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Der Bus sollte pünktlich um 18 Uhr 27 eintreffen. Ich lehne mich bequem an einen Baum in der Nähe der Haltestelle und zündete mir eine Zigarette an. Meine kleine Tasche – und in ihr meine ganze Habe – steht neben mir. Die Sonne scheint mir unbarmherzig ins Gesicht und sorgt dafür, dass ich schon im Stehen meinen nächsten Schweißausbruch bekomme. Ein wunderschöner Altweibersommer. Nachdenklich blicke ich den Hügel hinauf.
„Ich will dich hier bloß nicht wieder sehen, verstanden?“ hatte man mir gesagt, als sich die Türen dort für mich öffneten. Ich nickte demjenigen, der das aussprach, zu und meinte scherzhaft, dass ich seine Fresse ohnehin keinen Tag länger ausgehalten hätte. Wir lachten beide.
Ungefähr zwei Meter von mir entfernt steht eine alte Frau, die mit einer Mischung aus Neugier und Angst in ihren Augen mein Äußeres mustert. Zu ihrer Verteidigung: Ich bin ja auch keine alltägliche Erscheinung mit meinen Tätowierungen und einer Körpergröße von mehr als zwei Metern. Dennoch hätte mich früher allein schon ihr abschließender verächtlicher Blick unsagbar wütend gemacht. Die Dame hat Glück, dass diese Zeit für mich vorbei ist. So glotze ich einfach blöd zurück und lächle dabei still in mich hinein, während sie mir ruckartig und demonstrativ den Rücken zudreht.
Es ist mittlerweile halb sieben und der Bus ist immer noch nicht da. Noch Zeit für eine zweite Zigarette. Wohnen werde ich in der nächsten Zeit bei meiner Schwester, einer echten Seele von Mensch. Jede andere hätte mir wohl gesagt, dass ich zum Teufel gehen kann, aber sie erzählt mir bei ihrem letzten Besuch sogar, wie sehr sie sich auf mich freut. Ich kann es kaum erwarten, sie und ihre Familie zu sehen.
„Lassen sie einfach alles, was sie in den letzten fünf Jahren erlebt haben hier zurück, wenn sich hinter ihnen die Türen schließen“, sagte man mir während einer meiner letzten Sitzungen. Genau das habe ich vor. Einfach neu anfangen. Tabula rasa. Endlich kommt der Bus und öffnet seine Türen. Ich schultere mit einer Hand meine Tasche und helfe mit der anderen der alten Lady dabei, die Stufen zu bewältigen. Sie bedankt sich für meine Geste und weiß ganz offensichtlich nicht, ob sie jetzt verwundert oder doch verlegen sein soll. Ich setze mich in die letzte Reihe und sehe der Haftanstalt auf dem Hügel dabei zu, wie sie langsam aus meinem Blickfeld verschwindet.

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Tag der Veröffentlichung: 21.10.2011

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