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Es war die schlimmste Nacht ihres Leben. Jedenfalls fand sich auch in späteren Jahren keine, die es annähernd mit dieser aufnehmen konnte.

Annika war 13, ein mürrischer, schlecht gelaunter Teenager ohne Freude am Leben und fast ohne Beziehun- gen. Jedenfalls bis zu dieser Nacht fast ohne. Danach, das lässt sich ohne weiteres sagen, gab es gar keinen mehr, dem sie trauen konnte. Auch nicht der Mutter, die so abweisend war und Annika immer wieder vorwarf, böse zu gucken. Dabei bemühte sich Annika doch eigentlich immer nur darum, ihre Maske aufzubehalten, denn wenn jemand, wenn Mutter merkte, wie es wirklich in ihr aussah, brachte das doch nur Ärger. Auch dem Vater traute sie nicht, der selbst so schwach war und meist nur nachplapperte, was die Mutter sagte. Wenn Mutter böse auf Annika war, und das war sie fast immer, dann war es der Vater auch, ohne die Gründe zu hinterfragen. Nein, es gab fast keinen bis zu dieser Nacht.

Schon eine ganze Weile wurde Annika geplagt von dem schlimmsten aller Alpträume. Jede Nacht wachte sie schweißgebadet auf, schwer atmend, gefangen in dem Horror ihres Traumes, bemüht zurückzufinden zur Wirklich- keit. Und wenn sie es dann geschafft hatte, wenn ihr dann bewusst war, es war alles nur ein böser Traum, dann packte sie noch im Nachhinein der Horror darüber, daß alles so real schien, so real und so hoffnungslos.

Es war immer derselbe Traum. Sie ging über einen Friedhof und las die Namen auf den Grabsteinen. Dabei bekam sie vor Angst vor jedem Grabstein kaum Luft, bis sie den Namen gelesen hatte, der ihr nichts sagte. Mit jedem Stein steigerte sich das Grauen und erreichte den Höhepunkt an jenem dunklen Marmorstein, den sie erst erreichte, als die Inschrift wegen der Abenddämmerung fast nicht mehr zu lesen war. Fast. Aber eben nicht ganz. Und hier nun war es, dass ihr ganzes Leben in die Brüche ging, hier nun stand der Name von dem, dessen Tod die größtmögliche Katastro- phe für sie bedeutete. Und jede Nacht, nach bösem Erwachen, abgrundtiefer Erleichterung darüber, dass es nur ein Traum war, jede Nacht wieder heulte sie vor Entsetzen, vor Erschöpfung und vor Angst, daß dieser schreckliche Traum Wirklichkeit werden könnte.

Es war eine Woche vor der Nacht, die Annikas Leben noch mehr verfinsterte, ihm den letzten Sinn raubte. Annika saß im Auto neben der Mutter, nahm allen Mut zusammen und sagte so lässig wie möglich, sie hätte etwas Schlimmes geträumt. Was das wäre, wollte Mutter kurz angebunden wissen. Nach tiefem Luftholen erwiderte Annika, sie hätte immer und immer wieder geträumt, sie stünde an Onkel Lamberts Grab, und es wäre so entsetzlich real gewesen.

Mutters Mine verfinsterte sich. Onkel Lambert, natürlich, immer Onkel Lambert. Es schien sonst niemanden zu geben, an den Annika sich hängte, als ausgerechnet diesen Schwager, diesen älteren Bruder ihres Mannes, der Annika immer in Schutz nahm, der es als einziger schaffte, dass sich Annikas Gesicht mal entspannte, dass auch mal ein Lachen von ihr zu hören war.

Annika wartete atemlos auf die Antwort. Ihr war der aufkommende Ärger bei der Mutter nicht entgangen. Scharf sog Mutter die Luft ein und presste dann zwischen zusammengebissenen Zähnen mühsam hervor, es wäre alles in Ordnung, dann würde Onkel Lambert noch lange leben. Totgesagte leben länger. Annika schaute Mutter ängstlich von der Seite an. War das alles? Offensichtlich. Sie wagte nicht, noch einmal zu fragen.

Spät am Abend dann kam der Anruf von der Tante, dass Onkel Lambert zusammengebrochen sei, dass er im Krankenhaus auf der Intensivstation liegen würde mit inneren Blutungen. Das war nichts Neues, das kam immer mal wieder vor. Von den Tritten, die er als Jugendlicher im KZ erhalten hatte, pflegte Oma zu sagen.

Annika hatte furchtbare Angst um den Onkel. Aber Mutter hatte Annikas Bekenntnis im Auto offensichtlich verges- sen, vielleicht wollte sie auch nur nicht daran denken. Und so verging eine weitere Woche mit schlimmeren Alpträu- men, und so kam schließlich die Nacht heran, die zur schlimmsten Nacht in Annikas ganzem Leben werden würde.

Es dämmerte. Schritt für Schritt ging Annika vorwärts. Mit Furcht und nur sehr mühsam richtete sie ihre Augen auf die Grabsteine am Weg. Jedes Mal ließ dieses unheilvolle Grauen sie schwerer atmen. Jedesmal musste sie mehr kämpfen darum sich Gewissheit zu verschaffen, dass der geliebte Name nicht auf dem Grabstein stand. Jedesmal wurde es schwerer, die Inschrift zu entziffern. Ihre Beine zitterten, ja, immer mehr bebte der ganze Körper während nackter Horror sich in ihr breit machte. Nach jedem Stein neue Erleichterung, die aber nicht lange währte, denn es waren noch weitere Steine am Weg.

Immer neu der Aufbruch, immer neu der Zwang, gegen die aufkommende Schwäche anzukämpfen und auf den nächsten Stein zuzugehen. Immer schwerer, die Füße vom Boden zu heben, die Übelkeit herunter zu schlucken. Immer mehr raste das Herz, bis schließlich nur noch einer übrig war, ein dunkler Marmorstein, finster aufragend in die anbrechende Nacht, die Inschrift in der Dunkelheit fast nicht mehr zu lesen.

Annika wollte fliehen, sich umdrehen, nur weg hier, aber etwas zwang sie, auf die schon fast im Finstern verborge- nen Buchstaben zu blicken und sie mühte sich ab, die zu entziffern, doch das Geheul im Hintergrund, lautes mehrstimmiges Schluchzen, dieses mühsame „Nein, nein“, es hallte in ihrem Kopf, es vermischte sich mit dem Hämmern ihres Blutes und dem in dem Bemühen, Luft zu holen, schwer rasselnden Atem - sie konnte die Buchstab- en nicht lesen, fiel nun vor dem Stein auf die Knie, tastete mühsam mit den Fingern darauf herum, hörte das Heulen, erstickte fast, drehte sich in blindem Horror um und - fiel aus dem Bett.

Vergangen der Traum, Annika noch atemlos vor Entsetzen und erleichtert in dem langsam aufkommenden Begreifen, daß es nur ein Traum war. Schwerer als sonst fand sie zurück in die Wirklichkeit. Das Weinen hielt an, das Schluchzen, das heulende „Nein, nein...“ und sie bemühte sich vergeblich und in Panik, es abzustreifen. Es war doch nur ein Traum, bitte, es ist ein Traum....

Doch das Weinen blieb und nun wurde auch das Würgen in ihr zur Wirklichkeit und sie schluckte mühsam. Der Horror, der sie jetzt packte, war Wirklichkeit. Wirklichkeit. Keine Möglichkeit mehr zur Flucht. Etwas zwang sie aufzustehen, sie hörte das Weinen, das Schluchzen, und sie realisierte, die Laute kamen aus dem Nebenzimmer, dreifaches Geheul, fassungslos, ihre Beine gaben unter ihr nach, sie tastete sich am Schrank entlang ohne Licht anzumachen, denn sie wollte die Buchstaben nicht sehen, nicht entziffern können, sie wolllte nicht, ach, das war ja der Traum. War es der Traum? Aber was war die Wirklichkeit?

Da waren im Nebenzimmer die Eltern, die Mutter hielt den großen Bruder im Arm, der weinte, weinte, und nicht aufhören konnte. Der Vater stand abseits, hielt sich den Kopf, schüttelte ihn immer wieder und heulte „Nein, Nein“ wie ein Kind, das nicht begriff, daß seine Welt in Trüm- mern lag, ja selbst die Mutter schluchzte leise vor sich hin.

Annika schluckte die Übelkeit hinunter, blickte auf ihre Familie, die da weinend in diesem Zimmer war und sie irgendwie vergessen hatte, und fragte in die allgemeine Trauer hinein mit tonloser Stimme, die den mühsam zusammengeschaufelten Mut nicht widerspiegelte, was denn los sei.

Erstarren. Dann schluchzten Mutter und Bruder weiter, lediglich der Vater kam auf sie zu und legte den Arm um sie und weinte wieder laut auf wie eine gequälte Kreatur, und stieß die Worte hervor, vor denen Annika sich mehr fürchtete als vor allem anderen in der Welt: „Onkel Lambert ist eingeschlafen!“

Jetzt, unfähig diese schreckliche Nachricht zu erfassen, in wilder Hoffnung, in verzweifeltem Festhalten an der Wirklichkeit des Vortages fragte Annika plötzlich ganz ruhig geworden, warum denn dann alle so weinen müssten? Es wäre doch gut, wenn er eingeschlafen sei? Er würde doch gesund werden, er würde Ruhe finden und sich erholen und wach werden und alles wäre wieder gut? Es wäre doch alles wieder gut, oder? Es kann doch nicht anders sein, kann es doch nicht, oder?

Sie taumelte, nahm die entsetzten Blicke nicht wahr, die die Eltern sich zuwarfen, hörte noch einmal, wie ihr Vater, jetzt ganz sanft und ruhig für sie wiederholte: „Onkel Lambert ist eingeschlafen. Onkel Lambert schläft. Er wacht nicht mehr auf. Onkel Lambert ist eingeschlafen, für immer.“

Und sie hörte es. Und sie begriff es nicht. Oder begriff sie es doch? Eiskalt stieg etwas in ihr hoch, griff ihr an die Kehle, würgte sie, tötete sie. Onkel Lambert ist eingeschla- fen. Eingeschlafen.



Die Buchstaben formierten sich, wurden zu einer Aufschrift auf grauem Marmor, hochaufragend der Stein in finsterer Nacht, bildeten den Namen.

Sie begriff es nun. Und sie sackte langsam zu Boden.



Impressum

Texte: © Astrid Borower Alle Rechte beim Verfasser Fotos aus Privatbesitz
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinem Onkel Leonhard - unvergessen -

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