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Annika ist die Böse von uns beiden. Wir waren unzer- trennlich, wie es sich für Zwillinge gehört.

Ich heiße Jenny. Ich werde immer gelobt, aber wenn irgendwo irgendwer etwas ausgefressen hat, ist es Annika gewesen. Und dann ist Annika in dem Teich im Garten ertrunken, einfach so hineingefallen. Vielleicht hat sie auch jemand gestoßen. Es gibt böse Menschen, die so etwas Schlimmes tun. Aber nicht ich. Denn ich bin ja die Gute, die immer gelobt wird. Ich bin Jenny. Annika war die Böse. Vielleicht ist es gut, dass sie nun tot ist. Wer weiß, was sie noch alles angestellt hätte.

Mein Zimmer hat weiche, weiße Wände. Das Fenster ist vergittert, die Tür zugeschlossen. Eingezogen bin ich hier gleich nach Annikas Tod. Ich bin damals zu den Eltern gegangen und habe ihnen davon berichtet, dass Annika im Gartenteich ertrunken ist. Sie waren natürlich entsetzt. Aber ich konnte ja nichts dafür. Das habe ich ihnen auch gesagt. Sie haben aber irgendwie nicht gehört. Sie haben mir auch nicht geglaubt, dass ich Jenny bin und nicht Annika. Sollten Eltern ihre Kinder nicht erkennen können?

Es hat einen ziemlichen Aufstand gegeben. Und dann kam Dr. Klamm, der Jenny und mich schon gesund machte, seit wir ganz kleine Kinder waren. Der war eigentlich sehr nett. Ich musste ihm alles noch einmal erzählen, wie wir Fangen gespielt haben am Teich, und wie Annika ganz dicht bei mir abge- rutscht ist und ins Wasser stürzte, und meine Hände waren eigentlich nur da, um sie aufzuhalten, nicht um sie zu stoßen.

Er hörte sich das alles geduldig an. Dann tätschelte er mich am Arm, sagte „Es kommt alles wieder in Ordnung“, und ging dann raus mit den Eltern sprechen. Und dann kam der Wagen und holte mich ab.

Ich kam hierher. Ich weiß aber nicht, warum ich hier bin. Jeden Tag werde ich zu einem Gespräch geholt. Der Mann ist nett zu mir. Er fragt immer das Gleiche. Es geht darum, wie Annika gestorben ist. Dabei meint er aber, ich wäre Annika. Das müssen ihm die Eltern eingeredet haben. Ich weiß es natürlich besser. Aber wenn ich mich zu sehr aufrege, kommen sie und stechen mich mit Nadeln. Und dann schlafe ich ein und wache in meinem Zimmer wieder auf und warte dort, bis sie mich wieder holen zum Gespräch.

Ich weiß, dass ich Jenny bin.
„Es gibt gar keine Jenny,“ behauptet der Mann.
„Doch“, sage ich, „ich bin Jenny.“
„Du bist Annika.“
„Aber Annika ist doch ertrunken im Gartenteich!“
„Es ist niemand im Gartenteich ertrunken.“
„Doch“, trumpfe ich auf, „Annika ist im Gartenteich ertrunken. Sie hat sogar noch etwas gerufen!“

Das ist doch der Beweis, oder?

„Was hat sie denn gerufen,“ fragte der Mann?
„Sie rief Hilf mir...“, ich verstummte.
„Was ist los,“ fragte der Mann,
„was hat sie gerufen?“


Ich bin verwirrt. Soll ich ihm das sagen? Da muss ich selbst erst genauer drüber nachdenken. Der Mann sagt, es gibt keine Jenny und ich wäre Annika.

Soll ich ihm wirklich sagen, dass Annika gerufen hat:
„Hilf mir, Annika!“?

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Texte: Alle Rechte beim Verfasser
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2011

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