Auf der Flucht
Fünf Minuten nachdem ich Platz genommen habe, sehe ich ihn zum ersten Mal. Entspannt beobachte ich ihn dabei, wie er einen Anwesenden nach dem anderen abklappert. „Bis er bei mir ist, bin ich über alle Berge“, denke ich beruhigt und schaue dem dicklichen Kerl amüsiert weiter zu.
Kurze Zeit später bemerke ich: Der Typ ist schnell. Wenn ich jetzt nicht gleich etwas unternehme, hat er mich schon bald erwischt. Betont lässig und gemächlich erhebe ich mich von meinem Sitzplatz und schlendere in Richtung Tür. Äußerlich mache ich einen völlig ruhigen Eindruck, innerlich werde ich aber langsam zum Vulkan, während vor mir ein alter Mann seelenruhig den ganzen Gang in Beschlag nimmt, weil er noch nicht entschieden hat, wo er sich hinsetzen soll. Großartig, das hilft mir auch nicht dabei, mich zu beruhigen.
Schließlich reicht es mir. Wenn ich hier noch weg will, dann hat der alte Sack eben Pech gehabt. Energisch dränge ich den friedhofsblonden Tattergreis in eine Gruppe von Jugendlichen, die meine Aktion mit einer lautstarken Schimpftirade quittieren. Mit einer Handbewegung gebe ich ihnen zu verstehen, wo sie sich ihre Vorschläge zur Verbesserung meiner Manieren hinstecken können. Ein Blick zurück und ich stelle erfreut fest, dass ich mindestens fünf Meter gewonnen habe. Allerdings wirft mir der Fettsack schon unheilschwangere Blicke zu und da ich keine Lust auf eine Unterhaltung habe, gehe ich sofort weiter.
Ungeduldig starre ich die Tür an und warte darauf, dass sie sich endlich öffnet. Schon nach kurzer Zeit wird mir klar: Hier kann ich nicht bleiben, ich muss noch ein Stück weiter gehen. Wild entschlossen, mich nicht fangen zu lassen, schiebe ich mich elegant an einem Paar mittleren Alters vorbei und weiche dabei noch geschickt dem jungen Mädchen aus, das gerade mit Schwung seinen Schulranzen schultert und mir damit beinahe einen Kinnhaken verpasst. Chinesische Schlangenmenschen sind nichts gegen mich!
Endlich erreiche ich die rettende Tür. Erfreut stelle ich fest, dass der Fettsack nicht schnell genug bei mir sein wird. Was mich allerdings stutzig macht, ist sein etwas schadenfroh aussehendes Lächeln. Ich ahne schlimmes. Wieso müssen solche Leute aber auch immer paarweise auftreten! Ich will mich mit einem verzweifelten Hechtsprung durch die sich öffnende Tür retten, als mich rot lackierte Fingernägel von hinten an der Schulter packen. Während ich mit erstaunlicher Kraft herumgedreht werde, höre ich die Worte, denen ich so gerne entkommen wollte: „Ihren Fahrschein bitte, junger Mann!“
Tag der Veröffentlichung: 09.01.2012
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