Harald Hossfeld
Hermelin, tut mir Leid, mein König braucht dein Fell und ich das Geld
Vorspiel
Vor langer Zeit, nun so lange nun auch wieder nicht, als jedenfalls die Dinos schon lange tot waren und die Ritter auch, lebte ein Junge, den nannten alle den Raldi, weil das sich reimt auf Waldi; und Waldi war der Hund von Tante Everwien, die immer lange Röcke trug wegen Waldi. Denn Waldi war ein dummer Hund. Er dachte doch tatsächlich, Tante Everwiens Beine seien Bäume, na ja, dünne Bäume, aber immerhin stark genug für Waldi, dass er an ihnen empor klettern könnte wie Olli an einem Baum. Olli war Nachbars Kater, den Waldi immer auf die Bäume jagte, so hoch es nur ging, weil Olli, der wohl auch nicht der schlaueste war, glaubte, der Waldi könnte ihm folgen auf den Baum. Denn Waldi kratzte die Rinde des Stammes kaputt, bellte immer lauter, kam trotzdem nicht höher den Stamm hinan und brachte Tante Everwien zur Verzweiflung, weil die Nachbarin aus dem Haus stürzte mit einem Eimer Wasser, das sie auf Waldi kippte, so dass Waldi erst einmal sich schütteln musste und deswegen den Stamm in Ruhe ließ. Bellen konnte er auch nicht mehr, weil er auch noch das Fell leckte. Olli beruhigte sich in der Baumkrone, wollte wieder langsam zur Erde zurück, kam dabei ins Rutschen, so dass er beinahe ab gestürzt wäre, und konnte sich gerade noch mit den Vorderpfoten an einem Ast fest klammern. Am liebsten hätte die Nachbarin einen zweiten Eimer mit Wasser gefüllt und das Wasser Tante Everwien ins Gesicht geschüttet. Statt dessen rief sie die Feuerwehr, die mit einer langen Leiter den Olli aus der Baumkrone holen konnte.
Einmal aber hatte Waldi Tante Everwiens Beine als Baum benutzt, weil Olli auf Tante Everwiens Schulter saß, nachdem auch er Tante Everwiens Beine als Baum benutzt hatte. Den Olli konnte sie schnappen und auf die Erde setzen, und der Waldi ließ sofort Tante Everwiens Beine in Ruhe, um hinter Olli her zu sausen, so dass sie ins Badezimmer rennen konnte, um ihr Pflasterpäckchen zu suchen, in dem nur noch fünf kleine Pflästerchen waren. Sie musste schnell zu DM, mehr Pflaster kaufen, ohne dass jemand ihre Wunden sähe und sie fragen könnte: na, hat der Waldi Sie mal wieder gekratzt? Also holte sie ihren einzigen langen Rock aus dem Schrank, um die Beine zu bedecken und kaufte fünfzig Pflaster. Seitdem trug sie nur noch lange Röcke. Jetzt konnte Waldi nicht mehr an ihren langen Beinen hoch klettern, aber Waldi interessierte sich nicht nur für Olli, sondern auch für Enten, die er ganz besonders bewunderte, da sie immer weg flogen, wenn er gerade mit ihnen spielen wollte., was ihn fürchterlich in Wut brachte. Also schaute er ihnen genau zu, wie sie es machten, um aus dem Wasser heraus in den Flug zu starten und machte es ihnen nach. Je mehr er strampelte mit allen vier Pfoten, desto mehr versank er kopfüber im Wasser, was Tante Everwien nicht mit an sehen konnte. Sie stürzte sich in die Fluten und ging promt unter, weil der lange Rock aus Wolle sich mit Wasser voll sog, so dass er immer schwerer wurde und sie wie ein Stein sank.
Raldi hätte sie nun retten müssen, aber er konnte nicht schwimmen. Er bibberte und tat nichts. Frau Wolf dagegen, die immer die Enten fütterte und den Waldi am liebsten ab geknallt hätte, schlüpfte aus den Schuhen und ihrem kurzen Ruck und tauchte hinter Tante Everwien her, schlang ihr die Arme von hinten um die Brust und zog sie bloß mit den Beinen paddelnd an die Luft, dann an Land.
„Du wolltest mir doch von den Indianern erzählen, Tante Everwien,“ sagte Raldi.
Raldi sah natürlich, wie blass die arme Tante Everwien war. Aber da er nicht wusste, wie er ihr helfen konnte, bibberte er weiter und sagte halt das, was er sonst auch gesagt hätte, vor lauter Angst.
„Wo haben die eigentlich ihre Ponys her?“ fragte Raldi schon mal, weil Tante Everwien immer noch nichts sagte. Er hätte natürlich auch mal horchen können, ob ihr Herz noch schlug, aber sein Stethoskop war zu Hause.
Tante Everwien wurde langsam rot im Gesicht: ob das nun die frische Luft war oder ob sie anfing sich zu ärgern (worüber denn eigentlich?), jedenfalls sah sie schon viel besser aus, und der Waldi fiel ihr auch wieder ein.
„Waldi, Waldi, ach Waldi, warum machst du immer solche Sachen? Du weißt doch, dass ich ein schwaches Herz habe, du Dummerchen. Was hast du gesagt?“
„Du wolltest mir doch was von den Indianern erzählen.“
„Morgen.“
„Aber jetzt.“
„Jetzt kann ich nicht.“
„Ich mag aber.“
Iss ja verlorn
Sanftes Herz war ein Indianerjunge, der reiten konnte wie ein Indianer. Indianer reiten ohne Zügel und Sattel und eine Gerte brauchen sie sowieso nicht. Seine Cousine hieß Süße Kirsche oder Siouxsioux Kirsche, und sie konnte auch reiten wie ein Indianer. Cousine und Cousin ritten jeden Morgen hinaus auf die Prairie, die so endlos ist wie ein Tag ohne Schule, ohne Hausaufgaben, ohne Einkaufen, ohne Fußball, ohne alles halt.
So endlos ist die Prairie, dass man der Mama gar nicht sagen kann, wie weit man vor hatte zu reiten. Deswegen fragte die Mama auch gar nicht erst: wo wollt ihr denn hin? Hunger brauchte man keinen haben, weil Indianer wissen, welche Pflanzen gut sind und welche nicht. Durst war erst recht kein Problem: Bäche gab es fast überall, und das Wasser war so klar wie die Luft. Allerdings wuchs das Gras so hoch, da ja niemand darauf rum trampelte, dass man die Bäche nicht sofort sah, manchmal war man schon drin bis zum Po.
Das Gras kitzelte natürlich die Ponys dort, wo es am meisten kitzelt, am Bauch. Und in dem hohen Gras zu galoppieren, war auch nicht so leicht für die kleinen Beinchen, die schnell müde wurden, weil sie sich einen Weg bahnen mssten durch das Gras, das wie ein nasser Lappen an den Beinchen klebte. Also mussten die Reiter meistens traben oder im Schritt gehen und konnten weit sehen, weil sie nicht die ganze Zeit am Hals des Ponys hängen mussten und nur die Mähnen im Blick hatten, die hoch und runter hüpften; und hören konnten sie die Vögel und sogar andere Tiere, die eher leise sind, wenn sie durchs Gras huschen. Es gab ja kein Flugzeug, kein Auto, kein Motorrad, keinen Traktor, auch keinen Panzer oder einen Quad. Nicht einmal die Hufeisen der Ponys machten Krach, weil Ponys natürlich keine Hufeisen haben. Die Prairie war das Kinderzimmer. Erst zum Abendessen kamen die Kinder ins tipi. Am liebsten wären sie Tag und Nacht draußen im Kinderzimmer, aber Salatblatt, die Mutter von Siouxsioux Kirsche war dagegen. Hatte sie Angst vor Schlangen? Bären? Elchen? Büffeln? Die Kinder sagten nur:
„Aber Mama!“
Saure Gurke, der Vater von Siouxsioux Kirsche sagte nichts.
Es waren aber nicht die Tiere, vor denen Salatblatt Angst hatte. Warum sollten Tiere Kinder angreifen? Bären brauchten keinen Hunger zu haben, sie gingen angeln. Büffel hatten so viel Gras, dass sie gar nicht so schnell fressen konnten wie das Gras wuchs. Wölfe fanden genug kranke Tiere, so dass sie gar nicht jagen mussten, und Füchse kriegten langsam dicke Bäuche, dass sie sowieso nur noch schleichen konnten, bis sie ein paar Tage lang gar nichts mehr aßen und dann wieder, vor lauter Hunger, alles verschlangen, was rum lag..
Nein, vor Tieren hatte Salatblatt keine Angst, nicht einmal vor Klapperschlangen, weil es da zu kalt war; Angst machten ihr die Fallen und die Fallensteller, von denen sie den Kindern nichts gesagt hatte, um ihnen nicht das Fürchten bei zu bringen ausgerechnet vor der Prairie, ihrem Kinderzimmer.
Saure Gurke hatte noch keinen Fallensteller getroffen, aber Fallen gefunden, in denen Tiere steckten, die ein Bein gebrochen hatten bei dem Versuch, sich zu befreien. Deswegen war Saure Gurke sauer auf die Fallensteller, die den Tieren nur das Fell ab zogen und sie dann den Geiern und Schakalen über ließen. Es kreisten jetzt mehr Geier über der Prairie als früher.
Die Fallen waren zwar meistens am Fluss, weil die Fallensteller Biber suchten, denn Biber haben ein dichtes Fell, das einen warmen Pelzmantel her gibt. Füchse haben ein eher lichtes Fell, weswegen man Fuchspelze nur als Halswärmer benutzt. Aber Wiesel haben ein so leichtes und dichtes Fell, dass sie viel leichtere Pelzmäntel liefern, besonders für die feinen Damen. Nur Wiesel sind sehr klein, und man braucht zweihundert Wisel für einen Mantel. Aber erst Hermeline! Die sind so weich und so leicht und so dicht, dass nur Könige einen Hermelin-mantel tragen, so viele müssen sterben für einen Mantel, dass Fallensteller sehr glücklich sind, wenn sie ein Hermelin gefangen haben, denn es gibt nicht sehr viele Hermeline, auch nicht auf der Prairie.
Umso erstaunlicher war es, dass Sanftes Herz, Siouxsioux Kirsche, Seisogut und Sorenndochnichtso an diesem schönen Morgen ein Hermelin fanden, das wohl auf sie sogar gewartet hatte, weil es ja wusste, dass die Kinder jeden Morgen auf die Prairie ritten. Es reckte sich im hohen Gras.
„Was machst denn du hier? Ich dachte, du wohnst im Wäldchen da drüben,“ fragte Siouxsioux Kirsche.
„Da geh ich nie wieder hin!“
„Ja, aber, was ist denn passiert? Du weinst doch nicht etwa?“
„Mein Freund ist tot.“
„Wie denn tot? Du hast doch noch mit ihm gespielt, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. War er krank?“
„Nein, so gesund wie du und ich; und wir waren dabei zu spielen, als es passiert ist.“
„Was passiert ist?“
„Es hat „klick“ gemacht, da hat er sich überschlagen und geschrien. Er hat sich nicht mehr bewegt. Ich hab einen furchtbaren Schreck gekriegt und wollte weg rennen, aber ich musste ihm doch helfen, obwohl ich ihm nicht helfen konnte: er steckte fest in etwas drin, das wohl zuschnapp-te in dem Moment, als er da hinein getappt ist mit seiner Vorderpfote. Die Pfote war zerquetscht, sie blutete. Seine Augen schauten mich an „Hilf mir doch“, aber er wusste selber, dass ich nichts machen konnte. Er steckte in der Falle. Ohne meinen Freund will ich nicht mehr leben.“
„Du kannst bei uns wohnen, wir werden auf dich auf passen.“
„Dann bin ich doch auch allein.“
„Du hast doch uns.“
„Aber ihr seid kein Hermelin.“
„Wir sind Menschen.“
„Eben.“
„Was soll denn das heißen?“
„Ist der Fallensteller nicht auch ein Mensch?“
„Menschen tun so etwas nicht.“
„Ich hab ihn gesehen: er ist nicht kein Mensch wie ihr, sondern ein Bleichgesicht mit einem roten Gesicht von der Sonne.“
„Was hat er gemacht?“
„Ich will es nicht sagen: es war zu schrecklich.“
„Wir können ja die Eule fragen, sie hat es sicherlich auch gesehen, wenn sie nicht geschlafen hat.“
„Wenn die Eule eure Freundin ist, komm ich nicht mit.“
„Aber Hermelin, sie fängt doch nur Mäuse.“
„Weil ein Hermelin schneller ist, sonst würde sie uns auch fangen.“
Wenn man von der Eule spricht, kommt ….....der Fuchs.
„Hallo, Menschlein, und ach, hallo, Hermelin.“
Das Hermelin stellte sich auf und zog seine für Menschen unsichtbaren Boxhandschuhe an.
„Hör doch auf, Hermelin, siehst du denn nicht, dass ich keinen Hunger habe?“
„Stimmt, was ist denn los mit dir, Fuchs, dein Bauch ist ja ganz dick! Bist du krank?“
„Ich, krank?“
„Furzy-furzy, Auspuff brummbrumm?“
„Furzy-furzy? Auspuff brumm brumm??
„Du nix verstehn? Nix kapieri??
„Kannst du nicht sprechen wie ein Hermelin?“
„Ich hab mal die Fuchssprache probiert.“
„Sehr witzig!“
„Hast du Bauchschmerzen?“
„Schmerzen, nein.“
„Also, was ist?“
„Du kennst mich doch, oder?“
„Immer Hunger?“
„Immer Hunger, und überall liegt was rum, schon fix und fertig, ohne Fell, du brauchst bloß noch rein beißen.“
„Die Tiere liegen einfach so rum, ohne Fell?“
„Kannst du sie denn nicht riechen?“
„Deine Nase ist wohl besser.“
„Deswegen klaust du nicht mehr unsere Hühner,“ sagte Siouxsioux Kirsche.
„Jetzt bin ich ein guter Fuchs: ich klau nicht mehr; ich bin ein Sauberfresser.“
„Sauberfresser?“
„Ich putz die Prairie, bevor die Fliegen kommen. Du magst doch keine Fliegen.“
„Willst du sagen ….? wie bei Hermelin?“
„Genau! Fallen.“
„Fuchs, wir müssen etwas tun.“
„Ich tu ja was: ich fress alles auf, was rum liegt, aber ich kann nicht mehr, mein Bauch wird zu dick, ich kann schon gar nicht mehr rennen, nur noch schleichen; der Bauch hängt so tief, dass er an jedem Maulwurfhügel schleift.“
„Wir müssen die Fallen finden, bevor noch mehr Tiere hinein tappen.“
„Und wenn wir selber hinein tappen?“ fragte Sorenndoch-nichtso, die immer so rannte.
„Ich hab mal einen Blinden gesehen; weißt du, was der gemacht hat?“
Seisogut war wie eine kleine Lehrerin.
„Ein Mensch hat ihn bei der Hand genommen?“
„Der Blinde hatte einen dünnen Stock, mit dem er herum gefühlt hat, ob die Bahn frei war,“ belehrte sie Seisogut.
„Du meinst: wir spielen blinde Kuh, tappen mit dem Stöcklein, bis es in die Falle tappt, die Falle schnappt zu, das Stöcklein ist gefangen; und wir können die Falle fangen, indem wir sie am Stöcklein hoch ziehen?“ sagte Sorenndochnichtso.
„Du bist ein kluges Menschlein, Menschlein,“ sagte der Fuchs.
„Aber Tiere können nicht mit einem Stöcklein tappen,“ gab Seisogut zu bedenken.
„Tiere nicht, Menschlein wohl,“ wusste der Fuchs.
„Eure Eltern werden es nicht erlauben,“ mahnte Hermelin und war wieder mit vier Pfoten fest auf dem Boden.
„Wir könnten Stumpfer Zahn fragen. Der sitzt den ganzen Tag rum, raucht und ist benebelt. Er wird sich freuen, wenn er wieder auf die Jagd gehen kann,“ schlug Sanftes Herz vor.
„Wir sollten erst die Eule fragen: sie ist die ganze Nacht wach. Sie hat bestimmt etwas gesehen, sie oder eine andere. Die Fallensteller wollen schließlich nicht gesehen werden: sie stellen ihre Fallen nur in der Nacht,“ Siouxsioux Kirsche war auch nicht auf den Kopf gefallen.
„Wir könnten mit unseren Freunden eine Mannschaft bilden; die Erwachsenen brauchen nichts davon zu wissen, wenn Stumpfer Zahn dabei ist und die Eule uns den Weg zeigt,“ Sorenndochnichtso war immer für einen Schabernack.
„Gut; wer kümmert sich um die Eule?“ Seisogut dachte so praktisch, dass sie praktisch erwachsen war.
„Ich“, sagte Siousioux Kirsche.
„Wer um Stumpfer Zahn?“
„Ich,“ sagte Sanftes Herz.
„Wer um die anderen Kinder?“
„Ich“, sagte Seisogut.
„Morgen treffen wir uns wieder hier: selbe Sonne, selber Platz.“
Stumpfer Zahn war so benebelt, dass er gar nicht begriff, was Sanftes Herz wollte.
„Ich brauch kein Hermelin-Bett, ich friere nicht.“
„Du sollst doch nicht schlafen! Du kannst wieder auf den Kriegspfad.“
„Nein, ich will nicht im Kies baden.“
„Du sollst nicht baden! Du kannst wieder laufen.“
„Ich will nicht saufen! Ich will rauchen, lass mich in Ruhe.“
„Du kannst uns helfen.“
„Ich brauche eure Hilfe nicht, ich kann alleine rauchen.“
„Du musst die Tiere retten.“
„Tiere können besser laufen als ich, die haben keine Knieschmerzen.“
„Die Weißhäute töten unsere Tiere.“
„Bleichgesichter?! Wo? Los!“
„Draußen auf der Prairie.“
„Ich hol mein Pferd.“
„Du brauchst kein Pferd, nur einen Stock.“
„Ich bin doch kein Krüppel.“
„Reiten ist zu gefährlich: das Pferd könnte in eine Falle tappen.“
„Falle? Was für eine Falle?“
„Die Bleichgesichter können nicht so schnell reiten wie du, die Tiere rennen schneller, deswegen müssen die Tiere sich selber fangen.“
„So ein Blödsinn: kein Tier fängt sich selbst.“
„Wenn es in eine Falle tappt, ist es gefangen, es kommt nicht wieder raus.“
„Was ist denn das schon wieder für ein neu modisches Zeug? Hast du dir das ausgedacht?“
„Die Bleichgesichter.“
„Ich habs ja immer gewusst: den Bleichgesichtern kann man nicht trauen. Ich habs dem Häuptling gesagt, aber auf mich hört ja keiner; die denken alle: der ist meschugge, weil er so viel raucht. Was soll ich denn machen den ganzen Tag?“
„Du musst die Fallen finden.“
„Meine Augen sind auch nicht mehr die besten.“
„Deswegen brauchst du einen Stock.“
„Ich bin doch nicht uralt. Ich werd schon nicht in eine Falle tapsen.“
„Nicht du! Dein langer Stock soll in die Falle tappen.“
„Dann hab ich ja keinen Stock mehr." „Du brauchst ja auch keinen Stock.“
„Du hast doch gerade gesagt: ich brauch einen Stock.“
„Für die Falle! Damit sie keine Tiere mehr fangen kann.“
„Wieso?“
„Wenn sie einmal zugeschnappt ist, kann sie nicht noch einmal zuschnappen.“
„Und das Tier bleibt da drin gefangen bis zum Tod?“
„Bis der Fallensteller kommt und es tötet.“
„Und die Falle ist dann auch tot?“
„Die kann er wieder stellen für das nächste Tier.“
„So ein Feigling!“
„Der Fallensteller?“
„Der auch! Nee, ich! Ich hab mich hinter der Tabakspfeife versteckt, und die armen Tiere werden gefangen. Weg du Lügner!“
„Ich bin doch kein Lügner,“ protestierte Sanftes Herz.
„Nicht du, die Pfeife.“
„Die hat doch gar nichts gesagt.“
„Sie hat mich ein geschläfert! Wer schläft, der sieht nicht, was passiert.“
„Ach, deswegen schläft die Eule nie.“
„Los! Zur Eule! Wo sind die anderen Kinder? Ich brauche sie alle. Die Prairie ist groß. Los, erst mal Stöcke schneiden.“
Stumpfer Zahn musste ganz schön prusten und husten und pusten und keuchen und schniefen und schlucken und spucken, aber nach einer Weile fingen die Lungen an, wieder Luft zu spüren statt Rauch und lieferten dem Herzen so viel Sauerstoff, dass es sich wunderte und los schlug wie früher, so dass das Gehirn Blut kriegte und feu-erte wie ein Feuerwerk, und alle Ideen kamen an gerannt und sagten: Chef, sag dem Knie: beweg dich. Das Knie wollte gerade protestieren und dem Gehirn einen Schmerz melden, aber da merkte es plötzlich, dass es gar keinen Schmerz zu melden hatte, beugte sich einfach und dann: „Bein lauf los“, und als ob nichts wäre, lief das Bein los.
Sanftes Herz hatte den Stumpfen Zahn geweckt aus seinem langen Winterschlaf und wie ein Bär hatte er auf einmal Hunger und Durst, rannte zur Weide, riss gleich ein paar Zweige herunter, für alle Fälle, schließlich wollte er mehr als nur eine Falle fangen! Als die Kinder den Stumpfen Zahn herum rennen sahen wie einen Osterhasen, schauten sie einander an und legten den Finger auf den Mund, damit ja keiner etwas verriete.
Seisogut war inzwischen bei Sausewind ins tipi geschlichen und hatte sie gefragt, ob sie ihrer Freundin Salamander etwas ausrichten könne. Sausewind wollte natürlich wissen, was sie ihr ausrichten solle, aber Seisogut hatte ihr den Zeigefinger auf den Mund gelegt, so dass sie ihre Frage erst gar nicht stellen konnte.
„psst. Morgen.“
„Morgen?“
„psst. Treffen.“
„Treffen?“
„psst.“
„Treffen? Wen?“
„psst.“
„Salamander, Sanddorn, Summherum, Schäflein, Stolzer Hahn, Stelzenbein und Eule, Hermelin, Fuchs.“
„?“
„Wirklich.“
„Wo?“
„Am selben Ort.“
„?“
„Echt.“
„Wann?“
„Zur selben Sonne.“
„?“
„Aber nicht weiter sagen.“
Dann war Seisogut verschwunden, und Sausewind war wie der Wind zu Salamander gesaust, der zu Sanddorn, während Schlafdochein schon das Schäflein gestreichelt hatte und Salamander schon bei Salzleckstein Sensation geleckt hatte und Schlanker Baum wusste es so wie so schon: kurzum alle wussten … ja? Was wussten sie denn nun? Morgen sollten irgendwo alle sich treffen, oder doch nicht alle? Gegen Mittag oder im Mittag; und Eule, Hermelin und der Fuchs sollten auch dabei sein. Das Beste wäre, morgen früh genau auf zu passen, was Siouxsioux Kirsche tun würde, ihr heimlich zu folgen, damit sie ja nichts merkte, denn man wusste ja nicht genau, ob man nun eingeladen war oder nicht. Es gab zwar keine Büsche, hinter denen man sich verstecken konnte, aber so lange man im tiefen Gras schlich, war man so gut wie unsichtbar, außer dass das Gras sich natürlich bewegte und dass eine ganze Menge Leute da durch das Gras krochen. Blieb nur zu hoffen, dass Siouxsioux Kirsche sich nicht umdrehte und dann womöglich dächte, dass irgend jemand hinter ihr her schliche.
Irgend jemand? Das war ja eine ganze Armee, die da früh am nächsten Morgen durch die Prairie rannte, denn an Schleichen war natürlich gar nicht zu denken, weil Siouxsioux Kirsche und Sanftes Herz und Stumpfer Zahn (was war denn mit dem los? Der sauste ja auch wie der Wind), ohne sich ein einziges Mal um zu drehen, auf die Prairie hinaus brausten, als ob ein Sturm sie jagte.
Und was war denn das für eine Gesause, Gepfeife und Zwitschern und Tririlieren über ihnen? Wollten denn die Vögel auch mit machen? Seit wann spielten Siouxsioux Kirsche, Seisogut, Sorenndochnichtso und Sanftes Herz mit Vögeln? Dass die beiden Geschwister ab und zu mit einer Eule quatschten, na das ging ja noch, obwohl Eulen normalerweise nicht mit Menschen reden. Konnten die denn überhaupt Menschensprache sprechen? Oder sprachen die beiden etwa die Eulensprache? Und die Fuchssprache auch noch? Und was war denn das für eine Geschichte mit dem Hermelin? Seit wann kommen denn Hermeline zu den Menschen? Was ging hier eigentlich vor? Da stimmte doch was nicht! Das stank doch zum Himmel! Das war bestimmt eine Falle! Ja, genau, das war es: die wollten sie in eine Falle locken, deswegen drehten sie sich nicht um!
Als die da vorne stehen blieben, stoppte auch die Armee. Der Anführer drehte sich um, und Stumpfer Zahn grinste sie an:
„Hermelin, du hast viele Freunde, viel mehr, als du gedacht hast. Alle sind gekommen, um dir bei zu stehen in deinem Schmerz. Wir wissen, wir können deinen Freund nicht wieder lebendig machen. Aber wir können verhindern, dass noch mehr Freunde ihre Freunde verlieren, bis alle traurig sind und mutlos. Heute haben wir alle den Mut, den Winter aus unseren Armen und Beinen zu schütteln und uns auf zu machen, die Biester zu suchen, die deinen Freund getötet haben. Hermelin, du hast das Wort.“
Wie sollte das kleine Hermelin mit seiner Piepsstimme so laut reden, dass alle es hören könnten? Es brauchte einen Lautsprecher und einen Hochsitz! Da kam der Bär gerade recht.
„Was ist denn hier los?“, donnerte er und leckte die Lippen, auf denen noch Reste des Lachses waren, den er gerade gefangen und verspeist hatte. In der einen Pfote hielt er mit den Krallen einen Lachs, sicherlich für die Kleinen.
„Bär, du bist unser Lautsprecher.“
„Was muss ich denn machen?“
„Nur nachsprechen, was Hermelin sagt.“
„Das ist ja einfach.“
„Siehst du!“
Hermelin fing an, es saß jetzt am Ohr des Bären:
„Liebe Freunde!“ „LIEBE FREUNDE“
„Mein bester Freund ist tot.“ „WIRKLICH WIE SCHRECKLICH DAS HAB ICH NICHT GEWUSST“
„Du sollst „DU SOLLST“
mir nachsprechen.“ „MIR NACHSPRECHEN“
„Das doch nicht.“ „DAS DOCH NICHT“
„Bär!“ „BÄR“
„Meine Rede.“ „MEINE REDE“
„Wie bist du dumm!“ „WIE BIST DU DUMM“
„Na gut.“ „NA GUT“
„Wir sind zusammen“ „WIR SIND“ gekommen“ „ZUSAMMEN GEKOMMEN“
„um alle Fallen auf zu finden“ „UM ALLE FALLEN AUF ZU FINDEN“
„in die ein Tier tappen könnte“ „IN DIE EIN TIER TAPPEN KÖNNTE“
„wir werden die Fallen“ „WIR WERDEN DIE FALLEN“
„zu schnappen lassen“ „ZU SCHNAPPEN LASSEN“
„mit unseren Stöcken“ „MIT UNSEREN STÖCKEN ABER ICH HAB KEINEN STOCK“
„du kriegst noch einen“ „DU KRIEGST NOCH EINEN“
„wir werden die Fallen“ „WIR WERDEN DIE FALLEN“
„in den Fluss werfen“ „IN DEN FLUSS WERFEN“
„keiner soll in Gefahr kommen „KEINER SOLL IN GEFAHR KOMMEN“
„die Vögel fliegen voraus“ „DIE VÖGEL FLIEGEN VORAUS“
„dann die Menschen“ „DANN DIE MENSCHEN“
„mit ihren Stöcken“ „MIT IHREN STÖCKEN“
„zuerst die Stöcke“ „ZUERST DIE STÖCKE“
„die Stöcke stochern ins Gras“ „DIE STÖCKE STOTTERN INS GRAS“
„dann die Vierbeiner“ „DANN DIE VIERBEINER“
„wenn ein Stock in eine Falle tappt“ „WENN EIN STOCK IN EINE FALLE TAPPT“
„Alarm“ „ALARM“
„ich danke euch“ „ICH DANKE EUCH“
Was ging hier vor? Sie haben doch auch verstanden, was Hermelin und der Bär gesagt haben; konnten sie denn auch die Tiersprache? War das hier ein verzauberter Ort, wo alle Lebewesen eine Sprache sprächen? Die Alten hatten ihnen, als sie noch kleine Kinder waren, manchmal Märchen erzählt, in denen Tiere sprachen wie Menschen, aber das waren Märchen, und jeder weiß, dass Märchen nur Geschichten sind, nicht wirklich wahr, oder?
Stöcke schneiden, war da schon was anderes, etwas mit Hand und Fuß, denn Büsche gab es hier beim Wäldchen jetzt genug, und auf allen Ästen saßen Vögel, die auch ganz ruhig geworden waren während der kurzen Reden von Stumpfer Zahn und Hermelin. Verstanden die denn auch die Vierbeinersprache?Es konnte los gehen: vorsichtig natürlich. Wie Hermelin es ihnen gesagt hatte, flogen: zuerst die Vögel, allerdings viel zu schnell; weswegen sie, wie junge Hunde, hin und her sausten, da das Stochern mit den Stöcken doch viel länger dauerte als das Fliegen mit den Flügeln. Das oberste Gebot hieß: niemand durfte in Gefahr geraten. Als die Vögel merkten, dass die Menschlein nicht nach kamen, fingen sie an zu kreisen: in weiten Kreisen, denn die engen Kreise, die waren vorgesehen für die Fallen. Die Kinder rückten enger an einander heran wie im Bett, wenn man friert, denn ein wenig kalt war es ihnen ja doch, so schien es, denn sie zitterten ein bisschen, kaum wahrnehmbar, sie selber merkten es gar nicht, aber sie waren froh, wenn sie den Ellenbogen des Nachbarn berührten. Sie gingen jetzt, schlichen könnte man sagen, in einer breiten Reihe neben einander, keiner wollte vor preschen, denn keiner hatte je eine Falle gesehen, keiner wusste, wie sie funktioniert, keiner wollte der erste sein, eine Falle aus zu probieren.
„Kleng.“
Nicht laut, nur einfach „kleng“, das soll alles gewesen sein? Seisogut starrte ihren Stock an, den sie nicht mehr bewegen konnte. Was sollte sie jetzt tun? Den Stock los lassen? Sie war natürlich stehen geblieben wie alle anderen, die sie sprachlos ansahen.
„Bleibt einfach stehen.“
Stumpfer Zahn kam zu Seisogut, nahm ihr den Stock ab und zog ihn vorsichtig aus dem Gras. An dem Stock hing etwas fest. Nicht nur Hermelin konnte sich vorstellen, was mit einem Bein passiert, das in solch einer Falle gefangen wird mitten im Rennen. Die meisten Kinder fingen an zu weinen. Ausgerechnet Hermelin rief:
„Hört auf zu weinen; das ist der erste Sieg. Mit jeder Falle, die wir finden, kommen wir unserem Ziel näher, die Prairie wieder so zu machen, wie sie einmal war: frei, wo jeder sich bewegen kann, nach Herzenslust spielen, rennen, essen, trinken, schlafen, Freunde haben. Das ist die Falle, in der mein Freund gestorben ist, oder sie ist so wie die Falle, in der mein Freund gestorben ist. Bald werden wir wissen, wie viele noch hier im Gras ver-borgen sind, weil uns die Vögel zu allen Fallen hin führen werden, und unsere Stöcke werden sie für immer zu schnappen lassen. Diese Falle wird sich nicht mehr öffnen, wir werden sie sofort im Fluss versenken.“
„Nein, warte. Auf dem Weg zum Fluss könnten noch mehr Fallen sein. Diese hier wird Seisogut zurück bringen ins Dorf, wo sie sicher auf gehoben ist. Wir machen weiter, bis der Weg zum Fluss frei ist.“
Also sprach Stumpfer Zahn, von dem das Dorf dachte, die Tabakspfeife hätte ihn gefangen wie eine Falle. Jetzt, wo die Kinder zumindest eine Falle gesehen hatten und verstanden, wie sie funktioniert, waren sie weniger ängstlich, aber noch vorsichtiger als vorher; ihre Vorsicht wurde jedoch auf etwas ganz anderes gelenkt, und wir werden wohl nie erfahren, wie viele Fallen sie an dem Tag noch gefunden hätten, denn aus dem Wäldchen kam etwas auf sie zu gerannt, das von weitem aussah wie ein Prairiehund, aber Prairiehunde haben keinen Hut auf und rudern nicht mit den Armen durch die Luft. Außerdem, als es näher kam, wurde das Ding immer größer und ….. war ein Bleichgesicht.
War das der Fallensteller?
„Bleib stehen, sonst …..“
Stumpfer Zahn wollte eigentlich sagen: sonst schieß ich dir einen Pfeil ins Bein, als ihm einfiel, dass er seinen Bogen gar nicht mit genommen hatte; er hatte ganz einfach vergessen, wie man auf den Kriegspfad geht.
„Au secours, au secours, des voleurs, des voleurs!“
Niemand verstand, was der Mann brüllte, aber der Bär begriff, dass der Mann die Kinder angreifen wollte. Den Stumpfen Zahn hatte
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Tag der Veröffentlichung: 25.04.2013
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