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Sanddornblüte
freute sich. Sie setzte sich neben John, als ob sie da hin gehöre und immer schon da gewesen sei. „So ist das wohl bei Freunden“, dachte sie. „Freunde sind anders: es ist, als ob man sich auf sie verlassen könne von Anfang an. Du sitzt ganz ruhig und schaust in dich hinein und bist zu Hause. Sie hörte, dass gesprochen wurde, ihre Augen waren offen, aber sie war einfach nur bei sich zu Hause. Die Gedanken kamen erst, als sie nicht zu einem Tipi ging, sondern zu Johns Blockhütte.
Sie kannte die Blockhütte von außen, aber dass sie so grob war, so hart und voller Splitter, wenn man über das Holz strich mit der Hand: das hätte sie nicht gedacht. Das Bett stand in einer Ecke; zumindest musste das das Bett sein: es war ein Gestell mit dicken Balken, die das Lager vom Boden in die Höhe hoben. Hatten die Bleichge-sichter Angst vor Schlangen, so dass sie nicht auf dem Boden schlafen wollten? Aber Schlangen könnten leicht die Balken hoch klettern! Angst vor Dreck? Oder war der Boden einfach zu hart? Kein Wunder bei den Bohlen! Es waren halbe Bäume, rau und holprig. Sie war barfuß, und ein paar Splitter pieksten, sie wagte aber nicht, sich zu setzen, um die Splitter heraus zu ziehen. Sie hätte die Splitter sowieso nicht sehen können, da war kein Licht in der Hütte; und wohin hätte sie sich setzen können? Auf das Bett? Es hatte nicht einmal ein Fell wie ihr Lager im Tipi. John war doch ein Fallensteller; wieso hatte er kein Fell auf seinem Bett?
Woher sollte sie wissen, dass Fallensteller ihre Felle verkaufen an Fellhändler, die ihnen dafür Geld geben oder Schnaps oder ein Gewehr oder eine neue Falle. Sie stellen die Fallen nicht für sich, sondern für den Händler, der in seiner Blockhütte sitzt und darauf wartet, dass endlich ein Fallensteller kommt, am besten mit einem Schlitten voller Felle, denn je mehr Felle der Fallensteller bringt, desto mehr kann der Händler an den nächsten Händler verkaufen, der dann die Felle an den nächsten verkauft, der sie an den Kapitän verkauft, dessen Schiff sie nach London bringt, wo im Hafen schon der nächste Händler wartet, der die Felle auf einem Pferdewagen in ein Lager transportiert, aus dem der Kürschner sie ab holt für seine Kürschnerei, wo er aus den Fellen Pelze macht für die Feinen Leute, die nicht gerne frieren im Winter und in den Pelz schlüpfen, als wäre dieser ihre Haut, nicht etwa die der Tiere, die der Fallensteller ab gezogen hat. Dass die Felle jedes Mal, wenn sie von einer Hand in die andere wechselten, teurer wurden, das konnte sie erst recht nicht wissen, denn sie wusste ja nicht einmal, dass es Geld gibt. So ein Fallensteller kriegt dann eine Flasche Schnaps für ein Fuchsfell, ein Gewehr (damals sagte man eine Büchse), also eine Büchse für 10 Bärenfelle oder 30 Biberfelle oder 100 Hermelins. Ein König zahlt für einen Hermelinmantel an den Meister Kürschner 10 000 Pfund, na ja, der König zahlt in Wirklichkeit gar nichts: sein Schatzmeister zahlt. Und der Schatzmeister holt sich das Geld bei den Bauern und Händlern und Kürschnern und Maurern und bei allen, die Salz kaufen oder Brot oder Schnaps oder Milch.
Johns Hütte war erbärmlich, das wusste auch er; deswegen schämte er sich noch bevor Sanddornblüte überhaupt in seine Hütte gekommen war. Sie hätte ihn in ihr Tipi ein laden können, aber das ging ja nicht, weil sie kein Tipi hatte, jedenfalls kein eigenes. Sie war zwar die Schwester des Häuptlings, aber eben nur die Schwester. Sie hatte kein Recht auf ein eigenes Tipi. Sie musste, wenn sie heiratete, und das hatte sie soeben getan, in das Tipi ihres Mannes ziehen, in dem die ganze Familie des Mannes schon wohnte. Ihr Mann aber hieß John und war kein Indianer, sondern ein Bleichgesicht, das kein Tipi hatte. Daher stand sie wie an gewurzelt in der Mitte der Hütte und sagte kein Wort.
John war ein Dieb, gut: er hatte Jean Michels Felle geklaut; na und? Wie viele Felle bräuchte er, um so reich zu werden wie sein Bruder, dem ein Schloss gehörte und das ganze Land drum rum, dem seine Bauern ihre Ernte bringen mussten, weil sie auf seinem Land ernteten. War es eine gute Ernte, blieb etwas über für die Bauern, war es eine schlechte Ernte, machten sie Schulden, denn sie mussten nun alles beim Lord ein kaufen. Sein Bruder war ein Jahr älter als er, er war der Erstgeborene, dem das Recht das ganze Erbe des Vaters ein brachte. John war sein Leben lang wütend gewesen, er war es immer noch: die Ungerechtigkeit jagte ihm das Blut in den Kopf, so dass er nicht mehr klar denken konnte. Er hatte nur noch den festen Wunsch, es ihnen heim zu zahlen: Rache wollte er. Er hätte nicht sagen können, wer sie eigentlich waren, denen er es heim zahlen wollte, einfach alle, besonders natürlich seinem Bruder wollte er es heim zahlen: das Einfachste wäre, ihn um bringen zu lassen. Selber um bringen konnte er ihn ja wohl kaum. Aber der Verdacht würde sofort auf ihn fallen, und es gab überall Verräter und solche, die falsch Zeugnis redeten. Das Gericht war der Lord, sein Bruder. Der hätte keine Mühe, ihn zum Tode zu verurteilen und den Henker zu rufen, der John mit seinem großen Beil einfach den Kopf ab schlagen würde.
Er hatte Jean Michel die Felle geklaut, okay. Das war so üblich unter Fallenstellern: der eine war des anderen Bescheißer. Und wenn der andere auch noch ein Franzose war, ein Froschfresser, na umso besser, hatten die Franzosen doch ganz Amerika besetzt, und nun mussten die Engländer es denen wieder ab jagen. Dass er ihm die Felle zurück gegeben hat, war ja eigentlich nicht sein freier Wille gewesen: die verdammten Biber hatten ihm das Kanu zerfressen, so dass die Felle auf dem Fluss davon schwammen. Die wären sowieso weg gewesen. Da hatte er eigentlich nichts verloren, als er sie diesem verdammten Monsieur Dupont verkauft hat, noch einem Froschfresser, um die Frau mit ihren Kindern frei zu kaufen. Wenn er die Felle irgend wie nach London kriegen könnte und sie dort zu Pelzen schneidern könnte, ja dann ... dann könnte er es tatsächlich diesem Schuft, seinem Bruder zeigen, dann würde er noch reicher als der mit seinen faulen Bauern, die den ganzen Tag besoffen waren von dem elenden Gin, den sein Bruder ihnen verkaufte.
Jetzt war der Fallensteller und Dieb ganz allein mit diesem schönen Mädchen, so dass er auch wie an gewurzelt da stand. Das schöne Mädchen wollte sich nicht bange machen lassen: Johns Gesicht war schön, warum sollte seine Seele nicht auch schön sein? Warum sollte er ihr weh tun wollen? Würde er sonst so da stehen wie ein kleiner Junge, der sich schämt, die Hose aus zu ziehen? Wenn man ein Kind haben will, muss man die Hose aus ziehen oder das Kleid, sonst können Samen und Ei nicht zusammen kommen. Sie zog ihr Kleid aus und legte es auf das Laub, das in dem Bettgestell als Matratze diente; so sah das Bett im Dunkeln ein wenig aus wie ein Bett.
Am nächsten Morgen brauchte sie so sehr die Sonne, dass sie froh war, dass John schon weg war und sie ihr Kleid wieder an ziehen konnte, obwohl es ein wenig knittrig war. Die Sonne schien durch die Ritzen der Hütte und verbreitete ein Licht wie zwischen Bäumen im Wald oder wie hinter Vorhängen. Dadurch verlor die Hütte ein wenig das Grobe und Raue, auch wenn die einzelnen Splitter, Risse, Äste, Dellen oder Huppel umso deutlicher wurden. Nur raus hier! Sie war auf dem Weg zu ihrem Tipi, als ihr ein fiel, dass sie nun kein Tipi mehr hatte. Würde sie in das Tipi ihres Bruders zurück kehren, dann hieße das, dass sie ihren Mann verlassen wolle; das wollte sie doch gar nicht. Allerdings wunderte sie sich ein bisschen darüber, dass John so früh verschwunden war, ohne sie zu wecken, ohne ihr ein Küsschen zu geben, ohne zu zeigen, dass sie jetzt verheiratet waren. Sie ging in den Wald. Die Sonne zwischen den Blättern war so frisch, dass sie plötzlich in dem grünen, gelben Licht ein Bild sah, nur aus Licht, keine Ränder, kein Hell, kein Dunkel, nur Licht, wohl tuend den Augen, weil es warm war und feucht. Sie legte ihre rechte Hand auf den Bauch und wusste: sie war schwanger, da war neues Leben in ihr, ihr Kind. Sie würde ein Kind haben. Wo war bloß John? Sie freute sich so sehr, es ihm zu sagen, dass sie zur Hütte rannte, um zu sehen, ob er nicht schon längst zu Hause war. Natürlich nicht, aber sie war ja auch nur ganz kurz im Wald gewesen. Sollte sie nicht zum Tipi ihres Bruders rennen und es Salatblatt erzählen? Natürlich. Salatblatt!
Salatblatt war so glücklich, dass sie es sofort ihrem Mann weiter sagte. Der Häuptling veränderte sein Gesicht nicht. Freute er sich nicht? Wollte er es nur nicht zeigen, weil Männer nie zeigen dürfen, was sie fühlen? Männer haben kein Gefühl: weder Angst noch Freude, weder Glück noch Schreck. Männer dürfen ihrem Feind nicht zeigen, ob sie Frieden haben wollen oder Krieg. Männer müssen trumpfen, sie müssen immer noch eine Karte versteckt haben, die sie ziehen, wenn der Feind denkt, er habe gewonnen. Aber wo war hier der Feind? John etwa? Der Häuptling hatte ihm doch seine Schwester gestern erst gegeben. Der Adlermensch? Aber was hatte der damit zu tun, dass Sanddornblüte schwanger war oder fühlte, dass sie schwanger war?
„Warum sagst du nichts?“
„Ich freue mich, dass du dich freust.“
„Du willst es mir nicht sagen.“
„Frauen müssen nicht alles wissen, und du bist gerade erst eine Frau geworden. Gestern warst du noch ein Mädchen.“
„John ist weg.“
......
„Hast du es gewusst?“
......
„Du hast mich betrogen.“
„Er wird zurück kommen wegen des Kindes und deinetwegen; er wäre für immer gegangen.“
„Wohin?“
„John ist ein Bleichgesicht; hast du das vergessen? Er muss reich werden. Er schämt sich. Er muss es dir beweisen, dass er reicher wird als sein Bruder. Er wird nicht ruhen, bis er es ist.“
„Wie alt wird sein Kind sein?“
„So alt wie John.“
„Und ich? Was mache ich?“
„Du wirst aus deinem Sohn ein Bleichgesicht machen.“
„Sohn?“
„Es wird ein Sohn. Eine Tochter will John nicht.“
Sie wollte nicht weinen: sie schluckte und schluckte noch einmal, dann stand sie auf und ging zum Fluss, wo sie einen Klumpen Lehm vom Ufer nahm, den sie zur Hütte schleppte, in eine Ecke donnerte. Dann trampelte sie mit solcher Wut auf dem Klumpen herum, dass er ganz flach wurde und sogar glatt. Ihr Kind sollte sich keine Splitter holen so wie sie gestern Abend. Den ganzen Tag war sie unterwegs, holte Klumpen um Klumpen und trampelte ihre Wut in den Klumpen hinein. Am Abend war von der Wut nichts mehr übrig, von ihrer Kraft aber auch nicht, so dass gerade der Hunger sich melden wollte, als Salatblatt in die Hütte kam, ihre Arme voll von Babysachen, die sie von Sanftes Herz und Süße Kirsche auf gehoben hatte, und getrocknetem Büffelfleisch sowie Maisfladen und Salat. Jetzt weinte Sanddornblüte doch noch.
„Du bist nun Vater und Mutter: heute hast du als Vater gearbeitet, du musst aber auch mal als Mutter für Essen sorgen; bis da hin werde ich dir jeden Tag etwas bringen.“
Sanddornblüte arbeitete noch ein paar Tage als Vater, denn der Vater hatte leider überhaupt nicht daran gedacht, dass ein Baby in die Hütte ein ziehen könnte, nicht einmal, als er ihr seinen Samen in den Bauch spritzte. Nach vier Tagen war der Boden glatt; die Wände so roh wie eh und je. Mit einem rauen, flachen Stein rieb sie die Bohlen so lange, bis alle Splitter weg waren. Zwar waren die Bohlen immer noch grob, aber nicht mehr rau, und der Wind kam durch die Ritzen, das Licht allerdings auch; und auf das Licht wollte sie wirklich nicht verzicht-en, weil Babys Licht brauchen und Menschen auch. Mit Ton die Ritzen zu verkleben, kam also nicht in Frage, aber Harz, das wärs doch. Harz machte dicht und ließ das Licht durch und, wie sie bald fest stellt, gab dem Licht einen Bernsteinton, der es auf wärmte. Außerdem roch die Hütte wie Tannenwald und ein wenig nach Honig. Das brachte sie darauf, dass sie vielleicht doch einmal die Mutter spielen könnte für eine Weile: sie sammelte wilden Honig, wurde dabei mächtig gestochen von den Bienen, die sie als Diebin verstanden, bis ihr ein fiel, dass Sanftes Herz und Süße Kirsche früher mit den Tieren gesprochen hatten, heute allerdings taten sie es nicht mehr. Wieso eigentlich? Sie versuchte, mit den Bienen zu reden. Wie sollte sie sie an sprechen? Liebe Bienen? Solange sie einfach darüber nach dachte, wie sie es anstellen könnte, hielten die Bienen sich still, als ob sie Gedanken lesen könnten. Vielleicht war es ja das? Mit Tieren spricht man überhaupt nicht in einer Sprache, sondern in Gedanken. Gedanken sind wortlos, aber ausdrucksvoll: sie verbreiten sich auf dem Gesicht, auf der ganzen Haut. Bienen mit einander reden auch nicht in Worten; und trotzdem stoßen Bienen nicht zusammen, sehr wohl aber die Menschen. Woher wusste eigentlich ihr Bruder, dass John weg wollte? Hatte John es ihm verraten? Unmöglich! Also muss ihr Bruder es erraten haben: der Häuptling konnte Johns Gedanken lesen, weil er so lange bei den Bleichgesichtern gelebt hatte; das wars. Und sie? Die dumme Gans! Wieso konnte sie es nicht? Gänse schnattern die ganze Zeit; kein Wunder, dass die keine Gedanken lesen konnten: Gedanken brauchen Ruhe. Aber sie? Sie schnatterte doch gar nicht! Oder doch? Kann man schnattern ohne Worte? Was sie da auf einmal für Gedanken hatte? Woher kamen die denn?
Jedenfalls stachen die Bienen nicht mehr. Dass Tiere Wunden lecken, weiß man ja, auch die von Menschen: Wunden gibt es nicht nur in der Haut, sondern auch darunter, wenn ein Knochen gebrochen ist oder ein Herz. Herzen brechen nicht? Nicht wie Knochen, das stimmt, eher wie der Ast eines Baumes, auf dem zu viel Last liegt: er biegt sich immer tiefer, tiefer, bis die Fasern zu sehr gedehnt werden, so dass zunächst nur eine reißt, die aber dann das ganze Gewicht, das sie gerade noch gehalten an die nächste weiter gibt, die nun doppelt so viel tragen muss, was sie natürlich nicht kann, denn sie war auch bis aufs Äußerste gespannt, sodass auch sie reißt; und so geht es immer weiter. Es ist kein Bruch, eher ein Reißen, weswegen manche Leute sagen, dass es einem das Herz zerreißt, wenn man zu viel Schmerz ertragen muss. Bei Sanddornblüte allerdings hatte sich der Schmerz in den hintersten Winkel des Herzens verkrochen und machte sich so klein wie nur irgend möglich, da er die Freude auf das Kind nicht stören wollte.
Milch? Ja klar: sie brauchte eine Ziege, eine Ziege ganz allein für sich und das Baby; also sollte die Ziege einen Garten haben; ja klar: einen Garten brauchte sie für ihr Essen und ein paar Hühner, ein Schaf für die Wolle, weil Wolle viel, viel weicher ist als ein Büffelfell. Du liebes Bisschen: sie hatte ja an gar nichts gedacht! Jetzt wurde es aber Zeit, denn der Bauch fing schon an zu wachsen.
Die Leute im Dorf wussten schon längst, dass John ab gehauen war. Die Männer schimpften im Tabakqualm: wenn ich den erwische, dreh ich ihm den Hals um; ich, ich würde ihn von hinten auf der Flucht erschießen, auf der Flucht erschießen, ja wohl; nein, auf hängen, sag ich, den Geiern lebendig zum Fraß, ja, das ist es. Sie überboten sich in Grausamkeit; und diejenigen, die schon das Eine oder Andere, heimlich natürlich, an gestellt hatten, waren die lautesten und grausamsten, als ob sie damit ihre eigene Gemeinheit aus löschen könnten. Die Frauen sagten sich nur: was hätte Sanddornblüte davon? und gingen einzeln, wenn es dunkel wurde, zu ihrer Hütte, irgend etwas in ihren Kleidern versteckt: ein paar Eier, ein Küken, Maiskolben, Mehl, Fleisch, Fisch und sogar ein Zicklein, das natürlich nicht unter die Kleider passte und ständig mähmähte, so dass sowieso jeder hören konnte, was da vor sich ging. Komischerweise ließen die lauten Männer ihre Frauen heimlich gewähren und taten so, als hätten sie nichts bemerkt und das
Mähmäh des Zickleins nicht gehört. Ausgerechnet Indianer, die das Knacken eines Zweiges ein paar Hundert Meter weit hören!
Nicht alle Maulhelden haben Frauen, und manche Frauen sind Biester. Der Adlermensch hatte keine Frau, und Allmacht war zu einem Biest geworden, bloß weil der Adlermensch sie absolut nicht mehr heiraten wollte, seit er Sorenndochnichtso umsonst in die Falle gelockt hatte, die ihm zuerst nach gerannt war, um ihm einen Korb zu geben, als er unbedingt sie zur Heirat zwingen wollte. Allmacht hasste Sorenndochnichtso mindestens so viel wie den Adlermenschen, den sie eigentlich nur hasste, weil er sie nicht mehr wollte; käme er voller Reue zu ihr, wäre sie natürlich überglücklich. Und da der Adlermensch Sorenndochnichtso erst recht hasste, weil kein Mädchen es je gewagt hätte, dem Adlermenschen einen Korb zu geben, war Sorenndochnichtso in Gefahr, weswegen der Attikamekhäuptling gut auf sie auf passte.
Wenn man seine Rache nicht an der Person aus toben kann, die einen verletzt hat, und sei es nur in seinem Stolz, was viel schlimmer ist für Maulhelden, dann sucht man eben eine andere.
Ein Adlermensch ist natürlich etwas Besonderes: er ist Mensch, aber eben auch Adler, jedenfalls sieht er so aus. Da der Adler die Wünsche der Menschen zum Himmel trägt, ist der Adlermensch derjenige, der die Wünsche der Menschen kennen muss, um diese dem Adler mit zu teilen, dem normale Menschen nun einmal nicht begegnen. Also braucht der Adlermensch eine Flüster-höhle, in der die Menschen ihre Wünsche flüstern können, dem Adler, wie sie meinen, denn sie wissen natürlich nicht, dass am Ende der Höhle ein versteckter Kamin sich befindet, der das Flüstern zwar nicht in den Himmel trägt, aber zu einer höher gelegenen Höhle, in der niemand anders sitzt als der Adlermensch. Damit dieser nicht Tag und Nacht in dieser Höhle warten muss, bis jemand flüstert, hat er verkündet, dass nur jeweils am Vorabend eines Festtages zur Vesper der Adler die Flüster der Menschen entgegen nehmen kann, da er ja einen weiten Weg zum Himmel habe und sich von dieser Strapaze erholen müsse eine ganze Woche.
Was nützen einem Adlermenschen allerdings die Wünsche der Menschen? Damit kann er sie zwar in die Höhle locken, aber er kann mit den Wünschen nichts anfangen, da er sie ohnehin nicht erfüllen kann. Wenn er aber die Menschen dazu bringen könnte, ihre Fehler, ihre kleinen oder großen Missetaten zu flüstern, ja dann ... Da könnte er sie doch einmal ganz schön am Schlawittchen packen: sie würden Angst vor ihm kriegen, und ... ja, wer weiß, vielleicht würde diese verdammte Sorenndoch-nichtso dann endlich gefügig. Mit Wünschen kamen sie ja immerhin zur Höhle; wie könnte er sie dazu bringen, ihre Sünden zu flüstern? Wussten die denn überhaupt, was Sünden sind? Natürlich nicht. Also musste er ihnen Angst machen: etwas Schreckliches musste passieren; dann würden sie zum Medizinmann gehen oder zu ihm kommen, um zu erfahren, was sie tun könnten, um dem Unheil zu entfliehen. Und er würde ihnen sagen: ein Sünder ist mitten unter uns und reißt uns alle ins Verderben. Wer etwas auf der Seele hat, komme zur Flüsterhöhle, denn der Adler trägt auch die Sünden in den Himmel, wo sie mit himmlischem Wasser gewaschen werden. Er brauchte nur noch den Medizinmann ein zu weihen, der für jeden Hokuspokus zu haben war.
Allmacht hatte sich sowieso schon lange Sanddornblüte als Feindin erkoren auch eine Siouxsioux. Und der Adlermensch wusste das, da er ja die Wünsche der Menschen genau kannte, nicht nur die guten, denn es gibt anscheinend auch böse Wünsche, die für Adlermenschen genau so schön sind wie Sünden.
Wo bitteschön bleiben eigentlich Sanftes Herz und Süße Kirsche? Die Wahrheit ist: sie schämten sich, weil sie nicht mehr mit den Tieren sprechen konnten.
Die Attikameks waren natürlich auch Fallensteller, ohne dass die Beiden das zunächst bemerkten. Ein Fallen-steller zieht nicht mit einer Trommel los, und die Fallen sind, wie man weiß, gut versteckt. Man isst keine Biber, Hermelins oder Füchse: also gab es auch da genug Geier. Mit Geiern hatten sie auch zu Hause nicht gesprochen, denn Geier sehen nicht aus, als ob sie dich trösten wollten, eher als ob sie nur darauf warteten, dass du dich nicht mehr wehren kannst, dass du zu schwach wirst, um dich an zu greifen. Geier gehören zu den Greifvögeln genau wie Adler. Dass ausgerechnet Adler die Wünsche der Menschen zum Himmel trügen: wer sich solch einen Schwachsinn aus gedacht hat, muss entweder bekloppt sein oder ein Gauner.
Die Tiere hielten Sanftes Herz und Süße Kirsche für Attikameks: sie blieben ihnen fern. Wenn sie sie von weitem sahen, warnten sie einander und verschwanden. Die Tiere waren auf der Hut. Immerhin blieben die Fallen so die meiste Zeit leer. Und das war der Grund dafür, dass der Adler-mensch so giftig war, denn er war der Handels-vertreter der Assiniboine. Die Assiniboine waren Indianer, die noch in Tipis lebten wie die Siouxsioux, aber aus anderen Gründen. Sie waren Händler. Sie kauften den Attikameks und anderen Indianern die Felle ab und transportierten sie in riesigen Kanus auf dem Fluss nach Osten, zu den Weißen. Diese Kanus waren wochenlang unterwegs: da waren Tipis besser als Häuser. Die Assiniboine hatten kein Zuhause. Sie waren ewige Wanderer. Warum sie die Siouxsioux nicht Siouxsioux nannten, sondern Feinde, wissen sie wahrscheinlich selber nicht. Aber so war es nun mal: die Siouxsioux waren ihre Feinde. Und nun waren ein paar Siouxsioux ausgerechnet zu den Attikameks gekommen, die ihre Felle an die Assiniboine verkauften, die sie wiederum an die Bleichgesichter in Montréal verkauften; und sie hatten Bleichgesichter mit gebracht, eins war verschwunden! Wohin wohl? Für den Adlermenschen gab es keinen Zweifel: Montréal. Dass John ein Engländer war, und Montréal französisch, interessierte ihn nicht. Der John wollte das Geschäft vermasseln. Wenn es ums Geschäft geht oder um Sorenndochnichtso, kennt ein Adlermensch nur noch Feinde.
Da jedoch die Attikameks die Fremden auf genommen hatten, galt es, einen Keil zwischen diese und die Attikameks zu treiben: wenn es gelänge, den Fremden die Schuld für ein Unheil zu zu weisen, dann hätte er gewonnen. Das Unheil war schon da: die Pelzgesell-schaft in Montreal war immer größer geworden. Sie beherrschte inzwischen den gesamten Fellhandel und nicht nur den: sie verkaufte den Indianer alles, was diese nicht selber machen konnten, zum Beispiel Dinge aus Metall und Feuerwasser. Gewehre waren Dinge aus Metall, und in allen Kriegen zwischen Bleichgesichtern und Indianern schossen die Bleichgesichter mit Gewehren, während die Indianer noch Pfeile ein setzten. Solange die Gewehre lang und schwer waren, waren die schnellen Ponys der Indianer im Vorteil: während die Bleichgesichter noch zielten, waren die Ponys schon weg und die Reiter konnten im vollen Galopp ihre Pfeile auf die starren Bleichgesichter ab schießen. Inzwischen hatten jedoch die Büchsenmacher in England und Frankreich Gewehre gebaut, die viel kürzer waren und leichter. Mit ihnen konnten die Bleichgesichter genauso schnell reiten wie die Indianer und beim Reiten schießen. Also brauchten die Indianer dringend Gewehre. Warum sollten die Engländer und Franzosen den Indianern Gewehre verkaufen? Die wollten doch nur auf Engländer und Franzosen schießen! Eben nicht nur: die schossen auch auf einander. Und außerdem konnte man die Gewehre so teuer machen, dass die Felle damit automatisch billiger wurden, denn die Indianer bezahlten die Gewehre mit Fellen. So verdienten die Engländer, Franzosen und Amerikaner (die gab es ja inzwischen auch) in Montreal und anderswo nicht nur doppelt, sondern vielfach, weil die Indianer ja auch noch Feuerwasser kauften, was vielleicht nicht das Schießen schwer machte, aber das Zielen.
John hatte das verstanden und wollte sich seinen Anteil am Geschäft sichern, das war klar. Eins aber war vollkommen unklar: was hatte John zu bieten, was er nicht
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Harald Hossfeld
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2013
ISBN: 978-3-7309-0822-8
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