pervers. « Beide lachten.
» Ich frage ihn gleich mal aus Spaß und gucke wie er reagiert. « Julis sah die Fragezeichen in Raphaels Gesicht.
» Na, Björn, ob er mit mir ausgeht. Da bin ich gespannt. Das habe ich noch nie einen Mann gefragt, da ich da old fashion bin und finde der erste Schritt ist Männersache, aber nun ist es egal. Dann habe ich das auch noch erlebt. «
Raphael fand die Vorstellung gar nicht so witzig. » Was, wenn Björn zustimmt. «, dachte er. Seine Einwände konnte er nicht mehr vorbringen, da Julia abgeholt wurde. Er musterte Björn genau während Julia sich weigerte im Bett liegen zu bleiben und sich schieben zu lassen. Sie meinte, dass sie noch gut zu Fuß sei und gehen könne. Schließlich einigten sie sich, sehr zu Julias Missmut, auf den Rollstuhl.
» Was wenn Björn dem Date zusagte? Würde Julia dann tatsächlich mit ihm ausgehen? «, fragte sich Raphael während des Essens. Er wurde nervös. Was, wenn, aber er stoppte den Gedankengang und erinnerte sich daran, dass es ihm nichts anging. Doch als er sich Julia und Björn zusammen vorstellte verging ihm der Appetit. Er vertrat sich die Beine im Park. Eigentlich könnte er gleich mit Julia runtergehen, wenn sie Lust hatte. Er ging wieder ins Krankenhaus. Gerade als er aus dem Fahrstuhl ausstieg, sah er wie Björn Julia den Flur entlang rollte. Sie unterhielten sich angeregt. Julia sah Raphael und winkte ihm zu. Als sie vor ihm standen übernahm Raphael den Rollstuhl von Björn. » Hast du Lust gleich in den Park zu gehen oder besser gesagt dich schieben zu lassen? «
» Später gerne, aber ich muss mich erst ausruhen. Ich fühle mich total schlapp. « Raphael wusste nicht wie er sich geschickt nach der Date-Frage erkundigen sollte. Er entschloss sich das auf den Park zu verschieben. Zurück im Zimmer legte sich Julia gleich ins Bett.
» Schau mal, wenigstens zittern meine Hände nicht mehr. «
» Das ist doch super. Soll ich dich alleine lassen? «
» Kannst ruhig bleiben. Ich brauche nur eine kleine Verschnaufpause. «, Julia lächelte.
Sie schloss die Augen. Raphael setzte sich und beobachtete Julia.
» Du guckst mich doch wohl nicht an? Das mag ich nicht. « Sie drehte sich zur Seite und musterte Raphael.
» Willst du gar nicht wissen, was Björn gesagt hat? «
» Geht mich doch nichts an, oder?«
» Männer! « Julia verdrehte die Augen.
» Ey, was soll das denn heißen? Hast du doch vorhin selbst gesagt. «
» Willst du es wissen? «
» Du erzählst es mir doch sowieso. «, erwiderte Raphael beiläufig. Er hoffte Julia würde nicht bemerken wie sehr es ihn interessierte.
» Meinst du? Da sei dir man nicht so sicher. «, schmollte Julia. Doch er brauchte nur zu warten bis Julia loslegte.
» Also, das war so. Erst wollte ich ihn direkt fragen ohne Vorwarnung. Doch im Fahrstuhl standen noch andere Leute und da hätte ich es blöd gefunden zu fragen. Er hätte mir ja einen Korb geben können... «
» Also hat er zugestimmt? «, fragte Raphael schnell.
» Scheinbar interessiert es dich doch mehr als du zugeben willst. «
» Ja, was ist denn jetzt? Habt ihr ein Date oder nicht? «, Raphael drohte vor Neugier zu zerplatzen.
» Du bist neugieriger als ich dachte. «, stellte Julia verwundert fest. » Kurz und knackig... ich habe ihn nicht gefragt. Bevor du deinen Senf dazu gibst. Ich habe mich nicht getraut. «
Raphael fiel ein Stein vom Herzen. » Wieso hast du ihn nicht gefragt, wenn es dir doch egal ist? «
» Ich fand es halt blöd ihn zu fragen, weil ich gar kein Date mit ihm möchte und ich selber würde es nicht gut finden, wenn mich jemand fragen würde ohne es ernst zu meinen. Das wäre nicht richtig gewesen. Außerdem hätte ich mir sowieso einen Korb eingefangen. «
Es klopfte und eine der Schwesternschülerinnen brachte den Kuchen und Tee.
» Hast du noch Hunger? «, fragte Julia, ohne zu wissen, dass Raphael sein halbes Mittag essen hatte stehen lassen.
» Jetzt wo du es ansprichst, ein bisschen was könnte ich noch vertragen. «
» Dann kannst du den Kuchen essen. Du brauchst gar nicht zu protestieren. Ich mag den Kuchen nicht und bevor er verkommt, iss du ihn. «
» Nur, wenn ich dir dann gleich ein Stück deiner Wahl aus der Cafeteria holen darf. «
» Wenn es da Schokokuchen gibt, dann gerne. Das ist einer der wenigen Kuchen, die ich mag. Schoko geht immer. «
» Den gibt es bestimmt. «, antwortete Raphael mit vollem Mund.
» Habe nur die Hälfte verstanden, aber das war wohl eine Bestätigung. «
Julia ging zum Schrank um sich ihre Jacke überzuziehen. Als sie sich umdrehte, hatte Raphael den Kuchen schon aufgegessen.
» Das ging aber schnell. «
» Sind doch kleine Stücke. Mit zwei Bissen hab ich den weg. «
Wieder konnte sich Julia nicht durchsetzen und musste im Rollstuhl Platz nehmen.
» Ich frag mich echt warum ich dauernd in den Rollstuhl muss, wenn ich noch gehen kann. «, meckerte sie.
» Damit du deine Kräfte schonst...«
» Bla bla bla. «
Die beiden meldeten sich auf der Station ab. Draußen schien die Sonne und das Wetter war angenehm warm. Der Park war nicht besonders groß, so dass sie nach einer halben Stunde bereits einmal um den kleinen Teich herum waren. Doch Julia wollte noch nicht wieder zurück. So setzten sie sich auf eine der Parkbänke. Sie beobachteten drei Enten beim schwimmen. Julia genoss es draußen zu sein. Als sie die den Enten zusah, fiel ihr ein, das sie Raphael fragen wollte, warum sie ein Einzelzimmer hatte.
» Nicht das ich mich beschweren möchte, aber weißt du warum ich ein Einzelzimmer habe? Ist es wegen meiner Krankheit? Den Luxus haben doch sonst bestimmt nur Privatversicherte. «
» Du liegst in einem Zimmer für Privatpatienten. «
» Wieso denn das? Ich bin doch gesetzlich versichert. «
» Ich kann mir vorstellen, dass sie das aufgrund deiner Krankheit angeordnet haben. Ab und zu kommt es vor, dass wir überlegt sind und dann haben einige das Glück in Zimmer für Privatversicherte verlegt zu werden. Die meisten Zimmer sind aber Zweibettzimmer. Deines auch. Wegen deiner Krankheit wird aber sicher niemand zu dir kommen um dich nicht noch mit anderen Krankheiten anzustecken. Deshalb sollst du den Mundschutz tragen, den du nicht trägst, wenn du die Station verlässt, wenn das eine der Schwestern sieht, bekomme ich bestimmt Ärger und du spielst ganz schön mit deiner Gesundheit. «
» Es gibt nichts mehr zu verlieren. Wozu denn noch der Mundschutz? Dann kann ich nicht mal tief durchatmen. Außerdem möchte ich, dass die Menschen mit denen ich rede mein ganzes Gesicht sehen können. Da möchte ich mich nicht hinter einem Mundschutz verstecken. «
» Du versteckst dich aber nicht. Das ist zu deinem Schutz. «
» Ich fühle mich ohne aber wohler und das trägt mehr zu meiner Genesung bei als wenn ich mich die ganze Zeit unwohl fühle. «
» Du hast zum ersten Mal von Genesung gesprochen... «, fiel Raphael auf.
» Das wird aber nicht geschehen. Nach dieser Woche werde ich nach Hause gehen. Das Leben ist kein scheiß Hollywoodfilm, wo meine Ergebnisse plötzlich durch die Decke gehen, das ich tatsächlich wieder gesund werden würde. «
» Ich könnte dich weiter besuchen kommen. «
» Nein. Das ist sehr nett von dir. Aber für dich gilt das gleiche wie für meine Freunde. «
Beide schwiegen wütend. Julia weil Raphael sie ständig mit ihren Freunden nervte und Raphael, weil sie sich so vehement weigerte ihren Freunden zu erzählen was los war.
» Ganz schön traurig, wenn man länger darüber nachdenkt. «, sagte Julia.
» Was genau? «
» Na, das überhaupt ein Unterschied zwischen Privat- und Gesetzlichversicherten gemacht wird. Richtig wäre es, wenn die Patienten die ruhigen Zimmer bekommen, die am schwersten krank sind und nicht die, die am meisten zahlen können. Das ist traurig. Das gilt auch für die Ärztewahl. Es sollte doch der den besten Arzt bekommen, der ihn aufgrund seiner Krankheit braucht und nicht der der am meisten hinblättert. «
» Das mag wohl sein, aber du musst bedenken, dass die Ärzte an den Privaten mehr verdienen als an den Gesetzlichen. Für sie macht das schon einen Unterschied. «
» Da läuft auch was verkehrt, das die Ärzte, im Verhältnis, wenig verdienen. Von den ganzen Pflegekräften fange ich erst gar nicht an. Aber eigentlich wird man doch eher aus Überzeugung Arzt und wenn man dann nur nach der Kohle guckt, ist das ein wenig merkwürdig. Teilweise schon krass, was in der USA passiert, wenn die Leute kein Geld haben, dann bekommen sie keine Behandlung, so gesehen, töten Ärzte sogar. Dachte immer dieser Eid verbietet denen das. «
» Hippokratischer Eid, aber die Verhältnisse in den USA sind nicht mit denen bei uns zu vergleichen. Hier wird vieles von der Kasse gezahlt von daher dürfen wir uns nicht beschweren. «
» Ist nur eine Frage der Zeit bis das bei uns auch so ist. Das fängt mir Zuzahlungen an und hört irgendwann damit auf, dass du deine eigenen OPs zahlen musst und wenn du das nicht kannst, dann ist das dein Pech. Ist doch schon assig, dass du dafür zahlen musst, das du im Krankenhaus liegst. Schließlich wird ja niemand freiwillig krank. Das dumme ist nur, wir nehmen das alles so hin und niemand unternimmt was dagegen. «
» Was willst du schon groß machen? «
» Wird mal wieder Zeit für eine herausragende Persönlichkeit wie Martin Luther King, der hat was bewegt und verändert. Der war mutig und hat den Anfang gemacht. Und das alles friedlich und heutzutage nehmen wir einfach alles hin. Alles aus Geldgeilheit. Zum kotzen. «
» Du hättest wirklich ein Buch schreiben sollen... «, stellte Raphael fest, » vielleicht hätte das was verändert. «
» Ach was, wir lesen so viel und jeder einzelne auf diesen beschissenen Erdball weiß, das die Welt ungerecht ist. Ich bin schon dankbar für die Menschen, die wirklich versuchen was zu ändern. Wollen wir über was anderes reden? Das macht mich nur wütend. «
» Du bist da doch mit angefangen. «
» Eine Frage habe ich dann aber doch noch. «
» War klar. Die da wäre? «
» Was genau ist der Unterschied von meinem Zimmer zu den Gesetzlichversicherten? «
» Auf alle Fälle, dass ihr maximal zu dritt liegen könnt, aber nur im Notfall. In den anderen Zimmer könnten bis zu fünf Patienten liegen. Aber das ist dann wirklich eine Zumutung. Du hast eine Musikanlage, einen Flachbildfernseher und deine Wandfarben sind freundlicher. Mehr fällt mir gerade nicht ein. Du kannst das schon draußen an den Türen sehen wer ein privates und wer ein gesetzliches Zimmer hat. «
» Wie das denn? «
» Die Holzverzierungen an den Türen ist von den privaten dunkler als die der gesetzlichen, daran kannst du sehen ob du in ein privat- oder gesetzlichversichertes Zimmer gehst. «
Julia blickte Raphael fassungslos an. In ihr brodelte es. » Das ist nicht dein ernst, oder? «
» Doch, da kannst du gleich drauf achten, wenn wir wieder auf Station sind. «
» Wie Oberassi ist das denn? Da sage ich mal, Zweiklassengesellschaft lässt grüßen. Daran seht ihr dann welchen Patienten ihr in den Arsch kriechen müsst und welchen nicht?! «
» Reg dich ab. Das Personal ist auch nicht froh drüber, dass wir die Patienten so abspeisen müssen und bei denen wo Kohle ist ein bisschen mehr Zeit aufbringen müssen. Da hängen die Jobs der Leute dran. Die haben Familie. Natürlich ist das nicht richtig, aber wie gesagt, was willst du machen? Wir sitzen hier auch nur rum und schwingen Reden. «
» Wir könnten jetzt gleich einen Sitzstreik starten. Was ist? Machst du mit? «
» Was wollen wir denn bestreiken? «, fragte Raphael schmunzelnd. Sie überlegte.
» Wie fangen am besten klein an und fordern, das die Holzverzierungen die gleiche Farbe bekommen. Das wäre ein Anfang. « Raphael sah wie Julias Augen aufblitzen.
» Sag mal, ist das auf jeder Station so mit den Türen? «
» Nein, nur im Neubau. «
» Wie viele Zimmer sind das? «
» Das müssten um die zweihundert Zimmer sein und davon fünfzig für Privatpatienten. Warum? «, fragte Raphael argwöhnisch.
» Ganz einfach, wir lassen den Sitzstreik sein und besorgen Farben und streichen die Holzverzierungen um. «
» Genau, wir spazieren da rein und keiner sagt was, wenn wir uns an den Türen zu schaffen machen. «
» Heute Nacht natürlich. Also wie ist es? Was kostet die Farbe wohl? Ich habe was gespart, dass wollte ich eigentlich meinen Eltern für meine Beerdigung geben... «
» Und das wirst du auch! «, unterbrach er sie, » Selbst wenn wir es schaffen würden ein paar Holztüren umzustreichen, dann würde spätestens nächste Woche der Hausmeister sämtliche Türen neu gestrichen haben. Das führt zu nichts. Lass es gut sein. «
» Dann hätten wir für eine Woche was erreicht. Man sollte immer klein anfangen. «
» Schicke der Kanzlerin doch eine Mail mit deinen Anliegen, das bringt vermutlich mehr. «
» Oder genauso wenig. Du nimmst die Sache nicht ernst. Du bist doof. «
» Ich weiß, das bekomme ich öfters von dir zu hören. «
» Tut mir leid. Ich meine es nicht so. Du bist dann positiv doof, okay? «
» Was ist denn positiv doof? «
» Die Leute die ich mag und sich doof benehmen sind positiv doof. Negativ doof ist dann der oder die, die sich das mit den Türen ausgedacht haben. Und der Obertrottel ist der oder die, die sich das Geld ausgedacht haben, weil sich alles nur noch darum dreht. Das kann einfach nicht gesund sein. «
Raphael fühlte ein gutes Gefühl in sich aufsteigen, als er hörte, dass Julia ihn mochte. Er hörte ihr gar nicht mehr richtig zu. Als sie einen Chemiker zitierte, hörte er wieder hin.
» Du zitierst gerne, oder? «
» Da ich selber schlecht im reden bin, zitiere ich gerne, weil die Menschen das einfach schön gesagt haben und es meiner Meinung nach nicht besser geht. Hast du mir überhaupt zugehört? «
» Musste mich gerade daran erinnern, das du wirklich nicht gut im reden bist oder besser warst. Ich habe dich noch nie so viel am Stück reden hören wie in den letzten Tagen. Höchstens mal einen Satz oder zwei und die hat kaum jemand verstanden, weil du so leise geredet hast. Außer mit Fabian und Dirk mit denen hast du immer mehr geredet. «
» Weil ich die Beiden besser kenne und mir auch viel mit ihnen schreibe, dann fällt mir das leichter. Ich muss Leute immer besser kennenlernen oder wie jetzt mit dir zu zweit sein. Ich kann überhaupt nicht gut vor Menschengruppen reden und ihr seid eine so große Clique wovon ich kaum jemanden kenne. Außerdem höre ich lieber zu als das ich rede. Mein Leben ist nicht besonders spannend und ich bin schlecht im erzählen. Ich kann das nicht so gut rüber bringen wie ihr. Aber seitdem ich weiß, dass das reden bald vorbei ist habe ich das Gefühl, das noch so viel raus muss. Entschuldige, wenn ich dich so zu texte. Ich labere in einer Tour. Wie wäre es wenn du mir, was von dir erzählst? «
» Ich höre dir gerne zu. «
Julia errötete. » Nein jetzt bist du dran. «
» Was willst du denn wissen? «
» Du hast mich nach meinem größten Wunsch gefragt und ich habe dich gar nicht gefragt was deiner ist? Aber nur, wenn du es verraten möchtest. «
» Das du dich behandeln lässt. «, entfuhr es Raphael, ohne dass er eine Sekunde darüber nachdenken musste. Julia wurde blass. » Ich meine, dass ist momentan mein größter Wunsch. Willst du es dir nicht wenigstens noch einmal überlegen? «
» Nein. Raphael, ich kann nicht. Mach es mir nicht schwerer als es schon ist. «
Julia dachte nach, » Was war dein größter Wunsch vor dieser Woche? «
Raphael lenkte ein, » Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Bei World of Warcraft ins 100 Level kommen? Ich habe keine besonderen Wünsche. «
» Dann scheinst du ein zufriedenes Leben zu führen. «
So hatte Raphael das noch nie gesehen, » Das ist gut möglich. «
» Das ist doch schön. «
» Ja, das ist es. «, antwortete Raphael in Gedanken.
» Dann berichte einfach so aus deinen Leben. «, forderte Julia ihn auf.
Raphael überlegte, er war es nicht gewohnt, dass ihn jemand aufforderte was von sich zu erzählen. Ihm fiel nichts besonderes ein.
» Mein Leben ist auch nicht so spannend, aber ich finde es lustig, wenn man sich die Zahnbürste... « Er lachte.
» Immer noch nicht lustig. « Julia lachte auch.
» Wie spät haben wir es eigentlich? «
Raphael blickte auf seine Armbanduhr. » Wir hätten vor fünf Minuten wieder da sein sollen. «
» OH mein Gott! Dann ist es wahrscheinlich nicht weiter schlimm, wenn wir noch fünf Minuten länger sitzen bleiben. « Was sie schweigend taten.
Wieder auf der Station fielen Julia sofort die unterschiedlichen Holzlackierungen an den Türen auf. Aber sie sagte nichts mehr dazu. Sie merkte die Müdigkeit in sich aufsteigen. Draußen hatte sie gar nicht gemerkt, wie müde sie war und ihr fiel auf, dass sie kaum an ihre Krankheit gedacht hatte.
Zum Abendbrot gab es Brot mit Käse. Sie erlaubte Raphael sogar zu bleiben.
Ausgelaugt legte sich Julia zurück ins Bett.
» Musst du nicht schon gehen? Die Besuchszeit ist doch bestimmt schon 'rum, oder? «
» Eigentlich erst um acht, aber wenn du allein sein möchtest. «
» Ich bin doch ein wenig erschöpft. Danke für den Tag im Park. «
» Dafür nicht, das können wir morgen gerne wiederholen, wenn du Lust hast. «
» Gerne. Morgen habe ich keine Untersuchungen, aber ich möchte versuchen nach dem Frühstück zu schlafen. «
» Dann komme ich wieder um die Mittagszeit. «
» Gut. Denk an die Farbe. Was meinst du denn nun was die kosten wird? «
» Meintest du das etwa ernst? «
» Schon. Noch einmal was verrücktes machen. « Sie grinste.
» Schlaf da noch eine Nacht drüber und dann sehen wir morgen weiter. «
» Mache ich. Schon komisch hätte mir vor einem Monat jemand vorgeschlagen Türen umzustreichen, wären mir bestimmt hunderte von Argumente eingefallen, es nicht zu tun. Die scheinen mir jetzt alle nichtssagend zu sein. Ich schätze das liegt wirklich daran, dass mir keiner mehr was kann. «
Raphael wusste darauf nichts zu erwidern. Julia schien auch mehr mit sich selbst zu sprechen. Sie fühlte sich ein wenig unwohl, weil sie wusste, dass sie gleich wieder mit ihren Gedanken ganz allein war.
Raphael streckte Julia wieder seine rechte Hand entgegen, » Dann werde ich mal. «
Sie streckte ihm ihre linke entgegen. Dabei fragte sie, » Kann ich deine linke bekommen ? «
» Klar, aber was ist mit meiner rechten nicht in Ordnung? « Sie hielten sich die Hände.
» Versuche mal von selbst darauf zu kommen. «
» Aber... «
» Versuch es erst mal. «
» Na schön. Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben. «
» Aber nicht googlen, das wäre zu einfach. «
» Wie sie befehlen. «, scherzte Raphael.
Sie lösten sich voneinander. An der Tür drehte sich Raphael noch einmal um. » Schlaf gut und träume was schönes. «
» Danke. Du auch. Dann bis morgen. Ich freu’ mich «
» Ich freue mich auch. «, dachte er und ging.
Sie war allein. Obwohl sie vorhin so müde war, hielt sie sich lange wach. Doch dann, ganz plötzlich wurde alles schwarz.
4. Tag
Gegen Mittag fuhr Raphael ins Krankenhaus. Er betrat Julias Zimmer. Sie war nicht da. Sofort wurde er nervös, eigentlich hatte sie heute keine Untersuchungen. » Ganz ruhig. «, dachte er. Zum ersten Mal spürte er Panik in sich aufsteigen. » Was, wenn Julia... «, den Gedanken weigerte er sich zu Ende zu bringen. Er eilte zum Schwesternzimmer.
Schwester Irene sah Raphael nervös auf sie zukommen. » Setz dich! «, forderte sie ihn auf. Ungeduldig nahm er Platz. Ein ungutes Gefühl beschlich ihm.
» Ich sage dir das jetzt als Zivi. Julia ist gestern Nacht bewusstlos aufgefunden worden. Sie wird noch untersucht. Mach’ dir keine Sorgen ,ihr geht es den Umständen entsprechend wieder besser. «
» Ich will zu ihr! « Raphael stand auf. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das Einzige, was er wusste war, dass er bei Julia sein wollte. Er war nicht da gewesen als sie ihm am meisten gebraucht hatte. Er machte sich Vorwürfe.
» Du weißt genau, dass das nicht geht. Sie kommt jeden Moment zurück. Hier. «, sie gab ihm ein Glas Wasser, » Trink erst mal. «
Widerwillig setzte sich Raphael auf den Flur. Von da konnte er gleich sehen, wenn Julia kommt. Während er wartete wurde ihm schlagartig klar, dass es wirklich nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie... » Nein! Hör auf so zu denken! Die Ergebnisse werden gut ausfallen, sie wird der Therapie zustimmen und wieder gesund werden. «
Er ging den Flur auf und ab. Er setzte sich wieder. Seine Unruhe wuchs mit jeder Minute, die er auf Julia warten musste. Frau Meyer, aus Zimmer 425, kam den Flur entlang. Sie erkannte Raphael und setzte sich zu ihm. » Warum kommen Sie nicht mehr vorbei? Sind Sie woanders eingeteilt worden? « Er blickte sie an. Erst jetzt bemerkte Frau Meyer, das Raphael Tränen in den Augen hatte.
» Ich habe Urlaub und besuche eine Freundin. «, brachte er kurz hervor. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten und weinte leise. Frau Meyer tätschelte unbeholfen seine Hand und ließ ihn erst Mal wieder zu sich kommen. » Sie wird sterben. «, sagte er flüsternd. Jetzt wo er es ausgesprochen hatte, klang es endgültig. Gleichzeitig spürte er Erleichterung darüber reden zu können. » Aber noch lebt sie. Also nutze die Zeit die Ihnen noch bleibt. Zeit ist alles was wir haben. Leider wird uns das erst klar, wenn es zu spät ist. «, entgegnete Frau Meyer. Raphael sah sie an. » Glauben Sie, dass sich ein Leben innerhalb von ein paar Tagen komplett ändern kann? « Verwundert über die Frage, gab Frau Meyer zurück, » Ein Leben kann sich innerhalb einer Sekunde, eines flüchtigen Momentes verändern. Dazu braucht es keine Tage Vielleicht bemerken wir diese Momente nicht sofort. Begreifen sie erst später und stellen dann fest, dass dieser Moment unser Leben verändert hat. Mit zunehmenden Alter, ist mir klar geworden, dass wir immer eine große, eine sichtbare Veränderung erwarten und darüber die kleinen, die uns nachhaltig beeinflussen, übersehen. Aber genug philosophiert. Das wirst du noch alles selbst erleben. «
Raphael dachte über das Gesagte nach. » Was war einer Ihrer Momente? Wenn ich fragen darf. « Bevor Frau Meyer antworten konnte, kam Julia in ihrem Bett, den Flur entlang geschoben. Raphael sprang auf und lief ihr entgegen. Frau Meyer folgte langsam.
» Mir geht es wieder besser. «, sagte Julia schwach zu Raphael, der das Bett übernahm und Julia Richtung Zimmer 405 schob.
Frau Meyer dachte an die Geburt ihres ersten Kindes. Das war einer ihrer großen Momente gewesen. Sie ging auf Raphael und Julia zu. Raphael stellte Julia Frau Meyer vor. » Sehr erfreut. «, sagte Frau Meyer, » Ich kann Ihnen leider nur meinen gebrochenen Arm anbieten. « Ihren linken Unterarm hatte sie während des Krieges verloren. » Und ich werde sie nicht fragen, wie es Ihnen geht. Die Frage halte ich in einem Krankenhaus für vollkommen überbewertet. «
» Das stimmt. «, lächelte Julia schwach. Ihr ging die Frage schon seit ihrer Einweisung auf die Nerven. Egal wohin man kam oder wer das Zimmer betrat, ständig die Frage wie es einem geht.
» Ich will euch zwei jungen Leute dann mal alleine lassen. Mein Mann kommt gleich und ich muss mich noch zurecht machen lassen. «
» Das haben Sie doch gar nicht nötig. «, meinte Raphael schelmisch. Frau Meyer lachte.
» Auf männliche Charmeure muss man gut aufpassen. «, sagte Frau Meyer an Julia gewandt und blinzelte ihr zu. Damit verabschiedete sie sich.
Inständig hoffte Julia, dass Raphael nicht mitbekommen hatte, wie sie rot anlief. Raphael, dem ebenfalls eine leichte Röte zu Gesicht gestiegen war, dachte das Gleiche und betrat das Julias Zimmer.
» Frau Meyer ist sehr nett. «
» Finde ich auch. Eine von den angenehmen Patienten. Sie stellt sich bloß jeden Tag an, weil sie sich von keinem Mann waschen lassen will. Muss immer extra eine Schwester kommen. Die ist auf ihre alten Tage noch ein wenig prüde. «, grinste Raphael.
Julia verdrehte die Augen. » Was? «, fragte er, » Ist doch wahr. «
» So ein Quatsch, dass hat nichts damit zu tun, das man prüde ist. «
» Ach, nee? Womit sonst «
» Ich denke es geht nicht darum gewaschen zu werden sondern von jemand völlig Fremden berührt zu werden. Würdest du dich denn von jeder x-beliebigen Schwester im Krankenhaus waschen lassen? Also ich würde mich von keinem Pfleger waschen lassen. Ich finde ihre Einstellung gut. Ich empfinde es auch als angenehmer, wenn eine Ärztin bei mir die Untersuchungen durchführt anstatt ein Arzt, aber das nehme ich dann hin, wenn es ein Arzt ist. «
» Das ist nicht dein Ernst? «, entgegnete Raphael verblüfft.
» Doch natürlich. Ich würde mir auch nie den Rücken -von jemand Fremden- mit Sonnencreme eincremen lassen. Geschweige denn jemand anderen den Rücken einschmieren. «
» Ab und zu habt ihr Frauen echt einen Knall. Das ist doch nichts dabei. Das ist mein Job. «
» Allein schon die Vorstellung finde ich gruselig. Das kann sonst jemand sein. Ein Massenmörder oder so, dass weiß man ja nicht. Also jetzt am Strand oder im Schwimmbad. In Krankenhaus soll das wohl nicht so häufig vorkommen. «
Raphael schüttelte mit dem Kopf. » Euch Frauen soll einer verstehen. «
Julia wurde müde. Doch sie hatte Angst einzuschlafen. Raphael, der wie immer neben ihrem Bett saß, bemerkte Julias Veränderung und frage was los sei.
» Ich bin so müde, aber ... «, sie stockte, » ... es war alles schwarz, verstehst du? Schwarz. « Sie schluchzte. » Was wenn ich einschlafe und diesmal nicht mehr aufwache. « Sie hielt inne.
Raphael nahm ihre Hand. » Ich bleibe die ganze Zeit hier und passe auf. « Er nahm ihre Hand. » So lange du meine Hand spürst, weißt du das alles gut ist. Du wachst wieder auf. «, sagte er bestimmt.
Julia lächelte und wischte sich die Tränen beiseite. » Das wäre schön, aber das kannst du nicht wissen. «, erwiderte sie traurig.
» Doch, das kann ich. « Er hielt ihre Hand und strich ihr mit der anderen über ihre Haare.
» Versprochen? «, fragte sie matt.
» Versprochen. « Impulsiv gab er ihr einen Kuss auf die Stirn. » Schlaf jetzt «
Obwohl Julias Herz nach dem Kuss wie wild schlug, schlief sie mit ruhigem Gewissen ein wieder aufzuwachen.
Erst gegen Abend wachte Julia auf. Raphael döste, hielt aber wie versprochen ihre Hand.
Sie sah ihn lange an. Wieder spürte sie dieses kribbeln. Doch das schob sie auf ihren Hunger. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Raphael bemerkte das Julia wach war. Er öffnete seine Augen und lächelte sie an.
» Siehst du, ich habe es dir versprochen. «
» Ja, das hast du. Vielen Dank. «
» Wie geht es dir? «
» Besser. «
Zum ersten Mal herrschte eine bedrückende Stille zwischen den Beiden. Wie am ersten Tag.
Diese wurde jedoch durch Julias Magengrummeln zerschnitten.
» Du hast bestimmt Hunger. « Raphael löste sich von Julia, damit sie essen konnte.
» Und du? «, fragte sie.
» Schwester Irene hat mir ein Mittagessen organisiert und deinen Kuchen habe ich auch verputzt. «
» Möchtest du nach Hause fahren? Du bist doch sicherlich müde. Nicht, dass du noch Ärger bekommst, wenn du länger bleibst als es die Besuchszeit erlaubt. «
» Ich bin überhaupt nicht müde. Seit heute Nachmittag habe ich das Okay von Schwester Irene, das die Besuchszeit für mich nicht gilt. Solange dich meine Anwesenheit nicht zu sehr anstrengt. «
Julia war erleichtert. Trotzdem bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil Raphael so viel für sie tat. Eventuell wurde es doch Zeit ihre Familie zu informieren. Aber den Gedanken schob sie beiseite. Jetzt musste sie erst Mal etwas essen.
Wie aus heiterem Himmel fragte Julia Raphael, » Was ich schon immer wissen wollte, warum habt ihr Männer so ein Problem damit treu zu sein? «
» Wie kommst du denn jetzt darauf? «
» Keine Ahnung, aber das ist etwas was ich an euch nicht verstehen kann. Warum, wenn ihr eine Beziehung habt, nicht treu sein könnt. Oder zumindest viele von euch. «
» Moment mal! Es gibt auch genug Frauen die nicht treu sind. «
» Ich weiß, aber wenn ich so überlege, von den Leuten, die ich kenne würde ich für mehr Frauen als Männer meine Hand ins Feuer legen, dass sie treu sind, wenn sie einen Partner haben. Bei den Männern wäre ich mir da nicht so sicher. Der zwei einzigen Männer von denen ich denke, dass sie zu hundert Prozent treu sind, sind Felix und Steffen. Für Felix gibt es nur Steffen und sonst keinen. Und für Steffen gibt es nur Felix. Da könnte Brad Pitt um die Ecke kommen und ihnen versuchen den Kopf zu verdrehen. Er würde keine Chance haben. Bei allen anderen könnte Angelina Jolie um die Ecke kommen und jeder zweite würde seine Partnerin vergessen. Wie sieht das denn bei dir aus? Hast du eine Freundin? «
» Nein, habe ich nicht und ... « Bevor Raphael weiter antworten konnte, hakte Julia weiter nach, » Und wenn du eine hättest, würdest du dann die Angelina von der Bettkante schubsen? « Julia gab die Antwort einfach selbst. » Nein, würdest du nicht. Außerdem wäre es nett von den Männern Angelina daran zu erinnern, dass sie verheiratet ist und Kinder hat. Aber das ist euch Männern egal. Hauptsache ihr kommt auf eure Kosten. « Julia war nun so richtig in Fahrt, so dass Raphael überhaupt nicht zu Wort kam.
» Und dann erklärt die Wissenschaft das noch damit, dass die Untreue in unseren Genen steckt. Ist also der Affe in uns schuld. Dabei sind wir es doch, die immer sagen, wir haben uns weiterentwickelt, aber wenn es darum geht, dass wir uns daneben benehmen, dann wird sich wieder auf das Tier in uns berufen. Totaler bullshit, wenn du mich fragst. So macht man sich das wieder ganz schön einfach. Ist doch nicht mal zu hundert Prozent bewiesen, dass wir vom Affen abstammen. Könnte sein, dass wir vom Schwan abstammen und die sind monogam. Haben die ein Mal ihren Partner gefunden, bleiben sie ihm bis zum Lebensende treu. Ach und falls wir wirklich vom Affen abstammen, warum gibt es dann noch Affen? Haben sich einfach ein paar gedacht, ach lassen wir die anderen mal machen, aber wir bleiben Affen oder wie soll ich mir das vorstellen? «
Mittlerweile sah Raphael Julia amüsiert zu, wenn sie erst Mal Fahrt aufgenommen hatte, war sie nicht mehr zu stoppen.
» Sag doch auch mal was. «
» Worum geht es denn jetzt? Um die Evolutionstheorie? Das sagt doch schon der Name, dass es sich um eine Theorie handelt. Ich für meinen Teil, kann mit dieser Theorie sehr gut leben. Für mich ist es wahrscheinlicher das wir vom Affen abstammen als wie von einem Schwan oder uns irgendein Gott erschaffen hat. Außerdem halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass ein paar Affen gedacht haben, dass sie da nicht mitmachen. Da, wie wir wissen, Affen keinen freien Willen haben. «
» Sagt wer? «
» Die Wissenschaft. Der Mensch ist das einzige Säugetier mit einem freien Willen. Was selbständig denken und handeln kann. «
» Bist du schon Mal ein Affe gewesen? Abgesehen von deinen Ururururur-Vorfahren? Nein, also kann niemand behaupten, dass Affen oder jedes andere Tier keinen freien Willen hat. «
» Du willst mir jetzt nicht erzählen, dass Affen einen freien Willen haben? «
» Nein, weil ich es nicht weiß. Ich bin noch nie ein Affe gewesen, denke ich zumindest, daher kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, dass sie keinen freien Willen haben. Zwar, denke ich auch, dass sie keinen haben, weil sie sich sonst gegen den Menschen wehren würden, aber wer weiß das schon genau? Vielleicht sind sie einfach schlauer als wir und halten uns zum Narren, denn sie beziehungsweise die Tiere werden es sein, die uns, wenn ein Mal alles zu einem Ende kommt, uns überleben werden, weil sie immer noch von und mit der Natur leben. Im Gegensatz zu uns. «
» Trotzdem fehlt den Tieren der freie Wille, alles was sie machen ist instinktiv. «
» Was, wenn unser freier Wille auch nichts anderes als ein Instinkt ist? «
Raphael war verdattert. Julia brachte ständig sein ganzes Weltbild ins Wanken und das mit irgendwelchen Haarsträubenden Ideen. » Das ist doch Unsinn. «
» So, wenn es Unsinn ist, wieso wird denn, sobald etwas schief läuft, es damit begründet, das wir vom Affen abstammen? Wo wir wieder beim angeblichen untreuen Gen sind. Dann müsste uns der freie Wille daran hindern untreu zu werden, denn dann können wir uns dagegen entscheiden untreu zu werden. Dann sollten die Menschen, die untreu werden, es wenigstens zugeben und sich nicht die Ausrede suchen, dass das in unseren Genen liegt und den Affen in uns die Schuld geben. Müssten dann nicht alle Menschen untreu sein? Da aber nicht alle Menschen untreu sind, halte ich das Untreuegen einfach nur für bullshit. «
Raphael hatte einen Einfall, » Aber wir Menschen sind nun mal alle verschieden und um deine Theorie aufzugreifen, was wäre denn, wenn die untreuen Menschen vom Affen abstammen und die Treuen von den Schwänen. « Raphael versuchte Julia mit ihren eigenen Waffe zu schlagen. Was er aber nicht erwartete, war das Julia ihm Recht gab.
» Möglich wär’s. Von diesem Standpunkt aus habe ich das noch gar nicht betrachtet. Das würde so einiges erklären. « Sie fing Feuer. » Stell dir das doch nur mal vor, bei der Artenvielfalt von Tieren. Warum sollten wir dann nur von einer Spezies abstammen? Wäre doch möglich, das mehrere Spezies unsere Vorfahren sind. Menschen die gerne schwimmen, haben Fische in sich. Menschen, die gerne in die Höhe gehen, Vögel und Menschen, die die Wälder lieben, Hirsche. « Julia war von der Vorstellung ganz begeistert auch wenn sie insgeheim wusste, dass das wohl nicht der Fall war, aber wer weiß das schon so genau?
Schließlich brachte Raphael sie damit zu stoppen indem er ihre ursprüngliche Frage aufgriff.
» Ja, würde ich. «
Julia hatte keinen Schimmer wovon Raphael sprach. » Was würdest du? «, fragte Julia verwirrt, » Wovon redest du? «
» Ich würde Angelina Jolie von der Bettkante schubsen, wenn ich eine feste Freundin hätte. «
Das nahm Julia ihn nicht ab. Julia wusste von Dirk, dass Raphael sich auf einer Fete geprügelt hatte, weil er ein Mädel angemacht hatte, die mit ihrem Freund da war und fragte, » Wenn du keine feste Freundin hättest, würdest du die Situation nutzen oder sie an ihre Familie erinnern? «
» Raphael wurde rot und sagte ehrlich, » Vermutlich nicht. Genauso wie wahrscheinlich achtzig Prozent alles Männer dieses Planeten und genauso achtzig Prozent aller Frauen, denen Brad Pitt ein unmoralisches Angebot machen würde. Was würdest du denn tun, wenn Brad Pitt vor dir steht und sagt, dass er dich will? «, konterte Raphael.
» Ganz einfach, ich würde ihm sagen, dass er Frau und Kinder hat und er sich gefälligst benehmen sollte. Dann wäre die Unterhaltung für mich vorbei. Freundlich wie ich bin, würde ich ihn natürlich verschweigen, dass er nicht mein Typ ist. Außerdem kenn’ ich ihn überhaupt nicht persönlich. Er kann in Wirklichkeit ein total arroganter Heini sein. Aber du findest die Angelina schon sexy, oder? Sie grinste.
» Ich und wahrscheinlich neunundachtzig Prozent aller Männer dieses Planeten. «
» Ehrlich gesagt, glaube ich nicht mal, dass das so viele sind. Es gibt bestimmt viele, die lieber die Jennifer Aniston oder Rihanna oder sonst wen auf der Bettkante sitzen hätten. Ist halt Geschmackssache. «
» Nicht die Männer zu vergessen, die lieber Brad als Angelina auf der Bettkante sitzen hätten. «, fügte Raphael schmunzelnd hinzu.
» Richtig und nicht die Frauen zu vergessen, die gerne Angelina und Brad auf der Bettkante hätten oder Brad, Angelina und Jennifer. Sag mal, wie spät haben wir es eigentlich? «
» Gleich elf. Die Nachtschwester schaut bestimmt gleich noch einmal vorbei. «
Julia sah zum Fenster. » Hast du heute noch was vor? «
» Nein wieso? Du denn? «
» Da ich noch kein Stück müde bin und wieder fit bin, wie wäre es, wenn wir Sterne gucken gehen? « Sie zeigte nach draußen auf den klaren Sternenhimmel.
» Können wir doch von hier machen. «, schlug Raphael besorgt vor.
» Durchs Fenster Sterne gucken ist doch nicht das Gleiche wie unter freiem Himmel «
» Aber das geht nicht. «
» Klar, warum nicht? Das hast nichts vor. Ich hab nichts vor. Passt doch. «
» Ich will dir deine Stimmung nicht vermiesen, aber denke mal, bitte an gestern Nacht. Du gehörst ins Bett. «
» Vielen Dank auch. « Julia war enttäuscht. » Biiiiitteeee! «, sagte sie ganz lieb. » Mir geht’s schon wieder viel besser. Ich gehe auch freiwillig in den Rollstuhl. «
» So gut kann es dir nicht gehen, wenn du freiwillig den Rollstuhl nimmst. « Julia wurde traurig. Aber aufgeben gab es für sie nicht. Sie näherte sich Raphaels Gesicht und sagte erneut, » Biiitteeee. «
» Geht es dir wirklich besser? «, fragte Raphael besorgt.
Julia jubelte und umarmte ihn. » Das deute ich als Zusage. «, sagte sie neckisch.
Raphael war machtlos. Ganz wohl war ihm aber nicht dabei.
» Wir könnten raus aufs Dach, dann ... «
» Aufs Dach? Jetzt bist du völlig übergeschnappt. «
» Wieso? Dann sind wir dem Himmel näher, das ist bestimmt wunderschön. « Raphael musste sich was einfallen lassen.
» Da kommen wir gar nicht drauf und außerdem gibt es da ein kleines Problem mit den Namen Schwester Margret, die lässt uns nie und nimmer raus. «
» Wetten das doch? « Gib mir zehn Minuten. Ich überrede sie. «
» Wie du meinst. «, Raphael schob den Rollstuhl ans Bett und gab ihr ihre Jacke.
» Soll ich dir helfen? «
» Nein, danke, das schaffe ich alleine. Dauert nur etwas länger. «
Als sie fertig waren lächelten sie sich an. Just in diesem Moment klopfte es an die Tür und die Nachtschwester kam herein. Als sie Julia im Rollstuhl sah, traute sie ihren Augen kaum. » Was ist denn hier los? Sofort wieder ins Bett. « Die Schwester ging zu Julia. In der Zeit verschwand Raphael aus dem Zimmer und schloss die Tür.
» Was geht hier vor? «, fragte sie abermals.
Julia antwortete ehrlich, » Ich würde gerne mit Raphael aufs Dach zum Sterne gucken. «
» Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Das kommt gar nicht in Frage! Hat sich Raphael das ausgedacht? Na der bekommt was zu hören! «
» Nein, nein. Das war ganz allein meine Idee. Raphael wollte gar nicht... «
» Ganz richtig so. Sie sind viel zu schwach. Ab ins Bett mit Ihnen. «
» Bitte! «, sagte Julia leise. » Ich habe noch nie mit jemanden zusammen Sterne geguckt. «
Sie legte ihr traurigstes Gesicht auf. Das stimmte zwar nicht so ganz. Mit ihren Freunden hatte sie schon Sterne geguckt, aber das war immer auf den Heimweg von Feten. Das zählte also nicht wirklich.
Schwester Margret überlegte lange und atmete tief durch. Sie gab sich geschlagen, » Wenn was passiert, riskiere ich meinen Job. «
» Das ist ein ja, oder? «, freute Julia sich.
» Ach zum Teufel. Warten Sie hier: Ich rufe den Hausmeister an, dass er Sie aufs Dach lässt. Aber nur kurz! «
» Versprochen. « Julia rollte zu ihr und bedankte sich mit einer Umarmung. Die Schwester schob Julia zur Tür. Als sie Julia an Raphael übergab, blickte sie ihn eindringlich an und sagte, » Zwanzig Minuten und keine Sekunde länger. « Raphael war verblüfft, so dass er nur nicken konnte. Julia rollte zu Schwester Margret ins Schwesternzimmer und bat Raphael zu warten. Während sie auf den Hausmeister warteten, sagte Julia, in dem Buch das ich lese, schreibt eine ehemalige Krebspatientin, » Dass sie früher immer gesagt habe, das sie keine Zeit habe und heute würde sie sich die Zeit einfach nehmen. « Julia verstummte. » Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Danke, dass sie mir das ermöglichen. Vielen Dank! «
Bevor Schwester Margret etwas erwidern konnte, eilte der Hausmeister herbei und die Schwester erklärte ihm worum es ging. Als Julia und Raphael mit dem Hausmeister zusammen den Fahrstuhl betraten, schaute Schwester Margret aus dem Fenster und überlegte, wann sie sich das letzte Mal Zeit genommen hatte um Sterne zu gucken. Sie konnte sich nicht daran erinnern. Nach der Nachtschicht erledigte sie noch einiges im Haushalt. Weckte ihren Mann und ihre Kinder und ging dann zu Bett. Täglich war sie mit Krankheiten und oft mit dem Tod konfrontiert, aber eher selten bei so jungen Menschen wie es Julia war. Sie dachte an Julia und Raphael. Die Schwestern hatten bemerkt, dass sich zwischen den Beide eine Vertrautheit entwickelt hatte. Zuerst hatten sie überlegt, Raphael die vielen Stunden bei Julia einzuschränken, aber dann haben sie festgestellt, dass es Julia wesentlich besser ging, wenn Raphael da war. Sie blühte förmlich auf. Auch Raphael war viel umgänglicher als sonst. Doch morgen kamen die endgültigen Ergebnisse der Untersuchungen. Sie seufzte. Manchmal war das Leben einfach ungerecht. Sie warf noch einen Blick aus dem Fenster. Heute nach der Nachtschicht würde sie den Haushalt sein lassen und ihren Mann wecken um sich mit ihm zusammen den Sonnenaufgang anzusehen. Bei dem Gedanken lächelte sie. » Aber die Arbeit macht sich nicht von alleine. «, sagte sie laut und setzte sich an den Schreibtisch.
» Zwanzig Minuten. «, sagte der Hausmeister und schloss die Tür zum Dach auf.
» Vielen Dank. « Raphael bedankte sich per Handschlag. Er schob Julia in die Mitte des Daches. » Wie hast du das gemacht? «, fragte er neugierig.
» Verrate ich nicht. « Julia schaute nach oben zu den Sternen. Raphael stellte sich neben ihr und betrachtete Julia. Ihre Augen leuchteten und sie hatte einen ganz entspannten Gesichtsausdruck. » He, du sollst Sterne gucken. «, Julia pikste ihn in die Seite.
» Mache ich doch. «, erwiderte Raphael. » Ich sehe mir den schönsten von allen an. «, dachte er. Die Erkenntnis traf ihm wie aus dem Nichts und sein Herz pochte wie wild.
» Ist dir nicht gut? «, fragte Julia besorgt, » Du siehst so komisch aus. «
» Nein, nein. Alles okay. «
» Komm setz dich in den Rollstuhl. «
» Und du? «
» Du könntest mich auf den Schoß nehmen, wenn es dir nichts ausmacht oder willst du zwanzig Minuten stehen? Du könntest dich auch auf den Boden setzten, aber... «
» Das ist eine gute Idee. Ich nehme dich auf den Schoß. «
Als Julia bei Raphael auf den Schoß saß, spürte sie wieder das kribbeln. Sie nahm all ihren Mut zusammen und fragte, » Darf ich dir durch die Haare wuscheln. Ich liebe deine langen Haare. «, fügte sie schnell hinzu.
» Ja, wenn das so ist, kann ich wohl nichts dagegen machen. «, flachste Raphael und hoffte Julia wurde nicht merken, wie schnell sein Herz pocht. Sie öffnete Raphaels Zopf und ging langsam mit ihrer Hand durch seine Haare. Raphael hielt den Atem an. Er wusste nicht wie er regieren sollte. Ihm fiel kein Spruch ein mit dem er seine Verlegenheit überspielen konnte. » Keine gute Idee. «, dachte Julia. Schnell strich sie ihm ihre Haare zurück. Es lag etwas in der Luft, das beide nicht wahrhaben wollten. Julia blickte wieder zu den Sternen. Raphael tat es ihr gleich.
» In der König der Löwen erzählt Simbas Vater seinen Sohn, dass die Sterne, die verstorbenen Vorfahren sind, die auf sie aufpassen und ihnen den Weg weisen. Oder so ähnlich. Ganz genau kann ich mich nicht erinnern. «
» Schöner Gedanke, aber so weit ich weiß, sind Sterne entfernte Sonnen.«
» Ab und zu bist du echt doof. «, Julia gab ihn einen Klaps.
» Ich bin nur realistisch. «, erwiderte Raphael.
» Aber was wenn es stimmt? «, fragte Julia provozierend und blickte Raphael an.
» Warum wundert mich die Frage nicht. «
» Vielleicht entsteht immer dann eine neue Sonne, wenn jemand stirbt. Dann würde es stimmen. « Sie schwiegen.
» Dir gefällt es die Wissenschaft auf den Kopf zu stellen, oder? «
» Da halte ich mich an einen Song von Schandmaul, » ... er sucht den Quell des Lebens. Besessen von der Wissenschaft. Doch die Suche ist vergebens, weil Wissenschaft kein Leben schafft,... « besser kann man es nicht formulieren. Ein bisschen weniger Wissenschaft und ein bisschen mehr Menschlichkeit und Respekt vor dem Leben würden uns allen ganz gut tun. Das einzige, was wir wirklich wissen, ist das wir sterben, alles andere ist unsicher. «
Raphael wusste nicht, was er sagen sollte und fragte schließlich, » Hast du Angst? «
Julia schluchzte auf und konnte nur nicken. Er drückte sie fest an sich.
Nach kurzer Zeit beruhigte Julia sich wieder. » Entschuldige, in letzter Zeit weine ich ganz schön häufig. «
» Ich sag’s mal so... «, entgegnete Raphael sanft, » ... das darfst du. «
» Danke. « Julia lächelte und gab ihn einen Kuss auf die Backe.
» Wofür war der denn? «
» Für alles was du in den letzten Tagen für mich getan hast. «
» Das mache ich gerne. « Schnell lenkte Julia ab, » Versprichst du mir was? «
» Kommt auf das Versprechen an. «
» Schneid dir bitte nie die Haare kurz. «
» Versprochen. «
» Dein Bart bleibt auch dran, oder?! « Sie streichelte ihm über die Wange.
Sie sahen sich in die Augen. Dann hörten sie wie die Tür zum Dach auf ging. Die zwanzig Minuten waren um. Sie blickten noch einmal zu den Sternen und gingen zurück.
Auf dem Zimmer sagte Julia, » Es tut mir leid, dass ich dich mit so vielen belaste. «
» Du belastet mich nicht. Wie kommst du überhaupt darauf, dass mich das belastet? «
» Ich habe mir die Sache mit meinen Freunden überlegt und du hast Recht. Ich werde es ihnen sagen und na ja, ... ich wollte dich bitten oder fragen, ob wir es ihnen zusammen sagen können? «
» Ja, natürlich. Hast du dir schon was überlegt? «
Julia nickte und kramte in ihrer Nachttischschublade. » Ich habe hier eine Telefonliste mit meinen Freunden, denen ich Bescheid sagen möchte. Könntest du sie wohl für mich anrufen und fragen, ob sie kommen? Ich glaube ich kann das nicht. « Erwartungsvoll und ängstlich sah sie zu Raphael.
» Kein Problem. Das mache ich gerne. Wann sollen sie kommen? «
» Ich würde das gerne übermorgen am Samstag machen. Ich weiß bloß noch nicht wo, weil zu Hause niemand Bescheid weiß, daher kann ich das dort nicht machen. Ich überlege mir was zu morgen Mittag und sage dir dann Bescheid. «
» Wie wäre es denn, wenn wir das bei mir in der Wohnung machen? Das wäre kein Problem. «
» Ehrlich? Ich will nicht, dass du dich verpflichtet fühlst.«
» Julia, zum letzten Mal. Ich fühle mich nicht verpflichtet. Ich mache das alles freiwillig. Warum denkst du, dass das hier eine Pflicht für mich ist...verdammt?! «
Julia zuckte ratlos mit den Schultern. Ihr kamen die Tränen.
» He, tut mir leid. Ich wollte nicht laut werden. «
» Mir tut es leid. Ich weiß gar nicht wie ich dir für alles danken soll. «
» Das brauchst du nicht. «
» Magst du das Treffen wirklich organisieren? «
» Ja, das mag ich. «
» Sag ihnen aber bitte nichts von meiner Krankheit. Das muss ich schon persönlich machen. «
» Mir fällt schon was ein. Wann sollen sie denn kommen? Am Abend? « Raphael dachte daran, dass sie den Tag dann für sich hätten.
» Ja, das hört sich gut an. Sabine, Fabian und Dirk schreibe ich morgen selbst und lade sie ein wenig früher ein. Die sind meine besten Freunde und denen würde ich das gerne vor den anderen anvertrauen. «
» Alles klar. «
» Wenn du von deinen Freunden jemanden dabei haben möchtest, ist das vollkommen in Ordnung für mich. «
» Außer dir, will ich niemanden dabei haben. «, dachte Raphael, sagte aber, »Das passt schon. Fabian und Dirk sind auch meine Freunde. « Er gähnte.
Obwohl Julia nicht alleine sein wollte, sagte sie ihn, » Es ist wohl besser, wenn du jetzt fährst. Ich bin auch müde. «
» Bist du dir sicher. Ich kann heute Nacht hier bleiben. «
Julia dachte an die Ergebnisse, die sie morgen früh bekam. Das wollte sie ihm nicht auch noch antun.
» Nein, ist alles gut. Fahr ruhig. Dann sehen wir uns wieder morgen Mittag?«
Raphael nickte und hielt Julia wie gewohnt seine rechte Hand zum Abschied hin.
» Bekomme ich deine linke? «
» Ach ja, da war ja was. Ich weiß immer noch nicht warum die linke Hand. «
» Dann musst du weiter überlegen. Ist gar nicht so schwer. «, lächelte sie.
Sie gaben sich die Hände. » Ich warte noch bis du eingeschlafen bist. «
» Danke. «
Julia schlief mit einem guten Gefühl ein. Raphael spielte mit den Gedanken zu bleiben. Aber er hatte Julia versprochen nach Hause zu fahren. Er streichelte ihr über die Haare. Er wollte sie nicht verlieren. » Bitte, mach’, dass die Ergebnisse gut ausfallen. «, dachte er leise. Er wusste nicht wen er bat, aber was er wusste war, dass er Julia nicht gehen lassen konnte. Er brauchte sie genauso wie sie ihn brauchte. Er gab ihr einen Gute Nacht Kuss auf die Backe und machte sich schweren Herzens auf den Heimweg.
5. Tag
Das Telefon klingelte. Raphael wachte auf. Es war halb acht. Verschlafen ging er ran.
» Hallo. «
» Hallo, hier ist Björn. « Mit einem Schlag war er hellwach.
» Ist was passiert? «
» Nein, keine Sorge. Julia geht es gut, aber wir haben ihre Ergebnisse für die Akte, wenn du vor der Visite um zehn kommst, dann könntest du einen Blick darauf werfen. Du weißt ja, dass ich ab und zu was rumliegen lasse. Die Akte liegt im Schwesternzimmer auf der Fensterbank. «
» Ich komme sofort und danke. Ich weiß, dass das nicht erlaubt ist. «
» Meine Schusseligkeit wird erlaubt sein. Bis gleich. «
» Danke! «
Raphael legte auf. Das sah Julia ähnlich damit war ihm klar, warum er unbedingt nach Hause gehen sollte.
Julia blickte auf die Uhr. Noch zwei Stunden bis zur Visite.
Ehe Raphael einen Blick auf die Ergebnisse werfen konnte, er war sich nicht mal sicher, ob er die überhaupt richtig lesen konnte, wusste er anhand der Gesichter von Björn und Schwester Irene, wie sie ausgefallen waren.
Julia griff nach ihrer Flasche Wasser. Leer. Sie schaute zum Wecker. Halb neun. Ihr ging es wesentlich besser als gestern. Sie stand auf um sich eine neue Flasche zu holen. Sie konnte nicht liegen bleiben. Sie erstarrte als sie Raphael im Schwesternzimmer weinen sah. Sie wusste warum. Vor Schreck glitt ihr die Flasche aus der Hand. Alle blickten sie an. Wie in Zeitlupe betrat Julia das Zimmer. Raphael versuchte Julias Blick auszuweichen. » Mir ist meine Flasche... «
» Kein Problem, das mache ich weg. «, sagte Björn. Er und Schwester Irene verließen das Schwesternzimmer. Sie sahen wie Julia ihren Arm um Raphael legte.
» Das ist nicht fair. «, dachte Björn. Während er das Kehrblech und den Besen holte.
Immer noch weinend, zog Raphael Julia zu sich auf den Schoß. Diesmal übernahm Julia die Rolle der Tröstenden. Sie war gefasst. Sie wusste selbst nicht warum. Beide schwiegen.
» Ich wünsche mir, dass das Leben ein scheiß Hollywoodfilm ist. «, brachte Raphael schwerfällig hervor.
» Sei froh, dass es das nicht ist. Spätestens jetzt müssten wir anfangen ein Duett zu singen. «
Raphael versuchte zu lachen, aber es misslang. Er würde sie verlieren. » Wie kannst du jetzt Witze machen? «, fragte er entsetzt.
» Das ist wohl Galgenhumor. « Sie lachten beide nicht. Julia stand auf und sackte zusammen. Björn und Schwester Irene eilten herbei. Raphael trug Julia ins Zimmer. Als der behandelnde Arzt kam, war Julia wieder bei Bewusstsein. Ein leichter Schwächeanfall. Raphael war erleichtert. Doch der Arzt verbat ihn Julia zu sehen. Er sollte bis nach der Visite warten. Der Arzt blieb noch einige Zeit bei Julia um sie vor der Visite über ihre Chancen aufzuklären. Diesmal konnten die anderen Raphael nicht helfen. Anordnung war Anordnung. Er setzte sich auf den Flur, doch die Zeit schien still zu stehen. Er sah die Holzverzierungen der Türen und ihm fiel wieder das Zitat ein, was Julia angebracht hatte, » Das Einzige, was der Mensch ohne Vorbild der Natur geschaffen hat, ist Geld, und prompt wurde es zu einem seiner größten Probleme. « Danach hatte sie sich darüber aufgeregt, dass sie selbst auch nichts unternommen hatte und jetzt hätte sie keine Zeit mehr. Er musste sich ablenken. Ihm fiel die Liste ein und er ging nach unten um Julias Freunde anzurufen. Zurück auf der Station, entschloss er sich Frau Meyer besuchen zu gehen, wenn sie überhaupt noch da war. Er klopfte an Zimmer 425. Er vernahm das » Herein. « von Frau Meyer.
» Hallo, störe ich? «
» Kommen Sie rein. Wie geht es denn Ihrer Freundin?... «, fragte Frau Meyer sofort, » mich wollten Sie doch bestimmt nicht besuchen. «
» Sie wird morgen entlassen. «, sagte er traurig.
» Das ist doch schön, genau wie ich. «
Jetzt wo er hier war wusste er selbst nicht genau, warum er überhaupt gekommen war.
» Darf ich Sie was zu Ihren linken Arm fragen? «
Frau Meyer nickte, » Nur zu. «
» Fehlt er Ihnen? Ich meine, fühlen Sie sich...? «, seine Stimme versagte.
» Natürlich fehlt er mir. Am Anfang war es besonders schwer. Aber nur weil ich mich nicht damit abfinden wollte. Ich hatte obwohl alles verheilt war noch immer Schmerzen in dem Arm, der eigentlich gar nicht mehr da war. Das wird doch als Phantomschmerzen bezeichnet oder nicht? «
Raphael zuckte mit den Schultern, » Keine Ahnung. «
» Für mich waren das aber ganz reale Schmerzen. Mir fehlt zwar ein Körperteil aber meine Seele ist immer noch ganz und solange dass ist, fühle ich hin und wieder noch meinen linken Arm. Auch heute noch. Aber mit der Zeit habe ich gelernt, damit zu leben. So wie ich bin, bin ich ganz. Ich glaube, dass alle im Leben einen Grund hat auch wenn wie diesen nie erfahren werden. Außerdem hat es auch Vorteile, so weiß ich, dass die Menschen, die mich lieben wirklich mich lieben und nicht das was ich nach außen bin. Mein Mann hat mich mit nur einem Arm kennengelernt und jetzt sind wir seit über fünfzig Jahren verheiratet. «
Raphael hört gar nicht richtig zu. » Aber es geht hier nicht um meinen Arm, oder? « Sie sah Raphael fragend an.
» Julia hatte heute morgen einen Schwächeanfall... «
» Warum in Gottes Namen sind Sie dann hier und nicht bei Ihr? «
» Ich darf erst nach der Visite zu ihr. «
» Sagen das die Ärzte? Was sagt Julia dazu? Ist sie der gleichen Ansicht? Haben Sie mir nicht gesagt, das Julia nicht mehr viel Zeit hat? Und die Zeit die sie noch zusammen haben, lassen sie sich von den Ärzten wegnehmen? Niemand kann Ihnen verbieten, die Zeit mit den Menschen zu verbringen, die sie lieben. Würde das mein Mann sein, würde ich mich von nichts und niemanden davon abhalten meine Zeit mit ihm zu verbringen. «
Sofort sprang Raphael auf, » Sie haben Recht. « Er eilte zur Tür.
» Natürlich habe ich das. «
An der Tür drehte er sich um, » Danke und alles Gute. «
» Sehen Sie zu, dass Sie zu ihrer Freundin kommen. «
Noch bevor jemand protestieren konnte, saß Raphael schon neben Julias Bett. Julia lächelte, » Wo warst du? «
» Genau genommen, darf ich gar nicht hier sein... « Schwester Irene betrat das Zimmer um nach Julias Tropf zu sehen. » Raphael, du hast den Arzt gehört. Erst nach der Visite. «
» Aber ich möchte, das er bleibt. «, bat Julia.
» Na schön. Ich weiß von nichts. « Damit war sie verschwunden.
» Bleibst du? «
» Und ob. Frau Meyer hat mir gerade gehörig den Kopf gewaschen und jetzt wirst du mich nicht mehr los. «
» Das hört sich gut an. Wie geht es denn Frau Meyer? «
» Sehr gut. Sie wird morgen entlassen. Aber wie geht es dir? «
» Besser. Ich habe ein bisschen Angst vor morgen, konntest du alle erreichen? «
» Das war ein wenig kurzfristig und einige haben schon was vor und da ich ihnen nichts genaues sagen konnte. «
» Ist schon gut. Im Grunde ist das wie eine Geburtstagsfeier, da gibt es immer ein paar die absagen. Was mir schon vor meiner Krankheit aufgefallen ist, dass zu Beerdigungen immer alle kommen. Plötzlich ist es kein Problem in der Woche frei zu nehmen oder wichtige Termine zu verschieben. Wäre doch logischer, wenn man alle seine Freunde zu Lebzeiten versammeln kann und nicht erst wenn man Tod ist. Wir sollten jedes Jahr unsere Beerdigung feiern anstatt unseren Geburtstag dann ist der Besucherschwund nicht ganz so hoch. «
» Vielleicht liegt es daran, dass wir unseren Geburtstag jedes Jahr feiern und unsere Beerdigung nur einmal. Da möchte jeder noch ein Mal Abschied nehmen. «
» Du hast Recht. Außerdem war es wirklich kurzfristig. «
» Ich versuche es später nochmal. «
» Danke! «
Es klopfte an der Tür. » Zeit für die Visite. «, sagte Raphael und blieb sitzen. Julia sah ihn verdutzt an. » Wie gesagt, ich bleibe. « Sie lächelte erleichtert. Sie war froh Raphael an ihrer Seite zu haben. Ohne ihn hätte sie die letzten Tage nur schwer durchgestanden. Ihr war bewusst, dass sie verliebt war. Doch sie ließ sich nicht von ihrer Entscheidung abbringen, den letzten Teil des Weges alleine zu gehen. Sie würde nur die Hilfe ihrer Familie in Anspruch nehmen. Ihre Freunde und vor allem Raphael würde sie nicht damit belasten. Erst nachdem Julia ausdrücklich darauf bestanden hatte, durfte Raphael, der Visite beiwohnen. Der Arzt hatte Julia die Ergebnisse schon unter vier Augen mitgeteilt, so dass Raphael nichts genaues erfuhr.
Nachdem der Arzt das Zimmer verlassen hatte fragte Raphael ob er sich zu Julia legen dürfe. Sie rutsche beiseite und Raphael nahm sie in den Arm. Die Ergebnisse hatten das bestätigt, was sie schon die ganze Zeit gewusst hatten.
Julia wusste, dass sie heute noch eine wichtige Angelegenheit zu erledigen hatte bei der Raphael nicht dabei sein konnte. Als es an der Tür klopfte, setzte sich Raphael wieder auf den Stuhl. Schwester Irene brachte für Beide das Mittagessen. Nachdem sie zu Mittag gegessen hatte, stellte Julia fest, dass sie noch gar nicht miteinander geschwiegen haben.
» Wie jetzt? «, fragte Raphael.
» Wir liegen einfach auf dem Bett und schweigen. Bevor ich es vergesse, ich fände es super, wenn die Krankenhausbetten breiter wären, so dass zwei Leute darin liegen können. Das würde den Heilungsprozess bei dem ein oder anderen bestimmt beschleunigen. «
» Meinst du? «
» Natürlich. «
» Wollten wir nicht schweigen?! «, grinste Raphael.
Julia nickte. Da sie an der linken Hand den Tropf hatte, konnte sie nur mit ihrer rechten Hand Raphaels Hand halten. Ihr wurde klar, dass es ganz egal welche Hand man hielt so lange es die eines Menschen war, der einem wichtig war oder der einem beistand.
Sie schwiegen bis zum Abendessen. Sie waren einfach glücklich die Nähe des anderen zu spüren. Schließlich war es Julia, die das Schweigen brach.
» Raphael ich weiß, dass du hier bleiben möchtest, aber ich bitte dich, das du gleich gehst. «
Verletzt sah er Julia an, » Warum? «
» Ich möchte in die Kapelle und das kann einige Zeit dauern. «
» Ich kann hier warten. «
Julia schüttelte mit dem Kopf, » Nein. Wir müssen an morgen denken. «
» Bitte Julia, lass mich bei dir bleiben. «, flehte Raphael.
» Nein Raphael. Ich möchte mit Gott alleine sprechen. Das ist eine Angelegenheit zwischen ihm und mir. Ich kann es dir nicht wirklich erklären. Es ist, als hätte ich das schon die ganze Zeit tun müssen, ich mich aber gefürchtet habe. Versteh’ das bitte. «
» Nein. Ich muss immer alles verstehen. Wir haben nur noch zwei Tage. Das muss ich schon akzeptieren. «
» Bitte Raphael, lass uns nicht streiten. « Er lenkte ein.
» Darf ich dich wenigstens bis zur Kapelle begleiten? «
» Natürlich. «
Nachdem sie gemeinsam zu Abend gegessen hatten, gaben sie auf der Station Bescheid, das Julia in die Kapelle ging. Vor der Kapelle sagte Raphael, » Dann bestell’ Gott einen schönen Gruß von mir und sage ihm, dass ich das scheiße finde! « Julia lachte.
» Werde ich machen, aber ich denke, er hat das schon mitbekommen. Du könntest ihm das auch selber sagen. «, Julis grinste.
» Kein Bedarf. «
Julia streckte Raphael die linke Hand entgegen. » Nur einen Tipp. Bitte! Warum die Linke? «
» Es hängt mit einem Organ zusammen, das jeder Mensch auf der linken Körperseite hat. «
» Jetzt bin ich noch verwirrter als zuvor. «
Raphael schlug Julias Hand aus und nahm sie stattdessen in den Arm. » Bis morgen. «
» Bis morgen. «
Raphael ging erst als Julia in der Kapelle verschwunden war. Er blickte ihr eine Weile hinterher und ging widerwillig nach Hause.
Letztlich schaffte es Raphael alle Freunde auf Julias Liste zum kommen zu überreden und das obwohl es alles Julias Freunde und nicht seine waren. Daher waren sie sehr verwundert, dass Raphael sie einlud.
Julia blieb Stunden in der Kapelle. Sie hielt Zwietracht mit Gott. Doch letztlich konnte sie ihren Frieden mit ihm schließen. Eine Nonne begleitete sie nach oben. In ihrem Zimmer beteten sie zusammen. Danach war Julia wieder allein. Doch diesmal hielt es aus, denn sie wusste, dass sie nicht mehr allein war. Gott stand ihr bei wie schon die ganze Zeit.
Als Raphael im Bett lag ärgerte er sich, dass er sich gegenüber Julia nicht durchgesetzt hatte. So war es Julia selbst und Gott, gestand er sich kleinlaut ein, dessen Existenz er stark anzweifelte, die ihm davon abgehalten haben bei Julia zu sein. Obgleich er sich dagegen wehrte schlief er ein. Die letzten Tagen waren für ihn anstrengend gewesen und sein Körper verlangte nach Erholung.
6. Tag
Noch bevor der Wecker klingelte wachte Raphael mit einem Lächeln im Gesicht auf. Er glaubte zu wissen, was es mit der linken Hand auf sich hatte.
Auch Julia war bereits wach. Sie packte ihre Sachen zusammen. Sie ahnte, dass die Ärzte erneut versuchen sie umzustimmen. Doch ihr Entschluss stand fest. Immerhin konnte sie Abschied nehmen. Abschied von ihren Freunden, ihrer Familie und dem Leben. Das Glück hatten nicht alle. Sie dachte an Raphael. Sie war ihm von ganzen Herzen dankbar und wusste nicht ob und wie sie ihm die letzten Tage zurückgeben konnte. Auch das er ihr heute beistand, bedeutete ihr sehr viel. Sie fragte sich, was wohl passiert wäre, wenn sie sich früher besser kennengelernt hätten. Doch sie stoppte den Gedankengang. Es machte keinen Sinn mehr sich weiter über das was wäre wenn Gedanken zu machen. Ihr fiel es sowieso schon schwer Raphael Lebewohl sagen zu müssen.
Raphael betrat gut gelaunt das Zimmer, » Es hat mit dem Herzen zu tun, stimmt’s? «
» Wovon sprichst du? «
» Von der linken Hand. «
» Richtig. Die linke Hand kommt von Herzen. In einigen Gesellschaften wird es sogar als Beleidigung angesehen mit der rechten Hand zu grüßen. Die linke kommt vom Herzen und mit der rechten wischt man sich den Hintern ab, hehe. Siehst du des Rätsels Lösung war gar nicht so schwer. «
Raphael hielt Julia seine linke Hand hin und setzte sich zu ihr aufs Bett.
» Willst du dir das mit der Behandlung nicht noch Mal überlegen? «, fing er sofort an.
» Ich bleibe bei meiner Entscheidung. «
Raphael schluckte. Er wurde verärgert.
» Du sagst, du magst keine Zahlen. Machst aber deine Therapie davon abhängig. Das ergibt keinen Sinn. «
» Doch das tut es. Hinter den Zahlen steht aber leben oder sterben, wenn die Zahlen nicht sind, habe ich die Entscheidung zwischen ein künstlich verlängertes Leben im Krankenhaus oder um ein würdevolles Leben zuhause. In beiden Fällen werde ich sterben. «
» Alles nur Gerede von dir. «, sagte Raphael wütend. Er wollte sie verletzen.
» Du bist so ein Arsch. Meinst du, mir ist die Entscheidung leicht gefallen? «
» Vielleicht schon. Du versuchst nicht mal zu kämpfen... «
» Weil es keinen Sinn macht. Manchmal muss man sich eingestehen, wenn ein Kampf verloren ist. Glaubst du ich habe mir das ausgesucht? Mir fällt das auch nicht leicht, aber so habe ich mich entschieden. « Jetzt war auch Julia wütend.
» Du hast immer die Möglichkeit dich umzuentscheiden. Du ziehst einfach dein Ding durch ohne Rücksicht auf Verluste. Was, wir anderen denken, ist dir scheißegal. «
» Du weißt dass das nicht stimmt, wenn du so von mir denkst, dann hast du nichts verstanden. « Sie stand auf und verließ das Zimmer. Raphael blieb teilnahmslos zurück. Er wollte Julia einfach nicht verlieren. Sie hatten sich gerade erst gefunden und das sollte vorbei sein? Plötzlich erinnerte er sich an Frau Meyers Worte. Er schlug sich vor die Stirn.
» Ich vergeude unsere restliche Zeit mit streiten. « Julia empfand ähnlich und betrat wieder das Zimmer. » Tut mir leid. «, sagte sie. Raphael ging ihr entgegen und nahm sie in den Arm. » Mir auch. Ich will dich nicht verlieren. «
» Du verlierst mich nicht. Ich bin immer da. « Sie zeigte auf sein Herz.
» Das reicht mir nicht. «
» Mehr kann ich dir nicht geben. Irgendwann sehen wir uns wieder. «
» Verdammt, Julia. Ich glaube da nicht dran. «
» Hör auf Raphael. Du tust mir weh! Ich glaube daran und das reicht doch. Hörst du?! Das reicht! « Sie lief weinend hinaus. Sie ging auf die Besuchertoilette und schloss sich ein. Sie schlug gegen die Tür und sagte wütend, » Er hat nichts verstanden. Gar nichts. «
Nach einiger Zeit klopfte es an der Tür. » He, es tut mir leid. «
» Hau ab. Du machst alles kaputt. «
» Entschuldige, aber für mich ist das auch nicht leicht. « Julia blieb stumm. Sie wusste er hatte Recht. Raphael setze sich vor die Tür und wartete. Nach einer Weile fragte er, » Wieder gut? «
Julia wischte sich die die Tränen aus dem Gesicht. Sie öffnete die Tür. Raphael stand auf. Julia haute mit ihren Fäusten gegen Raphaels Brust. Er fasste ihre Arme und nahm sie kurzerhand in den Arm. Ihren Kopf an seiner Brust gepresst, dachte sie schluchzend, » Deshalb wollte ich mich nicht verlieben. Da fällt das Gehen so schwer. «
Sie versöhnten sich. Julia musste noch auf das abschließende Gespräch mit dem Arzt warten. Erneut machte er sie auf die Risiken aufmerksam und was ihr allen bevor stand. Julia blieb bei ihrer Entscheidung und ließ sich auf eigene Verantwortung entlassen. Als sie die Papiere unterschrieben hatte, verabschiedete sie sich von allen Angestellten der Station. Niedergeschlagen nahmen sie Abschied und wünschten sich gegenseitig alles Gute. Als sie vor dem Krankenhaus stand, murmelte Julia, » Endlich! « Es war als ob ihr der erste schwere Stein vom Herzen fiel. » Sie sagen nicht jedem tschüss, oder? «, fragte Frau Meyer, die mit ihrem Mann das Krankenhaus verließ, an Raphael gerichtet.
» Nein, nur meinen liebsten Patienten. «, neckte Raphael und gestand sich in geheimen ein, dass er Frau Meyer tatsächlich vergessen hatte.
Mit gespielter Entrüstung wandte sie sich an Julia, » Das haben sie nicht gerade den besten Fang gemacht. Aber ihnen wünsche ich alles erdenklich Gute. Sie sind eine mutige Frau. « Julia, die sich für alles andere als mutig hielt, lief rot an. » Danke. Ihnen auch alles Gute. «
Als die beiden ein paar Schritte gegangen sind, drehte sich Raphael um und rief, » Tschüss Frau Meyer. Sie waren mir die Liebste! « Er lachte. Frau Meyer versuchte zu winken. Drehte sich aber nicht um. Sonst hätte Raphael einen Hauch von Röte in ihrem Gesicht gesehen und das ausgerechnet vor ihrem Mann. » Julia konnte froh sein, einen so tollen Freund wie Raphael gefunden zu haben. «, dachte Frau Meyer.
Neugierig schaute sich Julia in Raphaels Wohnung um.
» Was guckst du so? Ich habe gestern extra aufgeräumt. «
» Es ist alles gut. Ich gucke nur. Ich bin ja zum ersten Mal hier. «
» A pro pro gucken, wie wäre es, wenn wir die restliche Zeit nutzen bis die anderen kommen um einen Film zu gucken? «
Julia war über jede Form der Ablenkung dankbar. Sie mochte gar nicht an später denken. » Gerne. «, schon stand Julia vor dem Regal mit dem DVDs. Sie drehte sich um. » Äh, irgendwie haben wir nicht den gleichen Filmgeschmack. Das sind fast alles Horrorfilme oder merkwürdige Komödien. «
Raphael, der schon mit der Fernbedienung auf dem Sofa saß, wedelte mit einer Hülle aus der Videothek. » Und weil ich mir das schon gedacht habe, war ich gestern so frei, uns König der Löwen auszuleihen. Hast du Lust? «
» Und wie. Du bist der Beste. «, freute sich Julia.
» Das höre ich gerne. «, grinste Raphael.
Julia setzte sich zu Raphael. Beide hatten ein komisches Gefühl, dies war neues Terrain für die Beiden. Die vertraute Umgebung des Krankenhauses fehlte ihnen. Stumm begannen sie den Film anzuschauen. » Siehst du... «, sagte Julia bei der Szene wo Simbas Vater seinem Sohn vom Kreislauf des Lebens erzählte, » ... alles geht irgendwie weiter. Selbst wenn man zu... «, sie überlegte, » Wurm AA wird. « Sie lachte.
» Wurm AA? Du bist echt knorke. «
» Ich hoffe doch positiv knorke. «
Er nickte grinsend. Bei der Szene mit den Sternen wurde Julia ganz heiß. Sie dachte genau wie Raphael an die Nacht auf dem Dach. Ihr traten Tränen in die Augen. Sie versuchte sie zu unterdrücken. Raphael legte wortlos seinen Arm um Julias Schulter. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Nach kurzer Zeit bemerkte sie, wie sie Nasenbluten bekam. Raphael begleitete sie ins Bad und wich nicht von ihrer Seite bist die Blutung gestoppt war.
Nachdem der Film zu Ende war, fragte Raphael, » Hast du Hunger? Ich habe Spaghetti da.«
Spaghetti klingt sehr gut. Aber ich koche. «
» Auf gar keinen Fall. Du ruhst dich aus. «
Schließlich kochte Raphael und Julia deckte den Tisch. Auch beim Abwasch half sie mit. Dann klingelte es an der Tür. » So spät schon?, fragte Julia. Raphael nickte. Beide hatten sie die Zeit total vergessen. Er öffnete Sabine, Dirk und Fabian die Tür. Die fingen sofort an Fragen zu stellen, » Was ist los? «
» Was soll die ganze Geheimnistuerei? «
» Sind wir die Ersten? Wo sind die andren? «
Als sie Julia sahen verstummten sie. » Mensch, was ist denn mit dir los? «, fragte Dirk.
» Du siehst aber nicht gut aus. «, stellte Sabine fest und setzte sich zu ihrer Freundin.
» Das ist wohl leicht untertrieben. Du siehst echt fertig aus. «, sagte Fabian, » Was ist denn los? «, fragte er erneut.
Sabine umarmte alle. Am längsten Sabine. » Danke, dass ihr gekommen seid. Ich sehe so aus, weil ich krank bin. Deshalb wollte ich heute mit euch reden. «
» Du lädst uns ein, weil du krank bist? «, unterbrach sie Dirk, » Grippe oder was? Ich verstehe nichts. So schlimm wird es schon nicht sein. «
Jetzt war der Moment da, wo sie die Wahrheit sagen musste. Sie hatte sich nichts zurecht gelegt. Wie sollte man seinen Freunden sagen, dass man stirbt? Sie hielt kurz inne und erwiderte, » Doch ist es. Ich werde sterben. «, sagte sie ernst.
» Ja, schon klar. «, sagte Dirk.
» Verarschen können wir uns alleine. «, pflichtete Fabian ihm bei. Nur Sabine sagte nichts. Sie nahm Julia in den Arm und fing hemmungslos zu weinen an. Irgendwas sagte ihr, dass Julia die Wahrheit gesprochen hatte. Julia übernahm die Rolle der Tröstenden. Die Jungs setzten sich ungläubig auf das andere Sofa. » Kommt, ihr verarscht uns. «, sagte Fabian erneut.
» Rapha, sag, dass das ein schlechter Scherz ist. Kommt Leute das ist nicht lustig. « Fabian blickte seinen Kumpel Rapha an. Langsam dämmerte es ihm. Rapha war die ganze Woche nicht ansprechbar und er arbeitete im Krankenhaus. Raphael schüttelte mit dem Kopf. » Kein Scherz. Julia hat akute Leukämie im fortgeschrittenen Stadium. Sie weiß es auch erst seit ein paar Tagen. « Julia übernahm das Wort. » Ich wollte nicht, dass er euch was sagt. Wir haben uns zufällig im Krankenhaus getroffen. Mein Zimmer lag auf seiner Station. « Fabian stand auf und nahm Julia samt Sabine in den Arm. » Sag dass das nicht wahr ist. «, stammelte Dirk.
Auch er wollte Julia in seine Arme schließen und sagte nur, » Scheiß die Wand an. « Beklemmend sah Raphael den anderen zu. Nachdem der erste Schock überwunden war, fragte Dirk nach Hochprozentigen. » Ich kann auch was vertragen. «, meinte Fabian. Sabine trank ein Wasser. Julia begann zu erzählen, was in den letzten Tagen passiert war. » Ich will euch nicht anlügen, deshalb sage ich das gleich. Wir sehen uns heute zum letzten Mal. «, sagte sie traurig, » Ich will das ihr mich lebend in Erinnerung behaltet und nicht krank und nicht... «, sie verstummte, » sterbend. Das ist mein letzter Wunsch an euch. Bitte! « Sie wischte ihre Tränen beiseite. Keiner konnte antworten. Der Schock saß zu tief. » Wir dachten ihr wolltet uns sagen, ihr wärt ein Paar oder so eine scheiße und jetzt erzählst du uns, das wir heute zum letzten Mal mit dir zusammen sind? Das kann nicht dein Ernst sein? «, sagte Dirk.
» Ich finde sterben fällt unter die Kategorie oder so eine scheiße. «, versuchte Julia die Stimmung zu entspannen. Außer Raphael und ihr lächelte niemand. Sabine fing wieder zu weinen an. » Du machst noch Witze. «, stellte Fabian fest, » eigentlich müsstest du hier heulen. Immerhin gibst du demnächst den Löffel ab. « Sie lachten hysterisch. Sabine funkelte Fabian fuchsteufelswild an, » Wie kannst du es wagen? « Julia nahm Fabian in Schutz. » Ist schon gut, Sabine. Lachen ist gesund. Außerdem möchte ich das so. Ich will das wir fröhlich beisammen sind. Keine Tränen mehr. Lass uns über Sachen reden, die wir zusammen erlebt haben. Das nächste Mal, wenn ihr darüber reden werdet, wird höchstwahrscheinlich meine Beerdigung sein. « Sabine schluchzte auf. » Und ich will heute daran teilhaben, bitte. «, flüsterte Julia leise.
» Dann ist das hier so was wie die Generalprobe zu deiner Beerdigung? «, fragte Dirk, » Auf die Idee kannst nur du kommen. «
» So in der Art. «
Fabian und Dirk kippten sich mittlerweile den siebten Whisky runter. » Schon ein bisschen krass. Findest du nicht? «, fragte Fabian.
» Ich möchte meine letzte Zeit mit meinen Freunden teilen und ich möchte, dass wir fröhlich dabei sind und das ich für einen Moment vergessen kann, dass für mich bald alles vorbei sein wird. « Sie hielt inne. Jetzt weinte Julia. Sabine nahm sie in den Arm.
Nach und nach kamen die restlichen Freunde von Julia. Entsetzen und Fassungslosigkeit machten sich breit, nachdem sie erfuhren, was der Anlass ihres Kommens war. Erneut liefen die Tränen. Nacheinander beruhigten sich die Freunde. Niemand konnte das ganze Ausmaß so richtig begreifen. Plötzlich waren alle still. Keiner war in der Lage etwas zu sagen. Sie schauten Julia an. Ihre Blicke forderten sie auf zu sagen, dass das alles nicht wahr sei. Hilfesuchend schaute Julia zu Raphael. Ganz unerwartet fing Sabine zu berichten an, » Sag mal, wisst ihr noch Karins Geburtstag, wo Julia vorgeschlagen hatte... «
» Oh nein. Nicht die Story. «, warf Julia ein.
» Was für eine Story? Wie wollen alles wissen. «, grinste Fabian.
Sabine setzte wieder an. Die deprimierte Stimmung schlug um. Julia schaute Raphael fröhlich an. Alle redeten sie miteinander und jeder kramte eine Geschichte hervor. Nicht nur über Julia. Allgemein über ihre gemeinsame Zeit als Freunde. Zu späterer Stunde bekam Julia stechende Kopfschmerzen. » Gehen wir mal an die frische Luft? «, bat sie Sabine leise. Beide standen auf. Abrupt unterbrachen die anderen ihre Gespräche. Sabine sagte, » Macht mal keinen Stress. Wir gehen nur eben frische Lust schnappen. « Als sich einige anschließen wollten, fügte Sabine, » persönliches Frauengespräch. «, hinzu und grinste in die Runde. Somit gab Julia ihren Freunden die Chance, die Nachricht in ihrer Abwesenheit, zu verdauen. Draußen nahmen sich die Freundinnen bei der Hand. Die frische Luft tat Julia gut. » Warum hast du nichts gesagt? «, warf Sabine Julia enttäuscht vor, » Ich dachte wir wären beste Freundinnen? «
» Wir sind beste Freundinnen. Es ging alles so schnell und ich wollte euch damit nicht belasten. «
» Belasten? Das ist keine Belastung. Ich hätte dir beistehen können. Wäre mir das passiert, wärst du wie eine Glucke um mich herum geschwänzelt und hättest mich keine Minute alleine gelassen und jetzt, jetzt ist es zu spät. « Sabine weinte. » Du kannst mich doch nicht alleine lassen. «
Julia versuchte Sabine zu beruhigen. » Ich lass dich nicht alleine. Da oben sitzen alle unsere Freunde. Vielleicht hätte ich euch früher was sagen sollen, aber es kam mir nicht richtig vor. Und Raphael hat mir beigestanden. « Der letzte Satz rutschte ihr ungewollt heraus.
Sabine schnäuzte sich. » Was genau ist das mit dir und Raphael? «
» Wir sind gute Freunde geworden? «
» Wieso treffen wir uns denn bei ihm in der Wohnung und nicht bei dir zu Hause, häh? «
» Ganz einfach. Meine Familie weiß noch nichts von meiner Krankheit. « Sabine schaute Julia entsetzt an. » Ich habe ihnen gesagt, dass das Routineuntersuchungen sind und ich die Zeit für mich bräuchte. Das war ziemlich schwer durchzusetzen. Du kennst meine Mutter. « Julia war froh vom Thema Raphael abzulenken. Sabine schüttelte entgeistert mit dem Kopf.
» Wann sagst du es ihnen? «
» Morgen. «
» Wie lange hast du noch? «, brachte Sabine ängstlich hervor.
» Das weiß nur Gott. «
» Hör auf mit dem scheiß. Sag mir, was die Ärzte gesagt haben. « Julia schluckte, das wollte sie außer ihrer Familie niemanden sagen.
» Das möchte ich nicht sagen. Das weiß nicht mal Raphael so genau. «
» Wie lange noch? «, wiederholte Sabine ihre Frage nun energisch.
» Versprich mir, dass du das für dich behältst. «
» Ich bin deine beste Freundin. Also? Wie lange? «
» Mit Glück, einen Monat. «
Ungläubig wiederholte Sabine, » Einen Monat? Nur noch einen Monat?! « Sie sah ihre beste Freundin an und sagte entschlossen, » Gut, ab jetzt bin ich für dich da. Ich dulde keine Widerrede. Du bist meine beste Freundin und damit basta. «
Julia schluckte, » Nein. Auf keinen Fall! Das wird keine schöne Sache. Ich werde schnell abbauen. Auf keinen Fall! «
» Doch und darüber verliere ich kein weiteres Wort. Du bist meine beste Freundin und ich lasse dich ganz sicher nicht alleine. «
» Du willst deiner besten Freundin beim sterben zusehen? Du willst sehen, wie ich ins Bett mache? Wie ich das Essen wieder ausspucken, weil ich es nicht mehr halten kann? Wie ich Blutungen bekomme? Du willst... «
» Ja, will ich! Wie waren schon zusammen auf dem Klo. Ich habe dich schon kotzen und bluten sehen als wir noch jung waren. «
» Das ist kein Vergleich. «
» Verstehst du nicht, was ich dir sagen will?! Wir sind Freunde und wir stehen das zusammen durch. Du und ich. Glaubst du, dass ich dich in deiner schwersten Zeit alleine lasse? Ganz bestimmt nicht. Wir waren immer füreinander da und das werde ich nicht ändern, nur weil du dir das in den Kopf gesetzt hast! « Julia wurde schwindelig. Sie hatte keine Kraft mehr zu widersprechen, » Schön mach, was du willst. Aber versprich mir, dass wenn du an mich zurück denken wirst, du nicht nur die Bilder von meinem Ende im Kopf hast. «
Sabine lachte. Sie hatte sich durchgesetzt. » Versprochen oder glaubst du ich vergesse, wie du auf Karins Geburtstag... «
» Ach, hör doch mit der Geschichte auf. « Sie lachten. » Danke! «, sagte Julia.
Sie drehten sich zum Haus um. Raphael öffnete die Tür. » He, ich wollte nur schauen, ob alles in Ordnung ist. «
» Ja, danke. Ist alles okay. Wir kommen gleich wieder hoch. «, sagte Sabine freundlich.
» Ist gut. « Raphael ging wieder zu den anderen.
Sabine wandte sich Julia zu. » So, wie war das noch gleich mit dir und Raphael? «
Julia verdrehte die Augen. » Sag mal, was sagt denn dein Chef dazu, dass du von heute auf morgen deiner kranken Freundin beistehen willst? Und das auch noch für vier Wochen? «
» Lenk nicht ab. Das ist mir so ziemlich egal, was mein Chef davon hält, wenn er mir keinen Urlaub gibt, kündige ich halt. So einfach ist das. «
» Nein, bestimmt nicht. Du kannst doch nicht deinen Job für mich aufgeben. «
» Was ich kann und was nicht, entscheide immer noch ich. Wir gehen so lange nicht wieder hoch bist du mir die Sache mit Raphael beantwortet hast. «
» Dann bleiben wir eben hier. «, konterte Julia.
» Gut, dann werden die anderen so nach und nach runter kommen dann kannst du uns allen gleichzeitig sagen, was Sache ist. «
Julia gab sich geschlagen. » Und hör mit dem Zivi scheiß und der guten Freunde Nummer auf: Jeder der Augen im Kopf hat, sieht doch, entschuldige, aber Fabian hat Recht, dass du scheiße aussiehst. Sobald du aber Raphael anblickst, strahlt dein Gesicht richtig. «
» Das kommt von dem Medikamenten. «, scherzte Julia, » Es ist genauso wie ich euch das erzählt habe. Falls du es vergessen hast. Ich sterbe bald. Glaubst du wirklich, dass es noch Sinn macht sich verlieben? Das macht alles nur noch schlimmer. «
» Vielleicht hast du Recht, aber vielleicht ist Liebe genau das was du jetzt brauchst. Du hast mir nach jedem Liebeskummer erzählt, dass das Einzige worauf es sich im Leben zu warten lohnt, die Liebe ist. «
» Ja, das stimmt. Aber er macht einfach keinen Sinn mehr. Es ist zu spät. «
» Du hast immer auf den Richtigen gewartet und jetzt wo du ihn gefunden hast... «
» Sabine, können wir das Thema bitte lassen? Ich habe keine Ahnung, wie ihr euch vorstellt, mit der Botschaft leben zu müssen, dass man bald stirbt. Ich kann dir nicht mal erklären wie das ist. Es ist als ob du ständig eine Uhr ticken hörst und mit jedem Tick weißt du, dass die Uhr bald steht. Aber du weißt nicht genau, wann das passieren wird. Es kann jederzeit passieren. Es ist einfach der falsche Zeitpunkt. «
» Schön. Aber bereust du es? «
» Was bereuen? «
» Das du gewartet hast? Ich meine, du hast dich nie richtig auf jemanden eingelassen, weil du immer meintest, dass es bei dir nicht kribbelt. Na und jetzt, wo du die Chance... ach du weißt, wie ich das meine. «
Julia musste nicht lange überlegen. » Nein, ich bereue es nicht. Für mich macht es keinen Sinn sich auf einen Frosch einzulassen, nur weil der Prinz Verspätung hat. Oder umgekehrt. «
» Wie umgekehrt? «
» Sich auf den Prinzen einlassen nur weil der Frosch Verspätung hat. «, Sabine lachte, » Stell dir vor, ich hätte mich auf einen Prinzen eingelassen, dann hätte ich keine Gefühle gegenüber den Richtigen entwickeln können, weil mich der Prinz vermutlich von den Richtigen abgelenkt hätte. «
» Also doch! «
» Ja, es kribbelt. Und das reicht mir. «, fügte Julia schnell hinzu. » Ich bin dankbar dafür, dass ich es wenigstens noch kribbeln fühlen durfte. Das warten hat sich gelohnt. «
Sabine blickte ihre Freundin freudestrahlend an. Das hatte sie ihrer Freundin von ganzen Herzen gewünscht.
» Für mich wäre das nichts. Dann doch lieber einen Frosch oder Prinzen mehr wie auch immer. «
» Oder Fabian? «
» Fabian? Wie kommst den denn auf die Idee? Hast du nicht gehört, was für taktlose Witze er über dich gemacht hat. Den hätte ich am liebsten eine gescheuert. Ich frage mich wirklich, wie du mit dem befreundest sein kannst. «
Julia grinste und neckte Sabine, »Mädchen, bei dir kribbelt's aber echt immer schnell. Du solltest dir wirklich mehr Zeit lassen. Ich bin deine Freundin und sehe genauso wie du, was los ist. « Sie umarmten sich.
» Meinst du ich hätte eine Chance bei ihm? «, fragte Sabine.
» Wir feiern meinen Abschied und du... «, sagte Julia mit gespielten ernst.
» Du hast Recht. Du hast Recht. Es tut mir leid. Du... «
» Das war ein Scherz! Keine Ahnung. Außerdem wäre es doch nett, wenn ausgerechnet heute was aus euch wird, dann hätte die ganze Sache doch noch ein gutes Ende. «
» Nein, das ist kein gutes Ende. Ich würde der ganzen beschissenen Männerwelt abschwören, wenn du ... « Sie brauchte den Satz nicht zu Ende führen.
» Ich weiß und dafür lieb ich dich. «, sagte Julia.
» Geschafft. Jetzt heule ich schon wieder. «
» Schön, dann kann Fabian dich gleich trösten. «
Diesmal fing sich Julia einen Klaps ein. Sie gingen wieder zu ihren Freunden.
Bis tief in die Nacht saßen sie zusammen. Niemand wollte gehen. Jeder wusste, dass sie in dieser Runde nicht wieder zusammen kommen würden. Nicht weil sich unterschiedlich befreundet waren sondern weil Julia nicht mehr dabei sein würde. Sie würde eine Lücke hinterlassen. Sie würde fehlen aber genau deshalb würde sie immer ein Teil von ihnen bleiben.
Schließlich war es Julia, die sich von allen verabschiedete. Der lange Tag forderte ihren Tribut. Sie musste sich hinlegen. Sie sagte allen Auf Wiedersehen. Ihre Freunde wussten was damit gemeint war. Es dauerte sehr lange biss sie sie gehen ließen, aber sie merkten, das Julia Ruhe brauchte. Sabine begleitete Julia in Raphaels Zimmer. Raphael würde auf dem Sofa schlafen. » Wir sehen uns morgen. Ich hole dich ab. Du meldest dich?! «
» Ja, das mache ich. «
» Gut, dann Schlaf gut. «
» Du auch. Träum' was schönes. «
» Gute Nacht. «
Während Julia sofort einschlief blieben die Freunde im Nebenzimmer versammelt. Julia wurde erst wieder kurz wach, als sie Raphael auf dem Bett sitzen sah.
» Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken. Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht. «
» Danke. Mir geht es gut. «, sagte sie müde.
» Dirk und Fabian waren die letzten. Sie sind gerade erst gegangen.«
» Wenn du willst kannst du neben mir schlafen. Nebenan ist doch bestimmt verbrauchte Luft. «
» Ist gut, aber ich räume noch eben die Sachen weg. « Diesmal brauchte er Zeit für sich. Er sah die Zeit rennen. Jetzt waren es nur noch wenige Stunden. Da wurde ihm klar, dass er die mit Julia verbringen wollte. Er ging in sein Zimmer. Sie schlief schon wieder. Er legte sich zu ihr. Er gab ihr wie in den letzten Tagen einen Kuss auf die Stirn. Sie schmiegte sich schlafend an ihn. Er versuchte so viel wie möglich von Julia einzuatmen und sprach leise, » Ich liebe dich. « Er sah sie lange an und versuchte jedes noch so kleine Detail von ihr aufzunehmen. Doch gegen die Müdigkeit war auch er machtlos. Ihm fielen die Augen zu. Sie schliefen friedlich nebeneinander.
7. Tag
Erst am späten Mittag wachte Julia auf. Neben ihr lag der schlafende Raphael. Sie war glücklich. Raphael wachte auf, » Bist ja schon wach. Guten Morgen. «
» Guten Morgen. Gut geschlafen? «
» Sehr gut. « Raphael blickte auf die Uhr. » Wohl eher guten Mittag. So spät schön? «, stellte er aufgebracht fest.
Julia streckte sich nach dem Wecker und drehte ihn um, » Heute mal nicht nach der Zeit gucken. «
» Würdest du mir noch eine Sache verraten? «, fragte er.
» Was immer du willst. «
» Wie endet die Geschichte in deinem Buch? «
» Sie stirbt. «
» Also kein Happy End? «
» Nein kein Happy End. «
» Und warum stirbt sie? «
» Das hat Virginia Woolf so beantwortet, » Damit die anderen das Leben wieder zu schätzen wissen. «
» Und wie würdest du das sagen? «
Julia musste lange überlegen, » Wie viele andere auch, weil das Sterben zum Leben dazugehört. Mit dem Tag unserer Geburt fängt das Sterben an und das müssen wir einfach akzeptieren. «
» Das von der Woolf gefällt mir besser. «
» Mir auch. «, meinte Julia, » ich wollte ja versuchen, die Menschen zum umdenken zu bringen. Frag mich wie sie stirbt. «
» Wie stirbt sie? «
» Durch einen Bombenanschlag in Australien durch einen US-amerikanischen Terroristen. «
» Das meinst du ernst, oder? « Die Frage beantwortete sich von selbst.
» Du verstehst mich. « Sie lächelte.
» So schlecht, finde ich die Idee gar nicht. «
» Ehrlich?! «
» Ja, aber wieso Australien? «
» Erst hatte ich überlegt Afghanistan zu nehmen, aber dann hätte ich den Sachverhalt nur umgedreht. Wir sind nicht die Guten und die Andren nicht die Bösen. Wir leben alle auf einer schönen, bunten Welt. Und mit Australien rechnet niemand, weil die meist neutral sind. «
» Bist du traurig, dass du es nicht mehr schreiben kannst? «
» Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche. «
» Sagt wer? «
» Bonhoeffer. «
» Was sagst du? «
» Ein bisschen traurig bin ich schon, aber ich habe meinen Frieden geschlossen. Das Leben geht weiter. « Stille.
» Ich hätte dein Buch gekauft. «
» Bestimmt nicht. «
» Ey, echt wahr. Ich hätte es gekauft. «
» Das wäre mehr ein Buch für Frauen geworden. Du guckst Horrorfilme, liest aber Liebesromane? Das ist schwer zu glauben. «
» Das stimmt, da fehlt uns Männern die Action. Schießereien, Mord und Totschlag. «
Julia runzelte die Stirn.
» Tut mir leid. »
» Schon gut. Ich werde es überleben. « Beide lachten.
Raphaels Magen knurrte. » Ich mache uns mal ein spätes Frühstück. «
» Ich helfe dir dabei. «
Nachdem sie gefrühstückt und Julia geduscht hatte, fragte Raphael, » Wann soll ich dich nach Hause bringen? « Die Frage wollte er am liebsten gar nicht stellen.
» Sabine holt mich ab. « Raphael sah sie verwundert an.
» Sie wird dabei sein, wenn ich es meiner Familie sage. Sie hat sich da gestern nicht von abbringen lassen. «
» Aber ich hätte dich gerne nach Hause gebracht. «
» Du hast so viel für mich gemacht. «
» Ich würde noch viel mehr für dich machen, wenn du mich lässt. «
» Das weiß ich, aber ich habe mich entschieden, die letzten Tage gehe ich alleine. «
» Tage? «, fragte Raphael entsetzt. » Was haben die Ärzte gesagt? «
» Ist doch egal. Raphael! Bitte! Ich gehe nach Hause um zu sterben. Akzeptire’ das bitte. «
» Das habe ich, aber sag’ mir, was die Ärzte gesagt haben. Du sagst immer, dass du dich auf das Sterben vorbereiten willst, aber gib mir die Chance, das auch zu tun. Wir alle müssen uns genauso darauf vorbereiten wie du. « Stille entstand.
» Mit Glück, vier Wochen. «
» Nein! «
» Es ist besser, wenn ich gehe. Je länger ich bleibe desto schwerer wird es. «, sagte Julia leise.
» Geh jetzt noch nicht. «
Julia nickte. Zusammen räumten sie die letzten Überreste des Vorabends weg.
» Ich... «, Julia wusste nicht was sie sagen sollte.
» Geh noch nicht. «, bat Raphael erneut.
» Ich muss. « Egal was sie taten. Es würde den Schmerz nicht nehmen. Julia rief Sabine an.
Danach umarmten sie sich lange. Beide weinten. Schweren Herzens löste sich Julia aus der Umarmung. Sie ging. Als sie an der Tür stand hörte sie Raphaels Stimme, » Auf Wiedersehen! Du glaubst doch daran, oder? «, fragte er leise.
Julia drehte sich mit tränen überströmten Gesicht um. Zum letzten Mal ging sie auf Raphael zu und sah ihm in die Augen. Langsam näherten sie sich. Julia küsste Raphael mit all ihrer Liebe, die sie für ihn empfand. Sie berührte seine Stirn mit ihrer und flüsterte mit fester Stimme, » Auf Wiedersehen: Ich verspreche es. « Wieder ging sie. Lächelnd drehte sich an der Tür um. » Danke, das du mein Leben verändert hast. « Mit einem leisen Klick fiel die Tür ins Schloss. Während Julia die Treppe hinunterging spürte sie den Kuss. In dem Moment des Kusses fühlte sie stark genug zu gehen. Jetzt war sie sich ganz sicher, dass sie sich wiedersehen würden, denn wenn es eine Sache gibt auf die es sich zu warten lohnt, dann ist es die Liebe. Auch über den Tod hinaus.
» Und du meines. «, antwortete Raphael.
29. Tag
Sie saßen wieder zusammen in Raphaels Wohnung. Nach der Beerdigung und dem anschließenden Kaffee trinken wollte niemand auseinander gehen. Julia hatte Recht behalten. Das nächste Mal, wenn sie sich alle treffen würden, wäre ihre Beerdigung. Die anderen baten Raphael von seinen Tagen mit Julia zu erzählen. Zunächst war es ihn unmöglich, dann dann floss es nur so aus ihm heraus. Er erzählte wie sich trafen, wie er ihr versprechen musste niemanden etwas zu erzählen und von Ihren Gedanken und Ideen. Auch das sie vorgeschlagen hatte die Türen neu zu streichen. Sie mussten all lachen und waren zugleich verwundert, denn das sah Julia überhaupt nicht ähnlich.
» Habt ihr es denn gemacht? «, fragte Fabian.
» Nein, das war vor ihrem Schwächeanfall. Danach haben wir da nicht mehr darüber gesprochen. «
» Gar keine so schlechte Idee. «, meinte Dirk.
» Lass es uns machen. «, forderte Fabian die anderen auf. » Kommt schon, du sagst, dass sind um die fünfzig Türen und wir sind fünfzehn Leute. Das können wir schaffen. «
» Wir werden doch sofort erwischt, wenn wir da nachts mit so vielen Leuten auffahren. «, sagte Raphael.
» Nicht nachts. Jetzt gleich. Dann sind alle überrascht und ehe sie was machen können, sind wir schon wieder draußen. «, schlug Fabian vor.
» Du hast sie nicht mehr alle. «, sagte Sabine, » Heute ist der Tag von Julias Beerdigung und du willst Türen anstreichen? Du hast Rapha doch gehört, innerhalb weniger Tage sind die wieder wie neu. «
» Ich wette mit Julia hättest du es gemacht. Lass es uns für Julia machen. «, sagte Dirk.
Raphael lächelte, » Wir haben nie darüber gesprochen, welche Farbe Julia wollte. «
» Bunt. « sagten Sabine und Fabian gleichzeitig. Raphael erkannte, dass er so vieles von Julia nicht wusste. Dazu war die Zeit zu knapp gewesen. Aber er war dankbar. Dankbar für jede einzelne Sekunde die er mit ihr verbracht hatte.
» Der Neubau sind die Stationen vier bis acht. « Raphael und Fabian klatschten sich ab.
Sie tüftelten einen groben Plan aus. Die Jungs würden jeder mit einer andere Farbe im Laufen einmal an den Holzverzierungen entlang streichen und die Mädels würden schmiere stehen und versuchen das Personal abzulenken. Die Jungs trugen alle ein Cappy und jeder würde im Krankenhaus eine Sonnenbrille aufsetzen.
Sie setzten den Plan um. Sie schaffte es gerade mal die Stationen vier bis sechs zu streichen, ehe sich vor der Polizei in Acht nehmen mussten.
Am Abend dachte Raphael an Julia. Vielleicht hatte sie Unrecht damit, dass einer allein den Anfang machen musste um etwas zu verändern. Es können auch viele sein. So wie heute und es war ihm, als würde Julia zustimmen.
Auch Raphael behielt nicht Recht. Nachdem die Zeitungen über den Vorfall berichtete hatten und sie über einen anonymen Leserbrief die Leser über den Hintergrund aufgeklärt hatten, erhielten zwar die Türen auf den Stationen fünf und sechs ihre alten Anstrich zurück. Doch auf Station vier sprach sich die gesamte Belegschaft mit einem Sitzstreik dafür aus, dass die Türen so blieben wie sie waren und sie gewannen den Streik. Nach ein paar Wochen des Aufruhrs gab es Wichtigeres für die Zeitungen zu berichten und der Vorfall verschwand aus den Köpfen der Menschen. Nur auf Station vier zeugten die bunten Türverzierungen noch immer davon, dass auch kleine Siege ausreichten um die Welt ein kleines bisschen zu verändern.
Viele Tage später
Jedes Jahr zu Julias Beerdigung trafen sich die Freunde wieder und es gab nicht einen, der an diesem Tag etwas anderes vorhatte. Nur zu Julias Geburt trafen sich alle kurzerhand im Krankenhaus um den glücklichen Eltern, Sabine und Fabian sowie dem Patenonkel Raphael mit seiner Frau Marlene, zu gratulieren.
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2016
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