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Wieder einmal ging es nach Helgoland. Wieder einmal, sage ich, denn das kommt häufiger mal vor. Wenn die Eltern auf Helgoland wohnten, wenn der Sohn gerade die Großeltern auf Helgoland besuchte, wenn man selbst auch mal dort gewohnt hat und aus der Zeit noch Freundschaften bestehen, dann ist klar, dass es immer wieder einmal nach Helgoland geht. Daran kann auch die immer wieder zuverlässig sich einstellende Seekrankheit nichts ändern.

Freunde von früher, aus Inselzeiten, wissen es schon. Wenn Astrid sich aufs Schiff begibt, dann braucht es noch nicht einmal stürmisch zu sein. Und Mark, der Lieblings- sohn, verbirgt jegliches in ihm aufkeimende Mitgefühl für seine Mutter sorgsam hinter dem ver-gnügten Liedvers: „Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön, denn da kann man meine Mutter in die Tüte kotzen sehen...“.

Wie schlau von ihm. So hält ihn wenigstens keiner für ein Weichei. Ja, es scheint wirklich so, daß jeder der mich kennt auch um diese spezielle Schwäche weiß. Und doch fand sich einer, der das nicht glauben konnte.

Am Samstagmorgen war es. Wir hatten uns gerade erst nach dem Aufstehen getroffen, da stellte er die schicksals- schwere Frage, wann denn das Schiff nach Helgoland fahren würde. Helgoland, erwiderte ich, hier von Bremer- haven aus um 9:00 oder 9:15 Uhr. Fein, meinte er, das könnten wir doch gerade noch schaffen. Und frühstücken könne man auch an Bord.

Ich schluckte schwer und hoffte sehr, dass er das nicht bemerkt hat. Ich wusste ja was kommen würde. Vorsichtig versuchte ich ihn darauf vorzubereiten, versuchte ihm zu vermitteln, ich würde aber immer seekrank werden. Ein ungläubiger Blick, ein „Du? Du doch nicht?“, Kopfschütteln ob der Tatsache, dass das Wetter gut, die See ruhig war und ich trotzdem in dem Glauben beharrte, ich würde aber seekrank werden.

Nun, vielleicht meinte er, mich gut zu kennen. Ich aber kenne mich besser. Aber da meine Eltern auf Helgoland wohnten, da mein Sohn zur Zeit gerade dort verweilte, da die Sonne schien und das Schiff noch rechtzeitig erreichbar war, da es irgendwie in einer Art Gefühlsduselei auch mich allen Widrigkeiten zum Trotz immer wieder nach Helgoland zog, stimmte ich wider besseres Wissen zu. Und so brachen wir dann auf unserem Schicksal entgegen.

Er war wirklich fürsorglich, während ich mich bemühte, meine gemischten Gefühle nicht zu zeigen. Er brachte Kaffee, beugte sich mit mir über ein Schachproblem in der Zeitung, erklärte geduldig und lachte auch nicht, wenn ich wieder einmal eine widersinnige Lösung vorschlug. Und zuerst ging ja auch noch alles ganz glatt. Das Schiff suchte sich seinen Weg in der Fahrrinne zwischen den Sandbän- ken, an dem Platz auf dem Hinterdeck gab es genügend frische Luft. Halbwegs begann ich zu hoffen, dass diese Fahrt ohne die obligatorische Seekrankheit ablaufen würde.

Als die erste noch sanfte Schaukelei losging und die ersten Leute um uns herum die Gesichtsfarbe wechselten, kostete es schon ein wenig mehr Mühe sich einzureden, es wäre alles in Ordnung, es ginge mir gut. Denn ein bisschen schwindlig wurde mir schon, ein bisschen flau auch das Gefühl im Magen. Aber ich wollte nicht, dass er das bemerkt.

Es dauerte eine Weile bis wir die Sände hinter uns gelassen hatten und nun die Fahrt auf dem offenen Meer fortsetzten. Sehen konnte man das nicht. Vorher schon war man von Wasser umgeben fast soweit das Auge reichte. Jetzt sah die Sache auch nicht wesentlich anders aus. Aber sie fühlte sich anders an, oh ja! Und nicht nur ich merkte das.

Einer der kleinen Jungen von der Frau gegenüber begann zu jammern, ihm wäre übel. Einige um uns herum fragten nach den obligatorischen Tüten. Nicht laut. aber leise fragte ich mich auch, warum denn der Service auf diesem Schiff so schlecht sei. Ich hätte auch gerne eine Tüte, allein schon wegen der beruhigenden Wirkung...

Als er

von seinem kurz zuvor begonnenen Rundgang zurückkam war er begeistert. Es gäbe doch einen Weg, ganz nach vorne in das Schiff zu kommen. Ob ich mitkäme? Ich schluckte die Übelkeit so gut es ging hinunter und nickte. Weit waren wir noch nicht gekommen, als er nach einem prüfenden Seitenblick fragte, ob mir etwa übel sei? Ich nickte kraftlos. Übel? Gar kein Ausdruck. Ich kämpfte ständig den Mageninhalt wieder hinunter, mir stand der Schweiß auf der Stirn und meine Beine nahmen so eine Art Gummikonsistenz an. Während ich mich hinter ihm her zum Vorderdeck durchwühlte hatte ich eigentlich nur den einen Wunsch, eine stille Ecke zu finden, in die ich mich legen konnte, und dann die Augen schließen und, wenn auch nicht gleich sterben, so doch nach Möglichkeit wenigstens schlafen.

Die Luft war hervorragend vorne auf Deck. Die Schaukelei auch. Nirgends sonst ging das Schiff mit jeder Welle höher hinaus und tiefer wieder hinab, und mit jedem Eintauchen des Vorderstevens in die See brach eine Welle über die Menschen vorne herein und durchnässte sie, brachte die Kinder zum Juchzen und die Erwachsenen zum Schimpfen. Dankbar genoss ich die Abkühlungen, viel zu erschöpft um irgend etwas entgegenzusetzen.

Ihm war mittlerweile aufgefallen, dass es mir wirklich schlecht ging. Mein Magen revoltierte. Immer noch hatte ich keine Tüte. Mit aller Gewalt hielt ich mich an der Reling fest und wünschte das Ende herbei. Er hielt mich dabei fest und bemühte sich redlich, mir einen Atemrhythmus beizubringen, einatmen wenn es aufwärts geht, ausatmen nachdem die maximale Höhe erreicht war, und er half selbst mit, atmend, Anweisungen gebend, stützend.



Ich bemühte mich sehr, den Rhythmus des Schiffes zu finden, aber wann immer ich es annähernd geschafft hatte, kam das Schiff selbst aus dem Gleichgewicht und änderte die Bewegungen. Letztlich gelang es mir gerade noch, mich über die Reling zu hängen, so plötzlich sprang mir der Mageninhalt aus dem Gesicht. Daran dass man natürlich so etwas nicht gegen den Wind machte, konnte ich so schnell nicht mehr denken. So kam, was ich endlich los zu sein glaubte, zu mir zurück, klebte in meinem Gesicht, auf meiner Jacke und dem T-Shirt, und, das Schlimmste von allem, auf seiner ehemals weißen Hose. Mir war das entsetzlich peinlich, aber er verlor nicht ein Wort darüber.

Meine Knie waren mittlerweile so wackelig, dass ich an eine Fortsetzung der bis dahin noch nicht wirkenden Atemtechnik nicht denken mochte, sondern mich nur noch hinsetzen wollte. Fürsorglich rückte er einen Stuhl zurecht und ich ließ mich darauf fallen. Ob er eine Tüte holen sollte? Na klar doch! Den Moment lang kam ich notgedrun- gen ohne ihn zurecht, musste ich auf früheren Fahrten ja auch irgendwie.

Er

brachte in weiser Voraussicht sogar zwei Tüten, half mir dabei, nicht vom Stuhl zu kippen bei der Benutzung derselben, sprach mir Mut zu, hielt mit mir die immer wieder über uns hereinbrechenden Seewassergüsse aus, die erfrischend und reinigend waren, uns nicht nur völlig durchnässten sondern auch wieder ein Gefühl von Sauberkeit verliehen, und legte den Arm um meine Schultern. Er ließ zu, daß ich mich mit dem Kopf an ihn lehnte und hielt mich einfach nur fest.

Wenn ich jetzt an diese Fahrt zurückdenke, so war wohl dieses das einschneidende Erlebnis. Seekrank werde ich immer noch jedes Mal. Und jedes Mal weiß ich auch, daß dieses allem Spott zum Trotz ein wirklich beängstigender und elender Zustand ist. Aber dieses Mal war dort niemand, der mich auslachte, der Spottverse sang oder sonst etwas, was mir zugegebenermaßen aufgrund meines Zustandes sonst immer irgendwie egal war.

Als ich dieses Mal dort saß, zitternd und elend, gefangen in Übelkeit und eben auch Scham, da war gleichzeitig dieses tiefe Glücksgefühl , was letztlich in meiner Erinnerung überwog: Dass da einer war, der mit mir aushielt, der sich nicht abstoßen ließ, keine Sprüche machte. Einer, der den Arm um mich legte und mich stützte, einer, an den ich mich anlehnen durfte. Und plötzlich war alles andere gar nicht mehr so wichtig.

Ja, ich war glücklich, inmitten meiner Seekrankheit war ich glücklich wie seit vielen Jahren nicht mehr.


Impressum

Texte: Alle Rechte beim Verfasser
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für IHN und für alle meine Freunde auf der Insel Helgoland

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