Was zuvor geschah:
Nach mehrmaligem Klingeln nahm sie endlich ab.
„Anna“, sagte ich zu meiner besten Freundin, „ich muss dir unbedingt etwas erzählen!“
„Schieß los“, meinte Anna, „ich bin ganz Ohr.“
Und ich erzählte Anna von dem Gespräch, das mein Therapeut mit meiner Mutter geführt hatte...
Nervös saß die Mutter im Wartezimmer. Sie wusste, es würde sich um ein Gespräch mit dem Psychotherapeuten ihrer Tochter handeln. Psychotherapeut – sie selbst hatte so etwas ja nie nötig gehabt. Aber die jungen Leute sind eben anders.
Ob das Kind die Probleme, die sie hat, ihrer Mutter anlastet? Würde sie das heute erfahren? Wie kann man sich nur auf so ein Gespräch vorbereiten? Aber wenn es dem Kind helfen würde, wird sie eben mit dem Therapeuten ein Gespräch führen. So etwas abzulehnen, das tut man einfach nicht.
Endlich streckte ein Mann den Kopf in das Wartezimmer hinein und sagte: „Frau Fricke, kommen Sie?“ – „Ja, Herr Doktor“, erwiderte sie und folgte dem Mann ein einen kleinen Raum mit Schreibtisch, mehreren Stühlen und einem sehr bequem aussehenden Sessel. „Setzen Sie sich,“ forderte er sie auf und deutete auf die verschiedenen Sitzmöglichkeiten. Nach kurzem Zögern entschied sie sich für einen Stuhl. Sie würde sich nicht so hinsetzen, dass sie niedriger saß als der Therapeut. Sie war ja hier nicht in Therapie. Den angebotenen Kaffee lehnte sie ab, und dann setzte der Mann sich ihr schräg gegenüber auf den Schreibtischstuhl und wandte sich ihr zu.
„Ich habe Sie nach Absprache mit Ihrer Tochter zu diesem Gespräch gebeten...“
„Ja,“ unterbrach sie ihn, „und ich bin natürlich sofort dazu bereit gewesen, denn das Wohl meiner einzigen Tochter liegt mir sehr am Herzen.“ Sie nickte nachdrücklich.
„Nun,“ nahm er den Faden wieder auf, „Sie wissen natürlich, dass Ihre Tochter einige Probleme zu bewältigen hat?“
„Oh ja,“ erwiderte sie ehe er weiterreden konnte, „und ich wäre Ihnen ja so dankbar, wenn Sie mir erklären könnten, was mit meiner Tochter eigentlich los ist. Wissen Sie, sie war schon als Kind so schwierig, immer diese Widerworte, und für die Schule hat sie auch nichts getan. Und wenn ich sie dann zur Rede stellte, dann sah sie mich immer so an, so abwesend und so.... böse. Ja, sie sah mich richtig böse an und sagte kein Wort, verschwand nur in ihrem Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu und stellte laute Musik an. Ich hab mir ja immer Mühe gegeben, aber sie ließ mich gar nicht an sich heran...“
„Frau Fricke,“ unterbrach er energisch, „wir wollen uns hier über aktuelle Probleme Ihrer Tochter unterhalten. Verstehen Sie?“
„Ja, schon, aber Sie könnten mir doch wirklich mehr darüber sagen, wie es ihr eigentlich geht und was die Ursachen sind. Worüber sprechen Sie in der Therapie? Was sagt meine Tochter?“
„Was wir in der Therapie besprechen, Frau Fricke,“ der Therapeut sah sie eindringlich an, „das unterliegt der Schweigepflicht. Darüber kann und will ich Ihnen nichts sagen. Lassen Sie uns eher dazu zurückkommen, was Sie tun können, um Ihrer Tochter zu helfen.“
„Ich verstehe. Ist in Ordnung,“ stimmte sie zu, „ich will ja auch wissen, wie ich mich ihr gegenüber richtig verhalte.“
„Also gut. Ihre Tochter hat zurzeit einiges zu verarbeiten. Ist Ihnen das bewusst?“
„Natürlich!“, ereiferte sie sich. „Ihr Vater ist gestorben. Ja, denken Sie denn, dass das für mich leichter ist? Ich habe schließlich meinen Mann verloren. Wir hätten nächstes Jahr Silberne Hochzeit gefeiert. Und da ist er das erste Mal in seinem Leben krank und stirbt gleich daran. Kann ich etwa etwas dafür? Aber meine Kinder sehen mich an, als ob ich daran Schuld wäre. Als mein Mann krank wurde...., Papa hier, Papa da, ging es immer nur. Ich war mein Leben lang krank. Glauben Sie ja nicht, dass das irgend jeman- den in dieser Familie interessiert hätte! Und jetzt stehe ich mit allem alleine da, und die Rente reicht nicht hinten und vorne.“
Der Therapeut hatte sich das alles geduldig angehört, aber jetzt unterbrach er sie doch. „Frau Fricke, unsere Zeit ist begrenzt. Lassen Sie uns jetzt wieder auf Ihre Tochter zurück kommen. Sie muss jetzt auch sehen, wie sie ihr Leben weiterführt. Es gibt da ganz spezifische Ängste.“
„Aber sie muss doch keine Angst haben,“ ereiferte sich die Mutter. „Bin ich denn nicht immer für sie da? Wo ich ihr helfen kann, da helfe ich ihr auch!“
„Sehr schön,“ meinte er, „Sie können tatsächlich etwas für Ihre Tochter tun.“
Zufrieden lehnte die Mutter sich zurück. Endlich kamen sie zur Sache.
„Ihre Tochter,“ begann er vorsichtig, muss mit dem Tod ihres Vaters allein fertig werden.“
„Sehen Sie,“ strahlte sie ihn an, „und ich bin jetzt auch allein und meine Wohnung kann ich mir auch nicht mehr leisten, und da dachte ich mir, ich ziehe mit meiner Tochter zusammen, und dann ist uns beiden geholfen.“
„Da haben Sie mich gerade missverstanden,“ probierte der Therapeut einen Einwurf, aber sie fuhr fort: „Nein, nein, Herr Doktor, das habe ich nicht. Wenn meine Tochter und ich zusammen ziehen, sind wir beide nicht mehr alleine und können uns gegenseitig stützen. Sie wissen doch am Besten, dass meine Tochter Hilfe braucht. Die kann ich ihr geben!“
„Nein, können sie nicht,“ sagte er.
„Doch, ich kann,“ behauptete sie.
„Versuchen wir es mal von einer anderen Seite. Lieben Sie Ihre Tochter?“
Grimmig starrte sie ihn an. „Natürlich liebe ich sie, sie ist doch mein Kind. Natürlich liebe ich mein Kind. Das geht doch gar nicht anders.“
„Sind Sie sicher?“
Die Mutter seufzte. „Ja, keine Ahnung, warum Sie mir das nicht glauben wollen. Ich liebe sie. Ich habe meine Tochter immer geliebt, auch wenn das bei ihr offensichtlich nicht so ankam. Jetzt kann ich es beweisen, indem ich mich jetzt um sie kümmere. Sie bekommt ja ihr Leben alleine nicht auf die Reihe.“
„Frau Fricke,“ fragte der Therapeut, „Von wem reden Sie eigentlich?“
„Von meiner Tochter. Wir reden doch die ganze Zeit von meiner Tochter. Was denken Sie denn?“
„Ich denke,“ formulierte der Therapeut vorsichtig, „dass Ihre Tochter zwar einige Probleme hat, aber sehr wohl in der Lage ist, ihr Leben zu bewältigen, wenn sie nicht zusätzlich belastet wird. Vielleicht sind Sie es ja, die ihr Leben alleine nicht gebacken bekommt.“
Empört schnappte die Mutter nach Luft: „Was reden Sie denn da? Ich und nicht klar kommen? Das muss ich mir nicht bieten lassen! Es geht doch hier wohl um die Probleme meiner Tochter und wie ich ihr helfen kann. Was soll das Gerede von zusätzlicher Belastung? Ich rede von Entlas- tung meiner Tochter! Ich mache hier Vorschläge, und Sie hören mir gar nicht zu!“
„Doch, Frau Fricke, ich habe Ihnen sehr wohl zugehört. Aber ich muss Ihnen sagen, mit Ihrem Lösungsvorschlag sind Sie auf dem falschen Dampfer.“
„Warum,“ begehrte sie auf, „ich liebe meine Tochter doch. Was kann denn verkehrt daran sein, mit einem Menschen, den man liebt, zusammen in eine Wohnung zu ziehen und sich gegenseitig zu unterstützen?“
„Frau Fricke,“ sagt er energisch, „Ihre Tochter schafft es nicht, Sie für ein Wochenende zu besuchen, ohne dass es ihr hinterher wochenlang schlecht geht!“
„Ach,“ wehrte sie ab, „das liegt doch nicht an mir. Das lag an meinem Mann mit seinem dauernden Gejammer und seiner Streitsucht. Das war wirklich nicht zum Aushalten. Aber jetzt ist die Situation doch eine völlig andere. Jetzt ist mein Mann nicht mehr da und meine Tochter und ich können unser Leben gemeinsam neu ordnen!“
Eindringlich fixierte der Therapeut ihren Blick. „Frau Fricke,“ sagte er, „wenn Sie Ihre Tochter lieben, müssen Sie sie frei geben!“
„Sie ist doch frei“, ereiferte sich die Mutter fassungslos. „Sie kann doch tun und lassen was sie will. Sie braucht doch auf mich keine Rücksicht nehmen. Ich putze sogar für sie, ich koche das Essen. Sagen Sie gar nichts dazu, dass ich bereit bin, mich zum Dienstmädchen meiner Tochter zu machen? Natürlich liebe ich sie, aber sie.... Herr Gott, sie ist so undankbar! So war sie immer schon. Undankbar!“...
„Stop!“ unterbrach er sie. „Jetzt hören Sie mal genau zu: Wenn Ihnen Ihre Tochter so sehr am Herzen liegt, wie Sie hier immer wieder beteuern, dann bleiben Sie weg von ihr, weg aus ihrer Umgebung, ihrer Gemeinde, ihrem Leben und ihrer Wohnung. Lassen Sie sie einfach in Ruhe. Überlassen Sie es ihr, den Kontakt zu Ihnen aufrecht zu erhalten. Sie wird zu Ihnen kommen, dann wenn sie es mental verkraften kann. Aber wann das sein wird, das muss Ihre Tochter entscheiden, nicht Sie!“
Die Mutter kramte nach einem Papiertaschentuch. Er reichte ihr eine Schachtel, aus der sie sich bediente. Er sah ihr zu, während sie ihre Augen abtupfte, schnäuzte, leise schluchzte. „Das war doch klar,“ brach es aus ihr heraus, „jetzt bin ich also Schuld an den Problemen meiner Tochter. Ich habe mich für das Mädchen aufgeopfert, Sie machen sich keine Vorstellung davon. Aber sie kommt nicht klar und schiebt mir die ganze Schuld zu.“
„Es geht hier nicht um Schuld“, erklärte er, „es geht darum, einen Weg zu finden, wie Sie beide am besten klar kommen. Ich glaube Ihnen, dass Sie es nicht leicht haben. Aber Sie versuchen hier nicht, Ihrer Tochter zu helfen, Sie suchen nach einer Möglichkeit, sich von ihr stützen, tragen zu lassen. Diese Last dürfen Sie Ihrer Tochter nicht aufbürden.“
„Alles klar“, schniefte sie und stand auf, „ich gehe. Richten Sie meiner Tochter aus, sie weiß ja, wo sich mich erreichen kann, falls es ihr jemals wieder wichtig ist, eine Mutter zu haben. Auf Wiedersehen.“
Und sie verließ den Raum.
„Das ist ja fantastisch!“ gratulierte mir Anna am Telefon. Ich seufzte. „Was ist denn los?“ fragte sie.
„Ja, erwiderte ich, es wäre fantastisch. Aber leider habe ich das alles nur geträumt.“
Anna lachte. „Schafskopf, erkennst du es denn nicht?“
„Nein“, erwiderte ich, „was denn?“
„Aber das ist doch ganz klar“, erklärte sie, „du hast diese Auseinander- setzung mit deiner Mutter geführt. Du hast die richtigen Argumente verwendet, alles, was du ihr sagen willst. Und sie hat kapituliert. Das war nicht nur ein Traum. Das war die Vorbereitung auf die reale Auseinan- dersetzung mit deiner Mutter, und du bist ihr gewachsen! Der Therapeut in deinem Traum, das bist du selbst, und du setzt dich mit deiner Mutter auseinander, nicht mehr in Opferhaltung, sondern auf Augenhöhe!“
Da dämmerte mir, dass Anna Recht hatte. Und wir beendeten das Gespräch und ich ging pfeifend weiter in meinen Tag. Morgen schon werde ich mit meiner Mutter reden. Ich werde es schaffen.
Texte: © Text: Astrid Borower
© Titelbild: Stephanie Hofschläger/PIXELIO
Aus meinem Buch "Mischpoche heißt Familie"
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner geliebten Mutter,
die GANZ ANDERS ist,
in Dankbarkeit.