Cover

Ein Badeurlaub sollte es ja sein, aber so nass? Es regnete und regnete, ununterbrochen, und so beschlossen die Eltern, vorzeitig aufzubrechen. Weg vom Achensee. Und, wie Papa hoffnungsvoll meinte, dann vielleicht unterwegs in Oberfranken „irgendwo“ einen Zwischenstopp einlegen. Meinem Bruder und mir entging nicht, dass Mama bei diesen Worten heftig zusammenzuckte und Papa unbehaglich ansah.

Die Autofahrt schien kein Ende zu nehmen. Jenseits der deutsch-österreichischen Grenze schlief mein Bruder, und auch ich war eingedöst, da hörte ich meine Eltern leise diskutieren.

„Muss das wirklich sein?“ fragte Mama. Ich stellte mich schlafend.
„Sieh mal,“ meinte Papa, „all die Jahre war ich nicht dort. Sie hat keine Ahnung, was aus mir geworden ist.“
„Aber denkst du denn gar nicht an die Kinder?“ fragte Mama zurück. Die Spannung war spürbar. Papa gab keine Antwort. Zumindest hörte ich keine.

Irgendwann, mein Bruder und ich waren längst wieder wach, meinte Papa, wir wären vielleicht bald da. Er müsse nur noch mal schnell telefonieren.

„Überleg dir genau, was du tust. du ziehst die Kinder da mit hinein!“ warnte Mama ihn.
„Den Kindern wird es dort gefallen.“ erwiderte Papa mit einer ganz müden, leisen Stimme, während er das Auto an den Fahrbahnrand lenkte und direkt vor einer Telefonzelle anhielt. Dort stieg er aus.

Ich blickte mich um. Wir befanden uns in einem kleinen Städtchen. Es war recht hügelig, die Straßen eng, die Häuser sehr alt und reich verziert.

„Mama, ist es hier gefährlich für uns?“ fragte ich mit der ganzen Naivität meiner 8 Jahre.
„Wieso?“ wollte Mama wissen.
„Na, weil du doch zu Papa gesagt hast, er würde die Kinder hier in etwas hinein ziehen.“
Ein strenger Blick: „Kinder haben nicht zu lauschen, wenn Erwachsene sich unterhalten.“

Gerade kam Papa zurück. Der Papa, der eben noch so müde und leise schien, so gebeugt. Nun kam er an, erhobenen Hauptes, mit festem Schritt, riss die Autotür auf und rief freudig hinein: „Sie lebt noch! Sie erwartet uns, ja, sie freut sich auf uns. Wir sollen alle kommen. Sie hat auch Zimmer für uns frei.“

Das klang richtig überschwänglich. So kannte ich meinen Papa gar nicht.

„Du musst ja wissen, was du tust,“ war Mamas einzige Antwort darauf.

Während wir weiterfuhren hielt Papa leise Selbstgespräche. „Die nächste Straße rechts, nein, die Übernächste. Ach, da ist ja die Kirche, dann muss es - Moment mal, richtig - hier müssen wir rein und dann da drüben..., genau, jetzt erinnere ich mich.“

Es schien fast, dass Papa schon einmal hier gewesen ist. Aber davon hatte ich ja noch nie etwas gehört?

Schließlich hielten wir an in einer engen Gasse vor einem imposanten alten Gasthaus. Über der breiten hölzernen Flügeltür hing das Namensschild, reich verziert und bunt bemalt.

Papa sagte: „Kinder, wir sind da. Alles aussteigen!“ -
Das ließen wir uns nicht zwei Mal sagen. Wir sprangen aus dem Auto. Ja, selbst Papa sprang. Nur Mama stieg langsam aus.

Im gleichen Moment ging oben die Flügeltür des Gasthofes auf und auf der Treppe erschien eine ältere kleine, stämmige Frau im rot gestreiften Kittel, vollen rosigen Pausbäckchen in einem strahlenden Gesicht mit lachenden weinenden Augen. Die Arme weit ausgebreitet, so eilte sie die Stufen herab auf meinen Vater zu, während die Tränen über ihr Gesicht liefen, umarmte ihn, küsste ihn und rief immer wieder in einem merkwürdig singenden Dialekt: „Herbert, mein Herbert. Das kann doch nicht wahr sein. Bub, du bist es wirklich. Nein, welch eine Freude!“ Und Papa, der doch immer so reserviert war, stand da mit einem seligen Lächeln im Gesicht, ließ sich die Umarmungen und Küsse nicht nur gefallen, sondern machte selbst mit, umarmte diese Frau und küsste sie auch, während Mama, Hucky und ich abwartend daneben standen.

Das alles war wirklich merkwürdig. Ich hatte keine Ahnung, was hier los war. Wer war diese Frau? Und wenn der Papa sie so gut kannte, warum haben wir dann noch nie von ihr gehört?

Ach, ich Ahnungslose. Jahre später erst erfuhr ich, was es mit dieser seltsamen Begegnung auf sich hatte, und mit dieser Frau, dieser Unbekannten, die mein Bruder und ich sehr schnell mochten und bei der wir damals ein paar sehr schöne Tage verlebt hatten.

Trotzdem waren wir nie wieder dort, haben nie wieder etwas von ihr gehört. Sie ist jetzt sicher längst schon tot. Ich kann mich nicht bedanken bei ihr, dieser Heldin.

Denn genau das war sie, eine Heldin, wenn das auch kaum jemand bemerkt hatte. Sie hat in schlimmer Zeit über mehrere Jahre hinweg einen Judenjungen bei sich versteckt gehalten und vor dem sicheren Tode gerettet. Meinen Vater.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
All denen gewidmet, denen im Wald der Gerechten ein Baum gepflanzt wurde, und all denen, die das auch verdient hätten, aber niemand hat von ihnen berichtet.

Nächste Seite
Seite 1 /