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Das Haus mit den roten Geranien




Am Ortsausgang des kleinen Dorfes stand ein weißgestrichenes Haus, das Dach mit braun-roten Ziegeln gedeckt. Zwei Fenster zeigten zur Straße hinaus. Vor beiden Fenstern befanden sich Blumenkästen, beide bepflanzt mit üppig blühenden roten Geranien. Um das Haus führte ein kleiner Garten, sehr gepflegt, aber keine blühenden Sträucher, nur sauber bepflanzte Beete mit Tomaten, Kopfsalat, Erdbeeren, Zwiebeln, Möhren … Hinter dem Haus gab es noch, ordentlich vor den Zaun gepflanzt, Sträucher mit roten und schwarzen Johannisbeeren, Himbeeren und Stachelbeeren.
Hier wohnte schon seit vielen Jahren ein Mann mit seiner Frau. Der Mann hieß Walter und war 78 Jahre alt. Er fühlte sich auch wie 78. „Ich kann die Alten nicht verstehen, die immer wieder behaupten, sie würden sich 30 Jahre jünger fühlen“, sagte er einmal zu seiner Frau Elli. „Es stimmt einfach nicht. Ich kann nicht mehr die Treppe hochstürmen wie ein 30-Jähriger. Ich kann mich nicht mehr betrinken wie ein 30-Jähriger. Ich brauche jeden Morgen immer erst ein paar Minuten, um überhaupt aus dem Bett hochzukommen. Von anderen Dingen mal ganz abgesehen, aber an die kann ich mich sowieso kaum noch erinnern …“. Den letzten Satz hatte er mehr geflüstert. Elli hatte ihn daraufhin zurechtgewiesen, er solle sich nicht so haben und so viel rumjammern und überhaupt solle er endlich seine Briefmarkensammlung wegräumen, weil es gleich Essen gebe.
Walter trat aus der Tür des Hauses. Er atmete tief die klare Luft ein und stellte fest, dass es richtig warm war. Das war ihm lange nicht aufgefallen. Vor dem Fenster hingen die roten Geranien in voller Blütenpracht. „Es sieht aus, als würde das Haus aus seinen Augen bluten“, dachte Walter und wandte den Kopf ab. Er trat die zwei Steinstufen vor der Haustür hinunter und ging den Plattenweg zwischen den Beeten entlang hinter das Haus. Die Sonne gab dem ganzen Garten ein freundliches Licht, trotzdem blickte Walter mürrisch auf die Gemüsebeete. Hier hatte er Tag für Tag gekniet und Erdbeeren gepflückt, Möhren aus der Erde gezogen, Salat abgeschnitten, hatte Schnecken von den Blättern gesammelt und zertrampelt, Unkraut ausgezupft, Beeren von den Sträuchern gepflückt und sich dabei die Arme zerkratzen lassen, er hatte Rücken- und Knieschmerzen bekommen und Sonnenbrand und das alles, weil sie es so wollte. Elli liebte ihren Garten und er musste immer ordentlich aussehen. Jedes heruntergefallene Blatt hob sie auf, um es in die grüne Tonne zu werfen. In der kalten Jahreszeit wickelte sie Folie um ihre geliebten Gartenzwerge, damit sie keinen Schaden nahmen. Sie konnte natürlich die ganze Arbeit nicht allein machen und da ihr Walter sowieso kaum aus dem Haus zu bewegen war, musste er wenigstens mit im Garten arbeiten, an der gesunden Luft. Wenn er dann stöhnend wieder ins Haus kam, lief sie schnell nochmal hinaus, um seine Fußstapfen zwischen den Pflanzen weg zu harken. Wenigstens hatte sie ihn dazu erziehen können, seine Gartenschuhe abzuklopfen und unter die Treppe zu stellen, bevor er das Haus wieder betrat.
Walter beobachtete einen Schmetterling, der sich auf den Johannisbeerstrauch gesetzt hatte. Er dachte an die vielen Gläser voll mit Marmelade, eingeweckten Möhren und Tomaten – nie waren sie in der Lage, das alles aufzuessen, und es kamen jährlich neue Gläser hinzu. Früher hatte Elli ja noch die Kinder damit versorgt. Bei jedem Besuch wurde ihnen ein Korb mit Eingewecktem aufgedrängt. Aber seit zwei Jahren kamen die Kinder nicht mehr zu Besuch. Elli hatte sie mit ihrer stets belehrenden Art und ihrer ständigen Besserwisserei vergrault. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit ein Anruf, das war alles.
Walter ging weiter um das Haus herum. Dabei achtete er darauf, nicht auf die gepflasterten Gehwegplatten zu treten, sondern mitten durch die Beete zu laufen. Genüsslich zertrat er eine Erdbeerpflanze und betrachtete den roten Matsch, der sich unter seinem Schuh gebildet hatte. „Tja, heute wird nicht geerntet“, dachte er böse und freute sich schon darauf, mit seinen schmutzigen Schuhen das Haus zu betreten. Elli würde wahnsinnig werden. Ein schmutziger Fußboden – das war für sie genauso undenkbar wie morgens ausschlafen (Sie stand jeden Morgen pünktlich um halb sechs auf, um ihre Morgengymnastik durchzuführen), genauso undenkbar wie Gläser ohne Untersetzer auf den Tisch zu stellen, genauso undenkbar wie gekochte Frühstückseier ohne die gehäkelten Hühner als Wärmeüberzug.
Walter ging an der Gartenzwerg-Familie vorbei, wobei er nicht versäumte, Mama Gartenzwerg mit der geblümten Schürze und der Harke in der Hand kopfüber in die Erde zu bohren. Dann verließ er das Grundstück und schlug die dunkelbraune Gartenpforte hinter sich zu. Er lief an den Weinreben entlang, die in prächtigem Grün dastanden, kleine Trauben waren schon zu sehen. Hinter dem Weinberg begann der Wald, aber Walter würde gar nicht so weit laufen. Er spürte wieder ein Ziehen in der linken Brusthälfte, das bis in den Arm ausstrahlte. „Mein Herz macht nicht mehr lange mit“, dachte er missmutig. Trotzdem hatte er sich lange nicht mehr so gut gefühlt wie heute. Er atmete wieder tief die Sommerluft ein und dachte daran, wie lange er nicht mehr hier draußen gewesen war. Dabei war es so schön – die Weinreben, darüber der blaue Himmel mit ein paar weißen Wölkchen, ein leichter Windhauch, der über seinen fast kahlen Kopf strich. Kurz dachte er daran, dass er vergessen hatte, seinen Hut aufzusetzen. Wegen der Sonne. Aber das war nun auch egal.
Alles war so anders gekommen, als er sich sein Rentnerdasein vorgestellt hatte. Er wollte seine Briefmarkenfreunde in Frankreich und Slowenien besuchen, wollte seiner Frau die portugiesische Küste zeigen, von der er damals so viel gelesen hatte. Sie waren nie weiter als bis in die Stadt zu den Kindern gekommen. Elli wollte den Garten nicht allein lassen. „Stell dir nur vor, wie es dann hier aussieht, wenn wir mehrere Wochen weg sind!“, hatte sie immer gesagt. „Die Leute werden denken, was hausen denn da für Banausen!“ Unsinnig, ihr begreiflich machen zu wollen, dass die Leute hier alle wussten, wer in dem Gartenzwerg-Haus wohnte.
Walter kehrte wieder um und ging zum Haus zurück. Die roten Geranien leuchteten ihm schon von weitem entgegen. Er öffnete das Gartentor und ließ es dann nach kurzem Zögern offen stehen. Er öffnete die Haustür und ging mit seinen schmutzigen Schuhen hinein. Elli lag noch genauso da, wie er sie verlassen hatte. Er fragte sich, ob er vielleicht erwartet hatte, dass sie noch einmal aufstehen würde, um wenigstens die Blutflecken vom Boden zu wischen. Sie lag auf dem Bauch, den Kopf unnatürlich zur Seite gedreht. In ihrem Rücken steckte noch immer das große Fleischmesser aus der obersten Schublade. Ihre beigefarbene Bluse hatte sich tiefrot gefärbt wie die Geranien vor dem Fenster. Walter stieg mit einem großen Schritt über sie hinweg und ging ins Arbeitszimmer. Ganz hinten in dem kleinen Schrank, wo er seine Briefmarkenalben aufbewahren durfte, gab es eine Vertiefung und dort holte er die Flasche heraus, die er immer erfolgreich vor ihr versteckt hatte, nachdem sie einmal vor drei Jahren eine ganze Flasche Nordhäuser Doppelkorn in den Ausguss gekippt hatte. Walter nahm zufrieden einen tiefen Schluck. Dann griff er zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei.
Später, als die beiden Beamten ihn, jeder an einer Seite, aus dem weiß gestrichenen Haus führten, blickte er sich noch einmal um und sah auf die Geranien. „Die werden jetzt wohl vertrocknen“, dachte er, und ein zufriedenes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.


Der Affe und die Gazellen




Der Anführer der Affenbande war mit der Zeit etwas größenwahnsinnig geworden. Er wollte der Herrscher über eine Herde Gazellen werden und fing deshalb an, um das Gebiet, in dem die Gazellen grasten, eine hohe Grenze zu errichten. Mit der Hilfe einiger anderer Affen ließ er eine hohe Wand aus Steinen, Holz und Gestrüpp errichten – so hoch, dass die Gazellen nicht vermochten, sie zu überspringen.
Er redete den Gazellen ein, dass diese Grenze sie beschützen würde. Er erzählte den Gazellen von den Gefahren, die hinter der Grenze lauerten, von den Löwen und Leoparden, die ihnen nach dem Leben trachteten. Einige Gazellen waren dankbar für den Schutz, andere waren empört über die Einschränkung ihrer Freiheit, aber mit den Jahren gewöhnten sich die Tiere daran. Für die jüngeren Gazellen, die innerhalb der Grenzen geboren wurden, war das Leben ganz normal.
Unter den Tieren außerhalb der Gazellenzone machte sich mit der Zeit jedoch immer mehr Unmut breit. Die Löwen mussten sich weit von ihren gewohnten Rastplätzen entfernen, um Nahrung zu finden. Der hohe Grenzzaun verschandelte die Savanne. Aber am meisten ärgerte die Tiere die Arroganz und der Größenwahn der Affen. Sie fingen an, mit den Vögeln zusammenzuarbeiten und ließen durch die Vögel geheime Botschaften zu den eingeschlossenen Gazellen bringen.
Die Vögel erzählten den Gazellen von der Welt hinter der Grenze – ja, es gab auch Gefahren dort, aber es gab auch ein weites und unerforschtes Land, viele andere, unterschiedliche Tiere, Blumen, Bäume… Und schließlich und endlich gehörten sie doch alle zusammen und sollten sich doch nicht von einer Herde arroganter Affen beherrschen lassen.
Unter den Gazellen kam immer mehr Protest auf gegen die Diktatur der Affen. Plötzlich spürten sie einen starken Drang nach Freiheit und wollten endlich die Welt außerhalb der Grenzen kennen lernen. Da die Affen nicht mit sich reden ließen, bildete die Gazellenherde eine große und starke Gemeinschaft und mit vereinten Kräften gelang es ihnen eines Nachts, mit ihren Hörnern ein Loch in die Umzäunung zu stemmen. Es war groß genug, dass eine Gazelle nach der anderen hindurch schlüpfen konnte auf die andere Seite.
Von diesem Tage an genossen die Gazellen ihre Freiheit. In großen Sprüngen erkundeten sie die Savanne und auch, wenn sie von nun an immer auch auf der Hut vor den Raubtieren sein mussten, so gab es doch so viel Neues und Schönes zu entdecken und so viele verschiedene Tiere kennen zu lernen.
Nie wieder ließen sie sich von einem Affen unterdrücken, denn die Freiheit ist wichtiger als eine zweifelhafte Sicherheit.


Der Falke (sehr frei nach Boccaccio)



Matthias hatte gerade im Schatten vor seiner Haustür gesessen und ein bisschen auf seiner Gitarre geklimpert, als er sie die Straße heraufkommen sah. Er glaubte zuerst an eine Sinnestäuschung. Aber es war wirklich Claudia von Eberstein! Matthias stand auf und ließ die Gitarre dabei zu Boden gleiten. Wollte sie denn wirklich …? Tatsächlich – jetzt winkte sie ihm zu und kam lächelnd an sein Gartentor. „Hallo, Matthias“, sagte sie und sah dabei etwas verlegen aus. Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen und wirkte etwas schmaler und blasser als noch vor ein paar Wochen, als er sie zuletzt zufällig getroffen hatte. Aber für Matthias war sie nach wie vor die schönste und eleganteste Frau der Welt. Nie zuvor hatte er solche kakaobraunen Augen gesehen, dazu die hohe Stirn, die langen, schwarz glänzenden Haare und dann diese Figur! Er hatte sie immer geliebt, hatte nie eine andere Frau gewollt als sie, aber sie war ihm immer so unerreichbar gewesen. Er erinnerte sich, dass ihr Mann, irgend so ein Freiherr aus altem deutschen Adelsgeschlecht, vor zwei Jahren gestorben war, und dass sie seither mit ihrem kleinen Sohn allein lebte. Aber was sollte sie an ihm finden … durch seine Spielsucht hatte er nahezu alles verloren. Dieses halb verfallene Haus seiner Großeltern und etwas staatliche Unterstützung waren ihm noch geblieben.
Matthias öffnete das Gartentor und ließ sie eintreten. „Claudia“, sagte er erstaunt, „wie schön, dich zu sehen! Wie geht es dir?“ Claudia von Eberstein wirkte sehr unsicher, was sonst gar nicht ihre Art war. Ihr Lächeln wirkte irgendwie aufgesetzt. „Können wir uns vielleicht unterhalten?“, fragte sie, und zeigte dabei in Richtung Haus. „Ich weiß, wir haben uns lange nicht gesehen, und ich bin dir auch ziemlich oft abweisend begegnet. Ich war verheiratet und ich wollte nicht, dass du dir irgendwelche Hoffnungen machst. Aber du hast dich trotzdem immer so nett um Kevin gekümmert. Er hat immer so viel Spaß gehabt an euren Falknerei-Vorführungen.“ Sie sah schnell zur Seite, damit Matthias nicht bemerkte, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Matthias öffnete die Haustür und schämte sich sogleich für seine Armut und Unordnung. Sie war sicher weitaus Besseres gewohnt. In dem kleinen Wohnzimmer gab es eine schwarze Ledercouch, die er sich mal vom Sperrmüll mitgenommen hatte. Das Leder war an ein paar Stellen schon eingerissen und sie war schon ziemlich durchgesessen, aber er hatte eine bunte Wolldecke drübergelegt und so etwas Gemütlichkeit geschaffen. Vor der Couch gab es einen rechteckigen Holztisch, an der Wand ein Billy-Regal mit seinen Fachbüchern über Falknerei und Wildvögel, auch ein paar einzelne Abenteuerbücher, die er aus seiner Kindheit aufbewahrt hatte. Auf einer kleinen Kommode, die noch von seinen Großeltern stammte, stand ein CD-Spieler. Matthias nahm rasch den vollen Aschenbecher vom Tisch, doch dann überlegte er es sich anders und fragte Claudia: „Möchtest du vielleicht rauchen?“ „Nein, danke. Ich rauche nicht mehr.“ Er nickte, sagte „Einen Moment bitte“, und trug den Aschenbecher zusammen mit einem Pullover und zwei leeren Bierflaschen hinüber in die kleine Küche. „Ich muss ihr irgendwas anbieten…“, dachte er und fühlte sich plötzlich völlig hilflos. „Das ist DIE Chance für mich, ihr zu gefallen. Sie ist schließlich gekommen, um mit mir zu reden. Mit MIR!“ Er öffnete rasch die Kühlschranktür. Drei Flaschen Bier, eine Flasche Mineralwasser, etwas Speck, eine angebrochene Dose Heringsfilets in Tomatensoße, ein paar Eier… das war alles. Mutlos öffnete er den Küchenschrank. Er fand eine Packung Nudeln mit Tomatensoße, ein paar Kartoffeln, Cornflakes und eine Dose mit getrockneten Pilzen, von deren Existenz er gar nichts mehr gewusst hatte. Mit zittrigen Händen strich er sich über den Kopf, schnappte sich die Flasche Mineralwasser und eine Flasche Bier und lief wieder zu Claudia ins Wohnzimmer. Die hatte sich inzwischen auf die äußerste Kante der Couch gesetzt und hielt ihre Hände zwischen den Knien versteckt wie ein kleines Schulmädchen, das zum ersten Mal dem Schuldirektor gegenüber sitzt.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Matthias. „Ich hole gleich noch zwei Gläser. Moment.“ Als sie beide einen Schluck getrunken hatten, erkundigte sich Matthias nach ihrem Sohn Kevin. Er wusste, dass er an einer unheilbaren Stoffwechselerkrankung litt, und er hatte ihn schon einige Zeit nicht mehr gesehen. Claudia erzählte ihm stockend, dass es Kevin mittlerweile sehr schlecht ging und dass die Ärzte gesagt hatten, sie müsste sich auf das Schlimmste vorbereiten.
„Er ist jetzt zu Hause. Meine Mutter ist bei ihm“, sagte Claudia und Tränen traten ihr in die Augen. „Er mag dich wirklich sehr. Er redet oft von dir.“ Matthias musste schlucken. Er mochte den Kleinen auch sehr und das nicht nur, weil seine Mutter ihm so sehr gefiel. Er dachte daran, wie oft sie ihn in den vergangenen Jahren hochmütig behandelt hatte, aber er nahm trotzdem all seinen Mut zusammen und griff nach ihrer Hand. Sie entzog sie ihm nicht, aber sie wich seinem Blick aus. „Es tut mir alles so leid“, sagte Matthias leise. „Du weißt, ich würde alles für dich tun ... Ich ...“ Claudia entzog ihm wieder vorsichtig ihre Hand und setzte sich aufrecht hin. „Könnten wir vielleicht irgendwo ... ich habe heute noch gar nichts gegessen ...“ Sie lächelte ihn etwas verlegen an. Matthias sprang auf. „Oh, entschuldige, natürlich, ja ... Bitte lass mich dir etwas kochen!“ Claudia machte Anstalten, ebenfalls aufzustehen, aber Matthias hinderte sie daran. „Ich schäme mich etwas für meine Küche, bitte bleib hier. Ich habe keinen Fernseher, aber du kannst dir ja inzwischen Musik anmachen, ja?“ An der Tür drehte er sich noch einmal um und schaute Claudia glücklich an. „Ich freue mich sehr, dass du zu mir gekommen bist!“ Er spürte, wie er trotz seiner über 40-jährigen Lebenserfahrung etwas errötete.
In der Küche überfiel ihn dann wieder leichte Panik. Er hatte früher gern gekocht und auch richtig gut, aber das war alles vor seinem finanziellen Ruin. Was nun? Einer Frau wie Claudia von Eberstein konnte er doch schließlich keine Eier mit Speck vorsetzen! Außerdem wollte er ihr gefallen. Sie sollte vielleicht sogar romantische Gefühle für ihn entwickeln … Nun, dank seines Gartens, gab es zumindest ein paar Kräuter. Auf der Fensterbank hatte er Basilikum, Estragon, Salbei und Thymian stehen. Als er so nachdenklich die Kräuter auf der Fensterbank betrachtete, fiel sein Blick nach draußen auf die große Voliere, wo sein Falke auf einer Stange saß und sein Gefieder putzte. „Kann man Falken eigentlich essen?“ dachte er. Er hatte vor Jahren mal Rebhühner gebraten, das müsste doch eigentlich so ähnlich sein. Er ging nach draußen und öffnete die Vogelvoliere. Kurz dachte er daran, dass dieser Falke aufgrund der Vorführungen im Moment seine einzige Geldeinnahmequelle war, doch dann schob er alle diese Gedanken beiseite, griff sich den Vogel und drehte ihm kurzerhand den Hals um. Das Abhacken des Kopfes und der Beine sowie das Rupfen erledigte er gleich draußen im Garten. Dann trug er ihn hinein, schaltete den Backofen ein, legte eine Backform mit Speckscheiben aus, füllte den Falken mit den getrockneten Pilzen, die er noch im Küchenschrank gefunden hatte und tat noch ein paar Kräuter von der Fensterbank dazu. „Dazu mache ich leicht gebratene Kartoffeln“, dachte er und bald zog ein köstlicher Duft durchs Haus. Matthias suchte nach einem weißen Bettlaken, fand auch eins, und breitete es auf dem Couchtisch aus. Es hing an den Seiten ziemlich herunter, aber es würde schon gehen. Zum Glück hatte er auch noch ein paar einfache Teelichter, die zündete er an und verteilte sie überall im Wohnzimmer. Dann trug er das Essen auf. Claudia beobachtete ihn fasziniert. Sie hatte sich etwas entspannt und in seiner kleinen CD-Sammlung gestöbert. Sie hatte sich schließlich für Elton John entschieden, und durch die Musik und den Duft des Essens fühlte sie eine Welle von Erleichterung und Dankbarkeit durch sich hindurch strömen. Jetzt konnte sie ihn sicher fragen …
Sie setzten sich an den Tisch und aßen und Claudia beteuerte, dass sie seit langem nicht mehr so vorzüglich gegessen hatte. Matthias suchte immer wieder ihren Blick und er spürte eine große Aufregung in sich. Diese braunen Augen, diese zarten Hände ... Da fiel ihm ein, dass er noch immer nicht genau wusste, warum sie heute eigentlich zu ihm gekommen war. Claudia bemerkte seine Blicke und legte ihr Besteck aus der Hand. Sie wandte sich ihm zu und schaute ihn offen an. „Matthias, du wunderst dich vielleicht, warum ich heute zu dir gekommen bin. Ich weiß, ich habe dich meistens nicht besonders nett behandelt. Ich möchte dir danken, dass du so viel Zeit mit Kevin verbracht hast. Ich hätte dir schon viel eher danken sollen.“ Sie musste kurz schlucken, dann redete sie weiter. „Und jetzt bin ich zu dir gekommen, weil ich auch noch eine große Bitte an dich habe. Sicherlich ist es unverschämt von mir, dich darum zu bitten, ich weiß ja, wie deine finanzielle Situation aussieht. Aber ich bin eine Mutter und ich habe einen todkranken Sohn, der noch einen einzigen großen Herzenswunsch hat.“
Matthias griff wieder nach ihrer Hand und streichelte sie sanft. „Claudia, ich möchte gern alles für euch tun, was ich kann. Ich mag euch beide sehr gern.“
„Ich weiß“, hauchte Claudia. „Kevin hatte immer so viel Spaß an deinen Vorführungen. Ich weiß, es ist dir sicher unmöglich, weil du mit ihm Geld verdienst und dein Herz auch an ihm hängt ... Vielleicht kann ich ihn dir ja auch abkaufen … Kevin hat nur noch diesen einen großen Wunsch. Er möchte so gern deinen Falken haben.“
Sie atmete erleichtert aus und spürte dann erschrocken, wie Matthias ihre Hand losließ und erstarrte.


Spätes Weihnachtsglück für Tipperin



Sie hatte sich so sehr auf diesen Abend gefreut. Heute war der 2. Februar und in diesem Jahr bedeutete das ihren 47. Geburtstag. Frank hatte versprochen, heute Abend mit ihr auszugehen. Er hatte einen Tisch bei „Josepha“ bestellt und sie war heute extra noch außer der Reihe beim Friseur gewesen. Das hatte sie 58 Euro gekostet und das ärgerte sie sehr. Frank hatte vorhin angerufen und ihr gesagt, dass es ihm so leid täte, aber er musste die Fahrt eines Kollegen mit übernehmen, der einen Unfall gehabt hatte. Frank arbeitete bei der Deutschen Bahn und jetzt im Winter waren sowieso viele Kollegen krank; es war einfach nichts zu machen. „Gegen drei komme ich nach Hause und dann geb ich dir noch einen Kuss, du schläfst ja dann sicher schon“, hatte er gesagt.
Sie hätte so einen Abend mit ihrem Mann und in einem tollen Restaurant eigentlich dringend nötig gehabt. Sie fühlte sich ziemlich ausgebrannt. Erst der ganze Weihnachtsstress – alles war so schön geplant gewesen. Sie wollten ganz in Ruhe zu Hause mit den Kindern feiern, mal ein Jahr nicht den kranken Vater im 500 Kilometer entfernten Aschersleben besuchen, denn diesmal war ihr Bruder an der Reihe. Franks Eltern hatten sowieso einen Weihnachtsurlaub im Allgäu geplant, also stand einem ruhigen Familienfest nichts im Wege. Dann war alles ganz anders gekommen. Franks Mutter hatte ein paar Tage vor Weihnachten angerufen. Frank war nicht zu Hause gewesen, deshalb ging sie ans Telefon. Seine Mutter weinte und war völlig außer sich. Sie erzählte, dass Franks Vater eine Geliebte hätte. Sie hätte ihn am Handy erwischt, als er „Ich liebe dich“ sagte. Als sie ihn zur Rede gestellt hatte, sagte er, dass er schon seit ein paar Wochen eine Freundin hat – eine alte Jugendliebe, der er auf einem Klassentreffen wieder begegnet war –, sie war seit einigen Jahren Witwe und sie hätten sich wieder ineinander verliebt und er möchte jetzt die Scheidung. Nach 43 Jahren Ehe, Eigenheim, zwei erwachsenen Kindern ... Franks Mutter stand völlig unter Schock und sie gleich mit. Alles wurde dann umgeplant. Frank fuhr nach Berlin und holte seine Mutter zu ihnen nach Hause über das Weihnachtsfest. Das Weihnachtsfest verlief dann also dementsprechend chaotisch inklusive weinender Schwiegermutter unter dem Tannenbaum.
Ihr tat die Schwiegermutter leid, aber es tat ihr auch leid um die verlorenen entspannten Tage. Im neuen Jahr musste sie gleich wieder arbeiten. Sie arbeitete als Phonotypistin in einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, hatte einen cholerischen Chef und mehrere erkrankte Kolleginnen, deren Arbeit sie im Januar noch mit übernehmen musste. Dazu kam die Sorge um ihren an Alzheimer erkrankten Vater, der so weit weg war. Ihr Sohn Manuel wollte ein Auslandsschuljahr in den USA belegen. Sie hatten ihn sehr in dieser Entscheidung unterstützt, aber es kostete viel Geld. Und ihre 12-jährige Tochter Anna wollte so gern ihre nächste Ferienfreizeit auf einem Reiterhof verbringen.
Sie seufzte und holte einen Teller und Besteck aus der Küche. Dann setzte sie sich zu Manuel und Anna, die schon beim Abendbrot waren.
„Ich esse nun doch mit euch“, sagte sie. „Papa kann nicht kommen. Er muss eine Fahrt für einen erkrankten Kollegen übernehmen.“
Die beiden sahen sie bedauernd an. Sie wussten, wie sehr sich ihre Mutter darauf gefreut hatte, mal wieder auszugehen. Seit Manuel sich entschieden hatte, ein Schuljahr vor dem Abitur in den USA zu verbringen, hatten sie immer wieder Geld beiseite gelegt und auf Restaurantbesuche und sogar auf den letzten Urlaub verzichtet.
„Ach Mama, sei nicht traurig!“, sagte Anna. „Machen wir uns eben einen schönen Abend. Wie wär’s mit einer Runde Activity?“
Sie lächelte. „Aber wir sind doch nur drei.“
Manuel stand auf. „Also Mama, sei mir nicht böse, aber ich muss dringend nochmal an den Computer.“
Er gab seiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand in sein Zimmer. Sie sah ihre Tochter an.
„Wollen wir uns zusammen einen schönen Film ansehen? Es gibt auch Schokolade.“
„Au ja. Harry Potter und der Halbblutprinz? Oh bitte… den hab ich schon so lange nicht mehr gesehen!“
Sie seufzte wieder. Auf Harry Potter hatte sie jetzt eigentlich gar keine Lust. Schwarz gekleidete Kinder riefen sich da ständig irgendwelche Zaubersprüche zu, es blitzte und knallte alle paar Minuten, seltsame Wesen flogen umher, Eulen brachten die Post… ihr war ja eher so nach einem Film mit Hugh Grant und Sandra Bullock… aber sie fügte sich, holte die Schokolade aus dem Küchenschrank, die ihr eigentlich überhaupt nicht gut tat, aber beim Entspannen half, und es wurde doch noch ein ganz angenehmer Abend.
Der nächste Tag begann wie jeder andere auch und sollte doch ihr Leben für immer verändern.
Frank schlief noch, da er ja erst in der Nacht heimgekommen war. Sie bereitete ein kleines Frühstück für sich und die Kinder und verließ dann zusammen mit ihnen das Haus. Anna und Manuel gingen zur Bushaltestelle; sie fuhr mit dem Auto in die entgegengesetzte Richtung.
Auf ihrem Bürotisch lagen bereits fünf Diktatkassetten. Sie schaltete den Computer an, holte sich rasch noch eine Tasse Kaffee, klappte dann das Fenster an, um frische Luft hereinzulassen und setzte die Kopfhörer auf. Gegen Mittag verließ sie die Firma, um sich in der Metzgerei gegenüber ein belegtes Brötchen zu kaufen. Da musizierte ihr Handy. Es war Frank. Er entschuldigte sich noch einmal bei ihr für den entgangenen Abend und versprach, am nächsten Freitag alles nachzuholen inklusive einer besonderen Kopfmassage für sie. Sie lächelte und fühlte sich auf einmal gleich viel leichter. Es war ein Glück, dass ihre Ehe auch nach mehreren Jahren noch so gut funktionierte. Was sie so hörte, war das ja keine Selbstverständlichkeit mehr heutzutage.
Als sie in der Metzgerei ihr Brötchen bezahlen wollte, fiel ein Zettel aus ihrer Handtasche. Sie erkannte ihre Quittung für die Westdeutsche Lotterie. Da fiel ihr ein, dass die Ziehung ja schon um Weihnachten rum gewesen sein musste. Sie hatte das völlig vergessen und in dem ganzen Trubel mit der Schwiegermutter hatte sie auch überhaupt nicht mehr daran gedacht, ihre Zahlen zu vergleichen, obwohl sie das sonst immer pünktlich tat. Sie hoffte noch immer auf einen Gewinn, obwohl ihre Familie sie dafür belächelte. Sie spielte seit sechs Jahren Lotto und tippte immer die gleichen Zahlen.
Als sie ihr Brötchen aufgegessen hatte, überlegte sie, ob sie noch schnell in der Mittagspause in den Schreibwarenladen gehen konnte, wo es auch eine Lottoannahmestelle gab. Sie hatte noch 10 Minuten Zeit, also ging sie schnell hinüber in den Laden. Die rundliche ältere Frau kannte sie schon und grüßte freundlich. Sie reichte ihren Lottoschein hinüber.
„Ich weiß, die Ziehung ist schon vorbei. Aber sollte ich doch etwas gewonnen haben, kriege ich es doch auch jetzt noch, oder?“
Die Frau hinter dem Ladentisch tippte etwas in ihren Computer ein, dann erstarrte sie kurz in ihrer Bewegung, holte tief Luft und schaute sich rasch im Laden um.
„Frau Kronen, kommen Sie doch bitte mal mit nach hinten. Haben Sie Ihren Ausweis dabei?"
Sie war irritiert und folgte der Frau in einen Nebenraum, wo ihr ein Sitzplatz angeboten wurde. Stimmte denn irgendwas nicht?
„Ich habe nicht viel Zeit, wissen Sie. Ich muss wieder ins Büro.“
Die Verkäuferin nickte und lächelte.
„Keine Sorge. Sie haben gewonnen!“ Dann verglich sie den Ausweis und holte noch einmal tief Luft. Die Verkäuferin nannte eine Zahl und musste sie dann noch einmal wiederholen.
Sie fühlte, dass ihr schwindlig wurde. Die Verkäuferin brachte ihr vorsorglich ein Glas Wasser und reichte ihr ein paar Papiere.
„Ich möchte Ihnen von Herzen gratulieren! So einen hohen Gewinn durften wir hier noch nie auszahlen. Bleiben Sie erstmal sitzen und lassen Sie die Nachricht wirken. Ich muss wieder in den Laden. Hier sind noch ein paar Unterlagen, was Sie so beachten müssen und ein paar Tipps zu Anlagemöglichkeiten etc.“
Sie stand vorsichtig auf. „Vier Millionen Euro? Das…. das kann doch nicht sein! Ich… ich versteh das nicht. Ist das wirklich wahr?“ Als die Verkäuferin glücklich nickte, fiel sie ihr um den Hals und Tränen traten ihr in die Augen. Die Verkäuferin hatte wohl schon damit gerechnet, denn sie erwiderte die Umarmung und dann drückte sie sie vorsichtig wieder in den Stuhl zurück.
„Ich muss jetzt erstmal wieder in den Laden, Frau Kronen. Ich sehe gleich wieder nach Ihnen“, sagte sie, so als wäre sie hier in einem Krankenhaus und nicht in einem Schreibwarenladen.
Ihr gingen tausend Dinge durch den Kopf, aber sie konnte noch keinen klaren Gedanken fassen. Vier Millionen Euro!! Vier Millionen!! Millionen!! Sie hatte irgendwie gar keine richtige Vorstellung davon, wie viel Geld das wirklich war. Durfte man so eine Summe überhaupt auf einem Girokonto der Sparkasse haben? Und was sagte das Finanzamt dazu? Sie brauchten unbedingt sofort jemanden, der sich damit auskannte. Dann fielen ihr plötzlich andere Sachen ein. Sie dachte an die Kinder, die Hypothek vom Haus, den kranken Vater… und dann sah sie einen Strand vor sich und sich selbst mit einem Cocktail in der Hand. Sie sprang auf und merkte jetzt, wie sie zitterte. Sie suchte in der Handtasche nach ihrem Handy und während sie die Nummer ihres Mannes wählte, entfuhr ihr ein kurzer Jubelschrei.


Die verlorene Tochter



Julia war schon als Kind ganz anders als ich. Ich höre noch unsere Mutter, wie sie immer sagte: Wie kommt es nur, dass ihr so verschieden seid?! Während ich als Kind am liebsten auf einer Wiese lag und ein Buch las oder Insekten auf den Grashalmen beobachtete, stand meine Schwester Julia am liebsten vor dem Spiegel, probierte immer wieder neue Frisuren an ihrem sandfarbenen langen Haar aus und zog sich dreimal am Tag um. Sie wusste genau zu sagen, welche Halskette am besten zu welchem Ausschnitt passte, welche Ohrringe überhaupt nicht gingen, wie lang die Hosenbeine zu sein hatten (und wie weit bzw. eng) und alles solche Dinge, die mir völlig egal waren. Ich liebte die Natur, in der Schule war mein Lieblingsfach Biologie, und ich wollte von klein an in die sogenannten Fußstapfen meiner Eltern treten.
Meine Eltern hatten in den 70er Jahren begonnen, die Gärtnerei meines Vaters auszubauen. Durch geschicktes und fleißiges Wirtschaften (ich kann mich erinnern, dass wir nur ein einziges Mal in meiner Kindheit in den Urlaub gefahren sind – in den Schwarzwald) konnten sie den Betrieb schließlich so erfolgreich expandieren, dass zum „Garten- und Obstbau Löffler“ inzwischen zwei Geschäfte in der Innenstadt, ein Weinberg und zwei große Obstwiesen gehören.
Meine Eltern hatten nur uns beide – Julia und mich, wir waren zweieiige Zwillinge, d.h. Julia war die Ältere, 30 Minuten eher geboren. Darauf hatte meine Mutter immer hingewiesen, warum, weiß ich auch nicht. Jedenfalls waren wir, wie schon gesagt, sehr verschieden. Als wir in die Pubertät kamen, fing auch ich an, mich für Jungen zu interessieren. Julia hatte natürlich schon ein halbes Jahr vorher von ihrem ersten Kuss berichtet. Ich war allerdings sehr schüchtern und der einzige Junge, der mich interessierte, schien nur Augen für seine Bücher zu haben. Julia hatte bald einen richtigen Freund, der sie nachmittags mit seinem Moped abholte und mit dem sie samstagabends in die Disco ging. Das interessierte mich nicht so sehr, vor allem nervte mich die ganze Vorbereitungsprozedur vor so einer Disco. Julia hatte einmal versucht, mich mitzunehmen und vorher „zurecht zu machen“. Sie kannte sich da aus. „Schwarzer Lidstrich ist ganz wichtig, Claudia!“ Sie fummelte mir mit einer Art Bleistift am Auge herum und ich konnte immer nur blinzeln. „Dann etwas Glitzer auf den Jochbogen…so…den rosa Lippenstift….sag mal, du willst doch nicht wirklich diese Schuhe da anziehen?“ Es war einfach furchtbar und es dauerte fast zwei Stunden, bis wir beide fertig waren.
Julia liebte, wie schon erwähnt, Mode und solchen Kram. Alles, was irgendwie gerade angesagt war. Dazu gehörte es natürlich auch, mit 14 Jahren bereits zu rauchen und Bier zu trinken, und einmal hatte sie mir gestanden, mit Steffen und Susanne Marihuana geraucht zu haben. Ich habe natürlich unseren Eltern nichts davon gesagt, so eine bin ich nicht.
Meine Eltern sorgten sich sicher ein wenig um sie, aber sie hatten ja immer so viel mit ihrem Geschäft zu tun, dass nicht viel Zeit für andere Dinge blieb. Außerdem hatten sie ja mich. Sie registrierten mit Stolz, wie ich mich immer mehr für die Angelegenheiten in der Gärtnerei interessierte. Nach der Schule fing ich im elterlichen Betrieb als Lehrling an. Ich machte eine Zusatzausbildung im Weinanbau, das interessierte mich besonders.
Julia hatte die Schule mit etwas schlechteren Noten als ich beendet, aber sie hatte eine Lehrstelle als Friseurin in Aussicht. Meine Eltern bedauerten es zwar, aber sie sahen ein, dass Julia sich nicht für den Gartenbau und die Landwirtschaft interessierte und sie überließen ihr die Entscheidung über ihre Zukunft. Julia dachte allerdings nicht daran, die Lehrstelle als Friseurin anzutreten. Sie wollte ins Ausland und Modedesignerin werden, am liebsten nach New York. Nach tagelangen Diskussionen und Streitereien mit unseren Eltern hatte sie diese schließlich wirklich dazu gebracht, ihr ihren „Erbteil“ auszuzahlen. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, nach New York zu gehen und dort einfach ihr Glück zu versuchen. Sie hatte dort schon seit Jahren eine Brieffreundin, bei der sie erst mal wohnen konnte und wollte sich dann von dort aus einen Job in der Modebranche suchen. Meine Eltern ließen sie ziehen und mir war es egal. Wir hatten uns innerlich immer mehr voneinander entfernt. Ich war allerdings ein bisschen neidisch auf das viele Geld, das ihr jetzt auf einmal zur Verfügung stand, ohne dass sie etwas dafür geleistet hatte.
In der folgenden Zeit kam ab und zu Post von Julia, manchmal rief sie auch an, sprach aber dann immer nur mit meinen Eltern. Ich merkte meinen Eltern an, dass es wohl doch nicht so bergauf ging bei Julia. Irgendwann kam gar keine Nachricht mehr von ihr.
Wir sprachen selten von Julia, es gab ja immer so viel zu tun. Außerdem fing meine Mutter jedes Mal an, zu weinen, wenn wir das Gespräch auf sie brachten.
Das Geschäft lief hervorragend. Ich hatte neben meiner Ausbildung im Wein- und Obstbau noch eine Ausbildung in der Buchhaltung abgeschlossen und durch meine neuen Kenntnisse, die ich in den elterlichen Betrieb einbrachte, konnten wir den Umsatz weiter erhöhen. Unser Schwarzriesling hatte im letzten Jahr auf der Weinmesse eine Auszeichnung bekommen. Allerdings blieb mein Privatleben ziemlich auf der Strecke. Ich sagte mir immer wieder, es ist noch genug Zeit, einen Mann zu finden, aber die Jahre vergingen und ich blieb allein und wohnte in einem kleinen Anbau auf dem Grundstück meiner Eltern.
Eines Abends kam ich gerade von der Obstwiese zurück, wo ich mitgeholfen hatte, die Kirschbäume zu beschneiden. Ich stellte meinen Opel Corsa auf dem Hof ab und stieg aus. Ich spürte sofort eine Veränderung. Aus dem Haus meiner Eltern drang laute Musik und Lachen. Da sah ich Inge, die bei uns die Geschäftsräume sauber hielt, aus der Tür kommen.
„Inge“, rief ich sie an. „Was ist denn hier los? Wird etwas gefeiert?“
„Ach Claudia!“ Sie strahlte übers ganze Gesicht. „Stell dir vor, deine Schwester ist wieder da!“
„Was?!“ Ich erstarrte.
„Ja, sie ist heute Morgen plötzlich wieder aufgetaucht. Ich habe nicht so viel mitbekommen, aber deine Eltern haben mich gleich beauftragt, einen Partyservice anzurufen und eine Willkommensfeier auszurichten. Jetzt muss ich aber gehen. Deine Tante und dein Onkel sind auch gekommen und noch ein paar andere Leute.“ Damit lief sie zu ihrem Auto.
In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken und Eifersucht ergriff von mir Besitz. Wann hatten meine Eltern jemals mit mir gefeiert? Immer stand ich auf ihrer Seite, ich habe gearbeitet und studiert und dabei auf jegliches Privatleben verzichtet, immer wollte ich es ihnen recht machen, habe immer um ihre Liebe und Anerkennung gekämpft. Und meine Schwester? Sie haut einfach ab – mit dem Geld meiner Eltern – setzt egoistisch ihre Interessen durch und meldet sich dann jahrelang noch nicht einmal!
Eine Tür klappte. Ich sah auf und erblickte meine Mutter, die gerade die Stufen herunter kam.
„Claudia! Da bist du ja. Stell dir vor, Julia ist wieder da!“
Sie lief auf mich zu und umarmte mich. Da bemerkte sie meinen abweisenden Gesichtsausdruck.
„Aber was ist denn mir dir? Freust du dich denn gar nicht?“
Mir traten Tränen in die Augen.
„Ach, Mutti, ich finde das so ungerecht! Ich arbeite die ganze Zeit bei euch und mache alles und mit mir habt ihr nie so ein Fest gefeiert! Mit Partyservice. Warum ist sie denn auf einmal nach Hause gekommen? Warum hat sie sich denn nicht gemeldet?“
Meine Mutter zog mich herunter auf eine Treppenstufe, setzte sich neben mich und nahm meine Hand.
„Julia hat viel Mist gebaut, Claudia. Von dem Geld ist auch nichts mehr da. Sie hatte sich damit einen kleinen Laden gekauft und wollte Second-Hand-Kleidung anbieten und selbst geschneiderte Sachen. Aber das ging alles nicht so einfach, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie hat immer mehr Drogen genommen, wurde krank… es muss eine schlimme Zeit für sie gewesen sein. Sie hat sich geschämt, sich bei uns zu melden. Eine Freundin hat ihr dann geholfen und musste ihr sogar noch Geld borgen für den Flug nach Deutschland. Julia wollte wieder nach Hause und will hier bei uns arbeiten. Sie schämt sich so sehr.“
Meiner Mutter standen jetzt auch Tränen in den Augen.
„Und du, Claudia – dir gehört doch hier alles. Wir haben dir so viel zu verdanken. Aber du solltest jetzt auch mal mehr an dich denken. Wir wollen doch nur, dass du glücklich bist.“
Sie stand auf. „Und jetzt komm. Begrüß deine Schwester.“
Ich nickte und wir gingen zusammen hinein. Es war eine richtige Partystimmung. Sogar alte Freunde aus unserer Schulzeit waren vorbei gekommen. Ich nickte ein paar Leuten zu und dann sah ich Julia. Sie kam auf mich zu und umarmte mich. Dünn war sie geworden und ein bisschen blass sah sie aus und so modisch gekleidet wie damals war sie auch nicht mehr.
„Wie schön, dass du wieder da bist.“ sagte ich, und ich meinte es ernst.
Meine Mutter erhob ihr Sektglas und rief in die Runde:
„Unsere Tochter war tot und ist wieder lebendig geworden! Sie war verloren und ist wiedergefunden!“


Ich lasse mich nicht mehr verletzen


Sie dachte an den gestrigen Abend, als sie im Badezimmer die Wäsche aufhängte. Frank hatte ihr eine Leine quer durch den kleinen Raum gespannt. Sie schluckte aufkommende Tränen hinunter, während sie eine kleine blaue Latzhose mit Klammern an der Leine festmachte.
Gestern Abend war es wieder besonders schlimm gewesen, wie es eigentlich schon in den letzten Monaten besonders schlimm gewesen war, seit Frank arbeitslos war. Sie hatte ihn doch nur gebeten, er solle sich doch einmal den Staubsauger ansehen, der schon seit einigen Tagen komische Geräusche machte. Einen neuen konnten sie sich schließlich im Moment nicht leisten. Sie hatte kleinlaut hinzugefügt, er hätte doch jetzt Zeit für solche Sachen, wäre doch sinnvoller, als den ganzen Nachmittag durch den Park zu laufen. Da war er ausgerastet. Er hatte geschrien und ihr eine Ohrfeige verpasst. Sie hätte es wissen müssen. Er wurde so leicht wütend.
Sanft strich sie sich mit einem Finger über die Wange. Es tat immer noch ein bisschen weh. Ihr kleiner Sohn kam polternd herein und riss sie aus ihren Gedanken. „Mutti, ich muss mal!“ Dass Kinder sowas immer vorher ankündigen mussten… Sie trat einen Schritt zur Seite, damit er auf die Toilette konnte. „Was macht denn Susi?“ „Kochen!“ „Was?“ Sie lief erschrocken in die Küche. Die 4-jährige Susi hatte sich einen Hocker genommen, um besser an die Herdplatte heranzureichen. Sie hatte einen Topf auf die Herdplatte gestellt und goss gerade etwas aus der großen Essigflasche in den Topf. Katrin bemerkte sofort erleichtert, dass der Herd nicht angeschaltet war. Sie schob ihre Tochter vom Hocker. „Was soll denn das? Geht doch spielen!“ Ihre Stimme war lauter geworden, als beabsichtigt, und Susi fing an, zu weinen. Der kleine Stefan rief von der Toilette:“Mutti!! Po abwischen!“ Katrin schob ihre Tochter aus der Küche und eilte ins Badezimmer, um Stefan behilflich zu sein. Ihr fiel ein, dass heute Morgen eine Ladung Kohlen gekommen war, die musste noch in den Keller geschafft werden. Wo Frank nur blieb? Er wollte doch nur zum Arbeitsamt und dann wieder nach Hause kommen, aber wahrscheinlich lief er wieder sinnlos durch den Park, wie fast jeden Tag. Sie spürte ihren Zorn wieder wachsen.
„Kinder kommt, ihr müsst Mutti helfen.“ Bewaffnet mit vier kleinen Eimern gingen sie hinunter vor die Haustür. Die Kohlenlieferung war wie immer direkt vor die Haustür gekippt worden und musste nun fünf Stufen hinunter in den Keller getragen werden. Katrin schippte den Kindern ein paar Kohlen in ihre Eimer. „Passt auf der Treppe auf!“ Dann trug sie selbst ihre vollen Kohleneimer hinunter in den Keller. Es war eine anstrengende und schmutzige Arbeit. Katrin verfluchte innerlich ihren Mann, der ihr eigentlich hätte helfen müssen. Sie dachte kurz daran, den Kohlenhaufen einfach für ihn liegen zu lassen. Aber dann fiel ihr die alte Karusseit aus dem dritten Stock ein, die sowieso immer was zu meckern hatte. Beim letzten Mal hatte sie sich auch gleich beschwert, dass die Straße nicht gründlich genug gekehrt worden war, nachdem die Kohlen im Keller waren. Und wenn sie die Kohlen einfach für Frank liegen ließ, würde er sicher wieder wütend werden.
Inzwischen war es schon halb sechs. Die Kinder hatten die Lust verloren und bewarfen sich im Keller mit Kohlenstückchen. Katrin schüttete den letzten Eimer im Keller aus und rieb sich den schmerzenden Rücken. Sie griff nach einem derben Straßenbesen und kehrte den schwarzen Staub vom Fußweg auf die Straße. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah sie eine Frau, die ihr schon öfter aufgefallen war. Sie kannte ihren Namen nicht, hatte ihr nur immer kurz zum Gruß zugenickt. Die Frau trug ein graues, knielanges Kostüm und hatte ihre blonden Haare zu einem kunstvollen Knoten geschlungen, in den sie ein helles Tuch gebunden hatte. Unter dem Arm trug sie eine Aktentasche und an den Füßen hohe weiße Schuhe. Katrin nahm an, dass sie gerade von der Arbeit kam. Die Frau schien im gleichen Alter wie Katrin zu sein, ein Kind hatte sie bei ihr allerdings noch nie gesehen. Katrin blieb stehen und strich sich mit ihren schmutzigen Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie sehnte sich schmerzhaft danach, auch einmal solche Kleidung wie diese Frau zu tragen und von einer Arbeit zu kommen, wo man ihr auf die Schulter geklopft hatte und ihr gesagt hatte, wie unentbehrlich sie doch für das Geschäft war. Ob diese Frau dort glücklich war?
Das Schreien ihrer Kinder riss sie aus ihren Gedanken. Stefan hatte sich am Holzregal gestoßen und sie sah, dass es wieder ein neuer blauer Fleck werden würde. Außerdem waren beide Kinder von oben bis unten schwarz mit Kohlenstaub. Sie wurde wieder wütend. „Kommt jetzt mit hoch und sofort ausziehen und in die Badewanne! Ich muss auch noch Abendbrot machen! Wie soll ich denn das alles immer schaffen?“ Ihre Stimme hatte einen weinerlichen Klang angenommen.
Als sie oben die Wohnungstür aufschloss, sah sie, dass sich auf dem Boden eine große Pfütze ausgebreitet hatte. „Oh nein!“ Die Kinder stürmten gleich an ihr vorbei. Stefan rutschte auf dem nassen Boden aus und war nun ebenfalls nass. Nass und schmutzig. Katrin lief ins Bad. Sie hatte richtig vermutet. Ihr Sohn musste vergessen haben, den Wasserhahn abzudrehen. Das Waschbecken war übergelaufen und der Fußboden im Bad war bereits überschwemmt. Jetzt fing sie wirklich an, zu heulen. Einen kurzen Moment fühlte sie sich wie gelähmt, dann drehte sie schnell den Wasserhahn zu, schnappte sich die Kinder und stellte sie, nass und schmutzig wie sie waren, einfach in die Badewanne. „Ihr bleibt da drin, bis ich komme! Ist das klar!“ schrie sie und griff sich hastig einen der Kohleneimer, um das Wasser vom Boden zu schöpfen. Ihr Herz raste vor Angst. „Oh Gott, sicher wird es in die Wohnung unter uns getropft sein… wie sollen wir das alles nur bezahlen? Frank ist doch arbeitslos!“ Stefan fing an, zu weinen. „Mutti, mir ist kalt!“ „Halt den Mund!“ schrie Katrin und klatschte einen Wischlappen auf den Fußboden. „Sieh nur, was du gemacht hast! Verdammte Scheiße!!“
Endlich war das Wasser aufgewischt und die Kinder gesäubert, gefüttert und ins Bett gebracht. Aus der unteren Wohnung hatte sich noch niemand gemeldet. Frank war noch immer nicht nach Hause gekommen. Katrin saß am Tisch, auf dem immer noch das Abendbrot stand, und starrte auf die Schachtel mit den Wurstscheiben. Sie dachte an den Wasserschaden, an die Schulden auf dem Girokonto, an die Kohlen im Keller, an die Frau von der Straße gegenüber, an Frank und an die Ohrfeige… Plötzlich fühlte sie eine völlige Leere in sich. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff sie nach dem Küchenmesser und schnitt sich tief in den Unterarm. Als sie das viele Blut sah, wurde sie ohnmächtig.

Frank war den ganzen Nachmittag durch den Park gelaufen, wie er es in den letzten Tagen meistens getan hatte. Im Arbeitsamt hatten sie ihm heute gesagt, dass im Ingenieurbüro der Firma Wageck & Co ab nächsten Monat eine Stelle frei wäre, für die er recht gute Chancen hätte. Am liebsten wäre er gleich nach Hause gelaufen und hätte Katrin die gute Nachricht mitgeteilt. Aber dann sagte er sich, lieber erst abwarten, bis es wirklich geklappt hat mit der Stelle. Er war in den letzten Monaten schon ein paarmal enttäuscht worden. Katrin hatte ihm dann meistens versucht, Mut zu machen, hatte ihm gesagt, bald klappt es, du wirst sehen. Aber das hatte ihn nur noch wütender gemacht. Was war er denn für ein Familienvater? Einfach eine Lachnummer! Von der schönen, hellen Dreizimmerwohnung hatten sie in diese trostlose Gegend hier umziehen müssen! Und er fühlte sich einfach außerstande, zu Hause mit anzupacken und Katrin die Arbeit zu erleichtern. Die Kinder zerrten einfach an seinen Nerven. Sie tobten durch die Wohnung, hinterließen überall Unordnung und wenn er sie anbrüllte, fingen sie lautstark an zu weinen. Katrin stellte sich dann jedes Mal auf ihre Seite und machte ihm Vorwürfe. Er fühlte sich einfach völlig nutzlos zu Hause. Er müsste morgens zur Arbeit gehen und Geld verdienen, damit seine Familie es schön hätte – genau das wäre seine Aufgabe.
Frank stieß mit der Schuhspitze wütend gegen einen Stein, der vor ihm auf dem Weg lag. Er sollte jetzt endlich nach Hause gehen.
Er bog in die Mozartstraße ein. Vor der Haustür fiel ihm nicht einmal auf, dass die Kohlen fort waren. Als er die Wohnungstür aufschloss, überfiel ihn plötzlich ein eigenartiges Gefühl. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Er hängte seine Jacke auf und ging ins Wohnzimmer. Katrin lag mit dem Kopf auf dem Tisch, mitten zwischen dem Abendbrotgeschirr, von der Tischdecke tropfte das Blut. Frank reagierte blitzschnell. Er riss das Geschirrtuch vom Haken und knotete es oberhalb der Wunde um ihren Arm. Er fühlte kurz ihren Puls am Hals und lief dann zum Telefon. Der Notrufzentrale sagte er nur, seine Frau würde gleich verbluten. Dann ging er zurück zum Tisch und nahm Katrin in seinen Arm. Sie hatte das Bewusstsein wiedererlangt und fing an, zu zittern. „Was hast du gemacht?“, jammerte er. „Was hast du gemacht?“ Er versuchte, einen klaren Gedanken in den Kopf zu bekommen. Sie hatte versucht, sich umzubringen! Warum nur? Wie konnte sie ihm das antun? Was sollte er jetzt nur tun? Als er die Sirenen des Krankenwagens hörte, fiel ihm etwas ein. Er griff nach einer großen Glasvase und zerschlug sie. Eine große, gezackte Scherbe beschmierte er etwas mit Blut. Jetzt konnte er den Sanitätern berichten, dass es ein Unfall war.
Als der Krankenwagen mit Katrin losgefahren war, rief Frank schnell noch bei seiner Mutter an und bat sie, bei den Kindern zu bleiben. Er sagte ihr nur, dass Katrin sich schlimm geschnitten hätte und seine Mutter fragte nicht weiter. Dann schnappte er sich sein Fahrrad und fuhr zum Krankenhaus.
Er durfte gleich zu ihr. Katrin ging es etwas besser. Der eine Arm war verbunden, in dem anderen steckte eine Kanüle, die mit einem Tropf verbunden war. Katrin sah ihn nur an. Sie war sehr blass. Frank setzte sich vorsichtig zu ihr auf die Bettkante. „Was hast du nur gemacht?“ flüsterte er. Im Krankenzimmer lagen noch zwei weitere Frauen, die neugierig in seine Richtung blickten. Katrin schwieg und sah ihn nur an. Frank nahm vorsichtig ihre unverletzte Hand. „Katrin, ich liebe dich. Alles wird gut. Ich werde mich bei Wageck bewerben, da gibt es eine freie Stelle als Ingenieur. Diesmal wird es bestimmt klappen!“
Katrin nickte stumm. „Er fragt gar nicht“, dachte sie. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und blickte an Frank vorbei aus dem Fenster. In ihrem Inneren hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie hatte nicht wirklich sterben wollen. Aber von jetzt an würde sie ihr Leben ändern. Alles würde anders werden. Zuerst die Kinder. „Ich brauche unbedingt Kindergartenplätze.“, dachte sie. „Und dann werde ich mir Arbeit suchen. Vielleicht gehe ich auch noch mal auf eine Schule. Ich lasse mich nicht mehr weiter verletzen.“
Sie sah jetzt ihrem Mann in die Augen und lächelte endlich.

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Tag der Veröffentlichung: 07.11.2012

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