Cover

Leseprobe

Die Zeichen der Wetterdrachen

Band I: Im Drachenwetter

Wiebke Salzmann

Über das Buch

Drachenlicht am Himmel, ein nicht enden wollender Winter im Norden, Dürre im Süden, bis auch hier Schnee fällt. Ein geheimnisvoller Auftrag treibt sie zum Berg Hamra – aber jeder hat auch ganz eigene Gründe, sich auf die Wanderung zu machen: Hunar sucht seinen verschollenen Bruder, Bylgja will einen Krieg verhindern, Svala flieht vor einer Zwangsheirat und Askja ist neugierig auf die Welt jenseits der Grenzen des Gamlaskog.
Was hat es mit den Lichtern und dem unzeitigen Wetter auf sich? Und welche Rolle spielt der unheimliche Haukur in der Geschichte und in Hunars Familie?

„Die Zeichen der Wetterdrachen“ besteht aus zwei Bänden und ist Teil einer Reihe; mehr Informationen zum 2. Band „Am Berg des schwarzen Drachen“ und zu den anderen Romanen des Zyklus gibt es unter www.wetterdrachen.net.

Unter www.wetterdrachen.net/karte.html gibt es außerdem eine Karte der beschriebenen Landschaften.

Für die Drachenzeichnung auf dem Cover danke ich Stefanie Zill.

Erstes Zeitalter der Drachen

im Jahre 3173

Der Schmetterlingssammler

Die hohen Fenster standen offen und ließen die Sommersonne ein. Das im Laufe der Jahrhunderte nachgedunkelte Holz der Deckenbalken und Dielen verlieh dem Raum eine Ruhe, die selbst das Feilschen der Marktweiber und das Rumpeln der Ochsenkarren auf dem Kopfsteinpflaster zu dämpfen schien. Feill hatte, als er Hausherr wurde, fast alle Möbel entfernen und statt dessen gläserne Vitrinen aufstellen lassen, die er im Laufe der Zeit mit Schmetterlingen füllte – mit hunderten von Schmetterlingen, die er alle in den letzten Jahren gesammelt hatte. Jeder einzelne war für ihn ein Kunstwerk, gesponnen aus einzigartigen Mustern und Farben, leuchtend, als hätten die Sonnenstrahlen ein inneres Feuer in ihnen entfacht.
Feill wanderte zwischen den Vitrinen umher, dann und wann zärtlich über die Scheiben streichelnd. Seine Sammlung war fast vollständig. Nur noch ein Falter fehlte ihr, ein einziger – der sagenumwobene Schmetterling von der Spitze des Hamra.
Früher hatte er diesen Falter für eine reine Märchengestalt gehalten. Zu viele Legenden rankten sich um das Insekt, die unmöglich wahr sein konnten – wie die Geschichten von den Drachen. Feill hatte sie als Kind schon nicht geglaubt und konnte sich an die Einzelheiten seit Langem nicht mehr erinnern.
Den Schmetterling selbst gab es jedoch trotz der unglaubwürdigen Geschichten um ihn wirklich. Irgendeine Spezies, von der nur ein einziges Exemplar existierte, und die nur auf der Spitze des Hamra lebte. Niemand wusste, wie dieser Falter aussah. Niemand – außer Hrydja.
Sie hatte Feill ein Bild des Falters gezeigt. Ein Bild, das ihm seitdem keine Ruhe ließ. Es zeigte einen Schmetterling mit vier Flügeln, von denen jeder eine andere Farbe hatte: rot wie Blut, weiß wie Schnee, grün wie junges Buchenlaub im Frühling, golden wie die Sonne. Es war eine einfache Zeichnung, doch schien sie sich jedes Mal, wenn Feill sie sah, zu öffnen, als würde ein Schleier von dem Bild gezogen und gäbe den Blick frei auf etwas, das tiefer und wahrer war als das Leben, das Feill tagtäglich umgab. Und seit er das Bild des Schmetterlings zum ersten Mal gesehen hatte, kannte er nur noch einen Gedanken, eine Sehnsucht – er wollte teilhaben an der Wahrheit, die der Schmetterling verkörperte. Und dazu schien es nur eine Möglichkeit zu geben.
Den Schmetterling zu suchen und zu fangen.
Tag und Nacht hatte Feill seitdem darüber nachgedacht, wie er dies bewerkstelligen könnte. Ein Aufstieg auf den Berg Hamra war kein Nachmittagsspaziergang. Feill sah aus dem Fenster auf den Berg, der sich nordwestlich vor der Stadtmauer Hamarborgs erhob. Hoch strebte er hinauf und hüllte sein fernes Haupt in die Wolken. Auf den unteren Hängen wuchsen Tannen und bedeckten seine Geheimnisse mit einem undurchdringlichen Pelz. Hier und da hatten Steinlawinen Breschen in den Wald geschlagen, hatten sich Fluten aus Geröll durch das Grün gefressen. Jeder in Hamarborg hatte solche Felslawinen schon von weitem gesehen oder gehört. Sie kündigten sich durch ein Zittern an, das tief aus dem Innern der Erde zu kommen schien. Unter dem Hamra rumorte und bebte es, ließ das Geschirr in den Schränken erzittern und die Leute innehalten und lauschen, die Finger gekreuzt, um das Böse abzuhalten. Es war, als ob der Hamra sich gestört fühlte, als juckte ihn seine felsige Haut. Er knurrte unwillig wie ein Tier, ließ seine Muskeln zucken, um den Störenfried loszuwerden. Dann brach auf einem der Hänge eine Lawine aus Geröll und Schutt herunter, und nach einem letzten Zittern war der Berg wieder ruhig, wie ein Pferd, nachdem die Bremsen verscheucht sind.
Seit Feill in Hamarborg lebte, hatten diese leichten Beben nie eine ernsthafte Gefahr für die Stadt bedeutet. Aber oft genug waren bei Bauarbeiten verkohlte Ruinen aus vergangenen Jahrhunderten gefunden worden, und im Grunde seines Herzens wusste jeder, dass das leichte Zittern des Bodens wie ein Sommerwind war, der jederzeit zum Orkan anschwellen konnte. Die Ruinen, und mit ihnen das Wissen, wurden jedoch jedes Mal rasch wieder vergraben. Man tat alles, um den Hamra zu vergessen, vermied es, ihn anzusehen, sprach nicht von ihm. Und wenn, dann nur im Flüsterton. Aber der Hamra ließ sich nicht begraben. Und er ließ sich nicht vergessen. Wenn abends sein Schatten auf die Stadt fiel, wurden die Bewohner still, schienen sich die Fachwerkhäuser enger aneinander zu drücken, duckten sich die Ziegelbauten der Handelsherren, verstummte das Hufgeklapper in den Gassen. Sie spürten ihn, fühlten die Wachsamkeit, die in jedem einzelnen der oberhalb der Tannen steil aufragenden Felsen lauerte. Gelegentlich verkündete jemand im trunkenen Übermut, er wolle den Hamra bezwingen, aber noch keinem war es gelungen, bis auf den fernen Gipfel vorzudringen. Schon viele waren auf ihm umgekommen – abgestürzt, erfroren, von wilden Tieren zerrissen. Die Wenigen, die lebendig wieder heruntergekommen waren, träumten von schwarzen Ungeheuern, die sie mit dunkelrotem Feuer verfolgten, und von Augen. Augen, so dunkel wie geronnenes Blut. Augen, die niemals blinzelten, die niemals schliefen.
Trotz allem war Feill fest entschlossen, auf den Gipfel des Hamra zu gelangen. Stärker noch als die Drohung des Berges war seine Sehnsucht nach den Verheißungen des Schmetterlings. Aber es war nicht leicht gewesen, einen Begleittrupp zusammenzustellen. Kaum jemand war bereit, die Strapazen und Gefahren des Aufstiegs auf sich zu nehmen, und glaubte, die Kraft zu haben, dem Grauen der Felsen standzuhalten.
Ein Klopfen an der Tür riss Feill aus seinen Gedanken. Auf seinen Zuruf hin öffnete Hrydja die Tür und betrat den Raum. Feill versteifte sich unwillkürlich, Schatten schienen in den Raum zu fallen, obwohl keine Wolke die Sonne bedeckte. Trotz der Wärme fröstelnd zog Feill die Schultern zusammen. Er holte Luft, um diese Einbildung zu vertreiben, und ging grüßend auf sie zu. Sie war nicht eigentlich schön, trotz ihrer golden schimmernden Haut, ihrem alterslosen Gesicht und den Haaren, die sich wie eine goldbraune Flut bis auf den Boden ergossen. Nur die obersten Haare, die direkt am Scheitel entsprossen, waren weiß wie Schnee. Ihre Stirn war fliehend, die Nase scharf wie ein Schnabel, der jeden Moment zustoßen konnte, die Augenbrauen zwei waagerechte, weit nach außen reichende Striche – auch sie schneeweiß – aus deren Schatten die Augen sahen. Ihre Augen waren gelb wie Bernstein, aber ihnen fehlte dessen Wärme. Kalt und scharf wie geschliffener Stein waren sie bar jeder Gefühlsregung. Diese Augen waren der Grund, warum Feill ihr nie ganz vertraute, obwohl Hrydja viel Gutes für ihn und seine Stadt getan hatte. Sie kannte sich erstaunlich gut in Pflanzen aller Art aus und begnügte sich nicht nur mit dem Sammeln und Ordnen der Kräuter, sondern stellte auch Heilmittel aus ihnen her. Vielen hatte ihre Medizin schon geholfen. Trotzdem wandten sich die Leute erst in letzter Not an sie, denn sie fürchteten sie. Niemand redete mit ihr, wenn es nicht unbedingt nötig war. Und sie schien auch keinen Wert darauf zu legen. Im Gegenteil. Feill hatte einmal gesehen, mit welchem Hass sie die Menschen Hamarborgs betrachtete, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Als sie ihn bemerkt und ihm das Gesicht zugewandt hatte, hatte er gedacht, ihr Blick würde ihn versengen. Noch Stunden danach war sein Herz gerast, hatte er nach Atem gerungen. Aber Augenblicke später hatte sie sich wieder in der Gewalt gehabt und ihn mit dem gewohnten, kalten Gleichmut angesehen.
Eines der vielen Gerüchte über sie, von denen nur im Flüsterton gesprochen wurde, war, sie wäre ewig jung. Tatsache war, dass sie in der Zeit, in der Feill sie kannte, nicht älter geworden zu sein schien (was man von ihm selbst nun wirklich nicht behaupten konnte), und die alten Männer und Frauen behaupteten steif und fest, Hrydja hätte schon vor Jahrzehnten so ausgesehen, wie sie jetzt aussah.
Mühsam gelang es Feill, sein Unbehagen beiseite zu schieben und seine Gedanken zu sammeln. Er bot Hrydja einen der geschnitzten Stühle am Fenster an und setzte sich ihr gegenüber. Mit einer sparsamen, lautlosen Bewegung setzte Hrydja sich. Nicht einmal ihr Mantel raschelte. Gerade aufgerichtet saß sie, ohne die Lehne zu berühren, den Kopf leicht nach vorn geneigt. Ein Raubvogel auf dem Wachposten, bereit zuzustoßen.
„Ich bin gekommen, um dir Erfolg für deine Reise zu wünschen.“
Sie lächelte, aber wie immer blieben ihre Augen starr wie Edelsteine. Schön, aber steinkalt. „Was denkst du, wann du zurück sein wirst?“
„Das hängt davon ab, wie schwer es ist, diesen Schmetterling zu finden und zu fangen. Für den Auf- und Abstieg rechne ich mit jeweils etwa einer Woche, wenn nichts unvorhergesehenes passiert.“
Feill sah unwillkürlich zu dem schweigenden Berg hinüber. Auch ihm gelang es nicht, sein Grauen zu unterdrücken. Der Hamra verbarg hinter seinen abweisenden Felsen ebenso ein Geheimnis wie Hrydja hinter ihren reglosen Augen. Geheimnisse, die er lieber nicht kennenlernen wollte. Dann fuhr er fort: „Proviant habe ich für einen Monat eingepackt. Spätestens dann muss ich also zurück sein. – Hast du das Bild mitgebracht?“
Sie reichte ihm die Zeichnung. Aufmerksam betrachtete er das Bild, wie, um es sich einzuprägen. Was ganz und gar unnötig war. Er wusste genau, wie der Falter aussah, jede Faser, jede Einzelheit des Musters hatte sich förmlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Das Bild war das erste, was nach dem Aufwachen vor seinem inneren Auge erschien, und das letzte, mit dem er einschlief.
„Eines verstehe ich nicht, Hrydja – wenn dir so viel an dem Schmetterling liegt, warum hast du nie selbst versucht, ihn zu fangen?“
Etwas glomm kurz in ihren Augen auf, wie der Blitz eines Wintergewitters, aber als sie antwortete, war ihre Stimme unbewegt wie immer: „Mein Spezialgebiet sind Pflanzen – die stehen still dort, wo sie einmal gewachsen sind. Schmetterlinge flattern von einem Ort zum anderen. Ich bin zu ungeschickt.“
Irgendetwas sagte ihm, dass dies nicht die Wahrheit war, aber letztlich war das nicht sein Problem. Er hatte das Blitzen in ihren Augen gesehen, und er würde bestimmt nicht noch einmal fragen.
„Hier sind einige Kräuter, die dir unterwegs nützlich sein werden. Von dieser Mischung hier trinkt unbedingt jeden Tag einen Becher, dann können euch die Strapazen nichts anhaben, und ihr kommt heil und gesund wieder.“
Feill nahm die Kräuter dankbar an. Ihrem Kräuterwissen vertraute er. Der Schmetterling musste ihr wirklich sehr wichtig sein. Sie hatte Feill immerhin angeboten, ihn bis ans Ende seines Lebens von allen Krankheiten und Verletzungen zu heilen, nur dafür, dass er ihr erlaubte, den Schmetterling, wenn er erst gefunden und gefangen war, so oft anzusehen, wie sie wollte. Nun, solange sie den Falter nicht zerstörte, kümmerte es ihn herzlich wenig, wie oft sie ihn betrachtete. Schließlich war das auch der Grund, weshalb er selbst so leidenschaftlich Schmetterlinge sammelte: um sie zu betrachten und sich an ihren Farben und Mustern zu erfreuen.
Nur wenn er an den Hass in Hrydjas Augen dachte und der Schatten des Hamra sich über die Stadt legte, stieg eine dumpfe Ahnung in ihm auf, es könnte mehr dahinterstecken, und er könnte mit dem Fang des Schmetterlings Dinge in Bewegung setzen, die nicht wieder aufzuhalten waren.
Nachdem sie ihm den Gebrauch der Kräuter erklärt hatte, verließ Hrydja ihn. Er blickte ihr leicht schaudernd nach – von hinten sah sie immer aus, als schwebte sie. Es war dieser seltsame Mantel, den sie stets trug, gleichgültig, welches Wetter oder welche Jahreszeit gerade herrschten. Goldbraun floss er von ihren Schultern, verschwamm mit ihren Haaren und ließ ihre ganze Gestalt zerfließen. Es war unmöglich, den Blick scharf auf den Mantel einzustellen – die Konturen lösten sich auf wie Nebel, wallten wie Dampf, auch wenn kein noch so winziges Lüftchen wehte.
Wo auch immer sie ihn her hatte, er bestand aus keinem Material, das Feill jemals zuvor gesehen hatte.

*

Seit Tagen lag der Himmel schwer und schwül über der Stadt. Die Menschen bewegten sich schleppend, die Luft hielt sie mit klebrigen Fingern fest und schien zu zäh, um in die Lungen zu fließen. Um den Gipfel des Hamra ballten sich düstere Wolken, wurden von Tag zu Tag dichter und senkten sich tiefer und tiefer, bis sie wie Blei auf der Stadt lasteten. Bald würden sich die Dachbalken unter der Schwärze des Himmels biegen. Schon beugten die Wolken die Rücken der Menschen tief hinunter. Es war still geworden in der Stadt. Man sprach nicht mehr als nötig, die lastende Luft zerquetschte jeden Laut. Nachts wurde die Schwärze des Himmels total. Kein Stern, nicht einmal der Vollmond schaffte es, sein Licht durch die Wolken zu schicken, die den Himmel fest umklammert hielten. Das heftigste Unwetter, selbst ein Beben des Hamra hätten die Bewohner dieser brütenden Drohung vorgezogen. Aber das ersehnte Gewitter brach nicht aus.
Hrydja trat ans Fenster, um die Läden zu schließen, und warf einen kurzen Blick in den brütenden Nachthimmel. Die Stadt unter ihr lag still, Rattern, Rumpeln und Rufen waren verstummt, die Lichter gelöscht. Nur die Laternen der Nachtwächter leuchteten hie und da auf. Mäuse huschten durch die Straßen, eine Eule flog lautlos an Hrydjas Turm vorbei. Hrydja bleckte kurz die Zähne, aber es war eine gewöhnliche Schleiereule. Obwohl die kleinen Fenster ihres Turmes keine Glasscheiben hatten, schaffte es die Wärme der Sommernacht nicht, in das Turmzimmer einzudringen. Im Innern des Gemäuers war es kalt wie in einem Eiskeller.
Man hatte ihr diesen Turm vor vielen Jahren überlassen. Er stand direkt am nördlichen Stadttor und hatte ehemals der Verteidigung der Stadt gedient. Aber es herrschte seit langem Frieden zwischen den Bewohnern der Stadt Hamarborg und den Völkern im Norden, Osten, Süden und Westen.
Der gedrungene Turm hatte daher viele Jahre leer gestanden, bis Hrydja Interesse für ihn zeigte. Die oberste Etage bestand aus einem einzigen Raum mit acht kleinen Fensteröffnungen in alle Himmelsrichtungen, so dass von dem Turm aus die gesamte Umgebung der Stadt beobachtet werden konnte. Die Wände waren unverputzt, der Mörtel zwischen den grob behauenen Steinen bröckelte, der Boden bestand aus rohen Holzdielen. In diesem Raum hatte Hrydja sich eingerichtet – wenn man die Strohmatratze und zwei wackelige Hocker an einem einfachen Tisch als Einrichtung bezeichnen wollte. Ansonsten war der Raum kahl – keine Bilder, keine Teppiche, nichts, was auch nur einen Hauch Gemütlichkeit hineingebracht hätte, bis auf eine schmucklose Dose in einem Regal. In der Mitte des Zimmers, neben einer Treppenöffnung im Fußboden, brannte ein kleines Herdfeuer. Die Flammen wechselten ständig die Farben, gelbe, rote und grüne Feuerzungen kämpften um die Vorherrschaft und ließen zuckende Schatten über die Wände jagen. Aber sie verbreiteten keine Wärme. Das Feuer atmete die gleiche dumpfe Kälte aus wie die Steinmauern.
Reglos stand Hrydja am nordwestlichen Fenster. Nur ihre Augen fuhren die Hänge des Hamra hinauf und hinab, dann und wann aufglühend. Die Flammen des Feuers zischten jedes Mal wie zur Antwort und schlugen hoch. Das Gewitter durfte noch nicht niedergehen. Noch hatte der uralte Schwarze Wächter unter dem Hamra Feill und seine Leute nicht entdeckt. Und wenn Feill sich an ihre Anweisungen hielt und die Bergwanderer die Kräuter regelmäßig zu sich nahmen, würde er sie auch nicht entdecken. Hrydja wusste, was geschehen konnte, wenn der Schwarze Wächter seinen Schützling bedroht glaubte. Wenn er jemanden auf dem Hamra entdeckte. Der Schmerz beim Gedanken daran ließ sie auch heute noch die Finger verkrampfen. Und bis jetzt hatte er noch jeden entdeckt, gewittert mit seinen schwarzen Nüstern, gesehen mit seinen uralten, glühenden Augen. Vom Schwarzen Wächter hatte Hrydja Feill wohlweislich nichts erzählt, aber die Kräuter sorgten dafür, dass er die Eindringlinge nicht spüren konnte. Lange, jahrhundertelang hatte sie gebraucht, um die richtige Mischung zu finden. Es war nicht Mitgefühl mit den Kranken gewesen, das sie immer wieder Kräutertränke hatte brauen lassen, sondern die Suche nach einem Trank, der den Schwarzen Wächter täuschen konnte. Mitgefühl war das letzte, was sie jemals für Menschen empfinden würde.
Nur wenige Augenblicke hatte das Feuer des Schwarzen Wächters damals gelodert. Aber es brannte seit fünf Jahrhunderten in Hrydjas Seele. Nur noch zwei Gedanken beschäftigten sie. Der eine war der an ihre Rache, eine Rache, die sie seit Jahrhunderten mit kalter Sorgfalt plante. Der andere war der vom Ende ihres Schmerzes.
Und es gab ein Mittel, zurückzubekommen, was sie verloren hatte. Dieses Mittel befand sich auf der Spitze des Hamra. Und sie würde es sich holen.
Vielmehr – sich holen lassen. Deshalb hatte sie dafür gesorgt, dass Feill sich aufmachte zur Spitze des Hamra, um den Schmetterling zu holen. Sie war nicht sicher, ob der Trank ihr selbst Schutz bieten würde. Gewöhnliche Menschen schützte er offenbar tatsächlich, sonst wäre der Schwarze Wächter längst mit Feuer und Erdbeben aus seiner Höhle gekrochen, wäre das Gewitter längst niedergegangen. Aber der Schwarze spürte, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Und er suchte, suchte nach dem, was die unsichtbaren Grenzen des Hamra durchbrochen hatte. Hrydja spürte in der drückenden Schwüle seinen uralten Geist, der sich über den Berg tastete. Sie sah das dunkelrote Glühen, das den Nüstern des Schwarzen Wächters entströmte und im Dunkel der Nacht die Berghänge hinauf- und hinunterfloss, als hätte seine Wut die Luft ergriffen. Für Menschen war der rote Atem des Wächters unsichtbar, aber nicht für sie. Der rote Nebel wurde von Nacht zu Nacht stärker und begann, zu flackern und zu zucken. Auch dann, wenn der Schwarze Wächter Feill nicht entdecken würde, würde seine wachsende Spannung sich irgendwann in einem Gewitter oder in einem Erdbeben Luft machen. Er würde aufs Geratewohl versuchen, das, was immer den Frieden des Hamra störte, zu vernichten, indem er blind auf dessen Hängen wütete. Und bis dahin musste Feill mit dem Schmetterling wieder zurück sein.
Hrydja bewegte die Schultern, als spürte sie etwas wie einen Blick in ihrem Rücken. Rasch wandte sie sich um, durcheilte den Raum, trat an das südliche Fenster und beugte sich hinaus. Scharf musterte sie einen Punkt am nächtlichen Himmel – zu weit entfernt, als dass ein menschliches Auge ihn hätte entdecken können. Aber sie sah etwas, etwas, das schneller als der Sturm aus dem Süden heranschoss. Es hatte die Gestalt eines Vogels, eines Milans. Aber sie erkannte schnell, dass es keiner der Vögel war, die für sie arbeiteten. Dafür war er zu schnell. Langsam breitete sich Zufriedenheit auf ihrem Gesicht aus, kalt wie die Winter in Lyngmohaugan.
„Du kommst zu spät, Hugur“, murmelte sie, und das Eis in ihrer Stimme schien sich auf das Feuer zu senken. Sie trat ans Feuer und fütterte die dunklen Flammen mit Holzscheiten.
Bald hörte sie ein Flattern, und ein Milan, schwarz wie die sternenlose Nacht, landete auf dem Fenstersims. Sie ignorierte den Vogel, bückte sich nach weiteren Holzscheiten. Im Augenwinkel sah sie dunkle Schatten, aber erst nachdem sie weiteres Holz in die hoch aufschlagenden, jetzt blutroten Flammen geworfen hatte, drehte sie sich langsam zu ihrem Besucher um. Vor dem Fenster stand ein hagerer, großgewachsener Mann. Sein altersloses Gesicht sah Hrydjas Antlitz erstaunlich ähnlich – dieselbe fliehende Stirn, dieselben geraden Brauen, die die Augen in ihre Schatten drängten, dieselbe scharfe Nase, nur dass seine Hautfarbe dunkler als ihre und sein langes, dichtes Haar rabenschwarz war. Auch seine Augen waren schwarz, so schwarz, dass die Pupillen nicht zu sehen waren.
Der Hagere zog seinen schwarzen Mantel um sich und ging zum Feuer. Spritzend flogen die Funken. Sein Umhang zerfloss wie schwarze Nebelschwaden im Wind, ohne sich jedoch jemals völlig aufzulösen. In Wellen lief der Widerschein der zuckenden Flammen durch den Mantel.
Aber Hrydja kannte den Anblick, sie kannte die Natur der Mäntel und achtete nicht darauf. Der Hagere zitterte am ganzen Körper, und als er sich zu Hrydja umdrehte, zuckte sie unwillkürlich zurück vor der Wut, die aus seinen Augen sprang. Dann fasste sie sich wieder. Seine Wut entstammte seiner Ohnmacht. Sie hatte ihn und seine Wachsamkeit überlistet. Sie war ihm überlegen, und er wusste das.
„Bei den vier Einhörnern – Hrydja! Was hast du vor?“, zischte der schwarze Mann zwischen den Zähnen hervor. Er versuchte, äußerlich ruhig zu bleiben, aber es gelang ihm nur mit Mühe. „Was willst du auf dem Hamra?“
Sie betrachtete ihn gleichgültig. „Mir das einzige holen, was es dort zu holen gibt.“
Ihre Stimme klang ausdruckslos, aber ihre Haltung war angespannt. Auch wenn sie Hugur überlistet hatte, würde sie nicht den Fehler machen, ihn zu unterschätzen.
Sein kurzes, zorniges Auflachen und ein Zucken seiner Hände verrieten seine Unruhe: „Genau das ist es, was ich befürchte!“, fauchte er.
„Wenn du es so fürchtest“, der Hohn in ihrer leisen Stimme war wie ein schneidendes Messer, „frage ich mich, warum du erst jetzt kommst?“
Seine Augen loderten auf, und es sah einen Augenblick aus, als würde er sich auf sie stürzen, um sie zu erwürgen. Unwillkürlich hob Hrydja abwehrend die Hände, während die farbigen Flammenzungen um sich schlugen. Aber dann fiel Hugur zusammen.
„Das hast du ja erfolgreich verhindert. Du bist so stark wie ich geworden.“
Er zögerte einen Augenblick, musterte sie mit seinen schwarzen Augen, dann wandte er sich ab und stützte sich auf das Fenstersims. „Nein, stärker. Stärker als wir alle.“
Er seufzte, drehte sich um und sah ihr in die Augen: „Aber jetzt hast du es mit etwas aufgenommen, das größer ist als du. Viel größer. Wenn Feill den Schmetterling fängt, wird Ljosvaengur sterben. Und die Drachen ohne Führung zurücklassen. Sie werden außer Kontrolle geraten. Nichts und niemand wird sie aufhalten können! Du wirst vielleicht aufgrund deiner Kraft etwas länger leben als andere – aber auch du kannst nicht in einer Welt leben, in der die Jahreszeiten sich auflösen! Und wenn der Schwarze ...“
Bei der Erwähnung des Schwarzen Wächters war ihre herablassende Miene einen Augenblick zur Grimasse erstarrt, aber sie fasste sich fast sofort wieder. Ihr Lachen klang wie splitterndes Eis.
„Der Schwarze wird seine Höhle nicht verlassen. Bis die Drachen begreifen, was geschehen ist, vergehen Jahrhunderte. Du weißt, wie langsam Drachen reagieren. Und bis dahin ...“
Hugur kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Sie wusste, er hatte die Spur des Zweifels in ihrer Stimme bemerkt, als sie von dem Schwarzen Wächter sprach. Er hatte begriffen, dass der Schwarze Wächter eine Schwachstelle in ihren Plänen war. Aber auch er würde den Schwarzen nicht für seine Pläne nutzen können. Falls er welche hatte. Denn auch ihr war seine Unsicherheit nicht entgangen.
„Du Närrin!“
Sie konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte vor seinem Zorn.
„Was hast du vor? Bei Vindsvalurs Horn! Wenn der Schmetterling tot ist, wird die Welt untergehen. Du hast recht – es kann Hunderte von Jahren dauern, bis es soweit ist – aber sie wird untergehen! Und du mit ihr! Ist deine Rache an den Drachen das wert?“
„Oh ja, vieles wird untergehen ... und einiges ...“ Im letzten Moment gelang es ihr, ihre Gedanken vor Hugur zu verbergen.
Er sah sie lange an, während sie seinen unergründlichen Blick mit zunehmender Unruhe erwiderte. Es war schwer, die Mauer um ihre Gedanken zu halten, wenn er direkt vor ihr stand. Aber er durfte ihren eigentlichen Plan um keinen Preis erfahren. Er schien etwas sagen zu wollen, seufzte dann aber nur, drehte sich um und verließ langsam zu Fuß über die Treppe den Turm.
Hrydja sank auf ihr Lager und stützte das Kinn auf die Hände. Ihre sengenden Augen schienen Löcher in den Boden brennen zu wollen. Das Knirschen ihrer Zähne fand seinen Widerschein in giftgrünen Flammen, die durch das Feuer schossen. Sie würde eher sterben als es zuzugeben, aber im Grunde ihres Herzens fürchtete sie, dass er recht haben könnte. Dass der Schwarze Wächter ihre Pläne zunichte machen könnte. Sie hatte nur wenige Jahrhunderte Zeit gehabt, um ihr Vorhaben in die Tat umsetzen zu können – und einige Jahrhunderte waren eine sehr kurze Zeit für sie. Und sie wusste, was passieren würde, sollten ihre Pläne fehlschlagen. Niemand wusste das besser als sie, die schon einmal versucht hatte, die Drachen zu vernichten. Sie war gescheitert, aber die kleine Störung, die sie damals verursacht hatte, hatte genügt, einen der Steindrachen auf die Erde stürzen zu lassen. Das Leid, das sein zu schwarzem Stein verglühter Leib über ihr Volk gebracht hatte, war unvorstellbar. Der Tod ihrer Mutter war nur der Anfang gewesen.
Nein! Hrydja ballte die Fäuste, um die trüben Gedanken zu vertreiben. Sie war mächtig, und sie wurde immer mächtiger. Sie würde rechtzeitig in der Lage sein, die Drachen zu beherrschen! Und was noch viel wichtiger war, sie würde dem Schmetterling sein Geheimnis entreißen, seine Kraft nutzen. Denn es gab einen Weg, das zu tun. Sie hatte es entdeckt, und niemand außer ihr wusste, wie man es anstellen musste. Hrimugla und Hugur waren schon lange nicht mehr in der Lage, die Mauer zu durchbrechen, die sie um ihre Gedanken errichtet hatte. Sie war tatsächlich stärker als Hugur, viel stärker. Er, der die eigentliche Schuld an allem trug. Wären Hugur und die rote Wölfin nicht gewesen, wäre die entsetzliche Kette aus Unglück nie in Gang gesetzt worden. Und Eldur und Kria würden noch leben.
Aber sie würde sich rächen. Wenn sie erst die Drachen beherrschte, war es ein Leichtes, Elend und Hunger über die Menschen zu bringen. Und über ihre eigenen Verwandten. Aber vorher ... Ihr Blick wurde einen Moment sanft, als er auf die Dose fiel.
Hrydja hob lauschend den Kopf, trat dann ans Fenster. Ein leises Wimmern und Klagen wehte durch die Luft. Man spürte es mehr, als dass man es hörte – es war, als seufzte der Nachthimmel. Traurigkeit breitete sich unter den Wolken aus, Schmerz wehte vom Hamra herunter, hing für einen Moment wie Hilfe suchend über der Stadt und löst sich in einem Seufzer auf. Diejenigen, die in der drückenden Schwüle nicht schlafen konnten, hörten auf, sich hin und her zu wälzen, und lauschten der Wehmut hinterher, die die Luft erfüllte. Klagende Stimmen wehten durch die Träume der Schlafenden. Viele ergriff Angst, eine schreckliche Angst, etwas Wichtiges verloren zu haben. Und nicht wenige weinten bittere Tränen, ohne zu wissen warum.
Unten auf dem gepflasterten Platz sah Hrydja Hugur innehalten und lauschend den Kopf heben. Seine Augen weiteten sich, er hatte begriffen, was passiert war. Dann senkte er den Kopf, schien zusammenzuschrumpfen und ging schleppenden Schrittes weiter. Als sie ihn so müde und gebeugt verschwinden sah, hätte sie fast Mitleid mit ihm gehabt.
Dann wurde ihr bewusst, was das Wimmern bedeutete.
Feill war auf der Spitze des Hamra angekommen.
Ljosvaengur war tot.
Hugur und seine Schwester Hrimugla waren die einzigen gewesen, die sie an ihren Plänen hätten hindern können. Jetzt war es zu spät dazu. Diesen Kampf hatten sie verloren.
Ein grellroter Blitz zerriss den Himmel und von der Spitze des Hamra schoss gleißendes Licht in die schweren Wolken.
Dann krachte endlich der erste Donner, und der Regen ergoss sich wie eine Sturzflut über die Stadt.

*

Der Aufstieg auf den zerklüfteten Berg war hart und anstrengend wie nie zuvor etwas in Feills Leben. Oft dauerte es Stunden, einen Weg durch die Felsen und das Geröll zu finden. Erst schlugen sie Pfade durch die dicht verwachsenen Wälder, dann standen sie immer wieder vor lotrecht aufstrebenden Klippen. Mehr als einmal waren sie kurz davor aufzugeben. Pflanzen gab es immer weniger, je weiter sie sich dem Gipfel näherten, bald waren es nur noch ein paar trockene, graue Flechten. Dafür wurden die Felsen höher und düsterer.
Trotzdem fand sich immer ein gangbarer Weg und es war nicht die Unwegsamkeit der Hänge, die die Männer auslaugte, bis sie das Gefühl hatten, nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen; auch nicht die Kälte. Die Felsen selbst waren es. Sie schienen sie zu beobachten, zuerst mit Misstrauen, dann mit offener Feindschaft, die wie blutroter Nebel aus dem Gestein quoll, in der Luft hing und schließlich die Gedanken durchdrang. Immer wieder drehten sich die Bergsteiger furchtsam um, erwarteten, von hinten angegriffen zu werden. Viele hatten nachts Träume von dunkelrot glühenden Augen, die sie schließlich auch tagsüber verfolgten. Augen wie Blut, Augen, die niemals blinzelten. Einige von Feills Begleitern gaben nach den ersten zwei Tagen auf und kehrten um. Die ständige Angst vor einer namenlosen Bedrohung, einer Bedrohung, zu der kein Feind gehörte, den man bekämpfen konnte, umschlang ihre Gedanken, bis sie alles andere vergaßen. Immer apathischer wurden sie, einige vergaßen nach drei Tagen sogar gänzlich, warum sie eigentlich auf den Berg stiegen. Sie vergaßen, dass man für so etwas einen Grund brauchte.
Aber der Berg lag still. Kein Lüftchen wehte, kein Vogel zwitscherte. Nichts geschah – keine Steinlawine, kein Beben, gar nichts. Nur die Luft wurde immer schwerer. Die drohenden, schwarzen Wolken, die sich am ersten Tag ihrer Wanderung über dem Gipfel gebildet hatten und sich seitdem Tag für Tag bleischwer am Himmel türmten, wurden immer mächtiger und senkten sich tiefer und tiefer, bis die Wanderer durch sie hindurchwateten. Schwarzer Nebel hüllte sie ein, hing mit zähen Fingern an ihnen. Die Luft war zu dick zum Atmen, sie schien die Lungen zu verkleben, bis die Leute glaubten zu ersticken. Hass stieg aus dem Berg auf, sickerte aus jeder Felsritze, kroch über den Schnee, quoll aus den schweren Wolken, fast konnte man ihn mit den Händen greifen. Feill hatte mehr als einmal den Wunsch aufzugeben, sich hinzulegen und nie wieder aufzustehen. Aber etwas in ihm, von dem er das dumpfe Gefühl hatte, dass es gar nicht zu ihm gehörte, trieb ihn weiter, immer weiter auf den Berg hinauf.
Als sie den Gipfel dann endlich am Ende ihrer Kräfte erreichten, sich mühsam die letzte Felswand hinaufzogen, indem sie einander auf die Schultern stiegen, wollten sie ihren Augen kaum trauen:
Auf der Spitze des grausamen Berges befand sich ein Paradies. Nach dem grauenvollen Aufstieg zwischen den drohenden Felsen und den vielen Nächten, die sie auf bloßem Stein unter dem brütenden Himmel verbracht hatten, breitete sich vor ihnen eine saftige Wiese aus, geradezu verschwenderisch mit Blumen übersät, Gänseblümchen, Glockenblumen, Mohn und Ringelblumen und viele, viele andere, die Feill gar nicht kannte. Über all dieser Pracht strahlte die Sonne aus einem Fleck leuchtend blauen Himmels, der sich zwischen den schwarzen Wolkenbergen genau über dem Gipfelplateau öffnete. Insekten schwirrten über die Wiese, brummende Hummeln und schillernde Libellen. Ein Bach floss gluckernd auf einen Teich in der Mitte des Rasens zu. Das Wasser war frisch und klar, und kleine Fische tummelten sich darin. Neben dem Teich stand ein Hibiskus, über und über voll von leuchtend roten, blauen und weißen Blüten. Der stille Teich zog die erschöpften Menschen magisch an. Während seine Begleiter sich am Ufer fallen ließen um zu trinken, ging Feill langsam, wie träumend, auf den Hibiskus zu. Er spürte, dass er am Ziel war. Dass er es wider alle Vernunft geschafft hatte. Und dann sah er ihn, den Schmetterling, von dem er so lange geträumt hatte. Zärtlich blickte er auf das Insekt. Es sah aus wie auf der Zeichnung und doch so viel zarter und zugleich so voll von Leben, dass es Feill beinah wie ein Verbrechen vorkam, den Falter fangen zu wollen. Als wäre er die Seele, aus der alle anderen ihre Kraft schöpften.
Die Farben der vier Flügel leuchteten in der Sonne – weiß wie sonnenbeschienener Schnee, grün wie ein Buchenwald an einem Sommertag, rot wie die untergehende Sonne und schimmernd wie flüssiges Gold. Feill war so glücklich wie noch nie in seinem Leben. Ihm war, als hätte er ein kostbares Geheimnis entdeckt.

Er kniete vor dem blühenden Busch und betrachtete den ersehnten Fund. Der Falter machte keine Anstalten davonzufliegen, sondern ließ es ohne Schwierigkeiten zu, dass Feills Netz sich über ihn stülpte.

In dem Augenblick, in dem Feill den Schmetterling behutsam von dem Zweig herunternahm, verstummte plötzlich das geschäftige Summen und Brummen der Insekten. Der Duft der Blumen verflog, das Sonnenlicht verlor seinen Glanz, als hätte jemand Asche über den Himmel gestreut. Wie Wolkenfetzen wirbelten verschiedenste Gefühle um Feill, Entsetzen, Unverständnis, Trauer und die Vorahnung von Unheil wehten durch seinen Geist wie Wind durch einen Baum. Sprachlos, unfähig, sich zu rühren, lauschte er den Empfindungen nach, als sie allmählich wie ein Seufzer verklangen. An den Gesichtern der anderen, die mit erschrockenen Augen von dem Teich zu ihm herübersahen, sah er, dass er nicht der einzige war, der all das spürte.
Dann wurde es dunkel, die schwarzen Wolken drangen in den blauen Himmelsfleck ein und verschluckten das Licht, Schatten krochen rasch über die Wiese. Durch den Berg lief ein schwaches Zittern, wie das Grollen eines wilden Tieres, und roter Nebel floss über die Lichtung, tauchte sie in blutiges Licht.
Feills Leute fuhren auf, wichen zurück, ihre aufgerissenen Augen starrten in das unheilvolle Licht. Sie schlangen die Arme um sich, versuchten, das Licht von sich abzuwischen. Dichter und dichter wurde das Leuchten, bis sie meinten, in einer roten Flüssigkeit zu schwimmen. Als der erste die Nerven verlor und brüllend zusammenbrach, war der Bann gebrochen. Kopflos flohen sie den Abhang hinunter, rasten wie von Sinnen schreiend den Berg hinab und stießen sich gegenseitig in die Tiefe bei dem Versuch, dem Berg zu entkommen.
Als Feill ihnen durch den roten Nebel folgen wollte, hörte er durch sein eigenes Grauen hindurch ein leises Wimmern und Klagen, das sich kaum hörbar in die Luft erhob und schließlich mit einem wehmütigen Seufzer verklang.
All das hatte nur einige Augenblicke gedauert, aber als Feill sich wieder dem Schmetterling zuwandte, war dieser tot.
Im selben Moment zerriss ein feurig roter Blitz die Dunkelheit der Wolken.

*

Für einen kurzen Augenblick war die Holzhütte in einem der weniger wohlhabenden Stadtteile Hamarborgs hell erleuchtet. Das Feuer des roten Blitzes erhellte das schlichte, aber saubere Zimmer. Ein Schrank, ein Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Spinnrad machten die gesamte Einrichtung aus. Vor dem Bett lag ein bunter Flickenteppich auf dem mit Binsen ausgestreuten Boden, und auf dem Tisch stand ein Strauß Sommerblumen. Ordentlich gefältete Gardinen verdeckten das einzige Fenster, und gegenüber der Tür glommen trotz der Wärme die Reste des Herdfeuers. Zwischen den Decken im Bett lugte weißes Haar hervor, das im Licht des Blitzes rötlich schimmerte.
Der fast sofort folgende Donnerschlag ließ die Hütte beben und riss Mysla aus dem Schlaf. Erschrocken fuhr sie im Bett hoch und starrte atemlos ins Dunkel. Regen prasselte auf das Dach, und der plötzliche Sturm riss an den Fensterläden. Kühle, frische Luft drang durch die Ritzen und verscheuchte die bedrückende Schwüle. Wieder erhellte ein Blitz das kleine Zimmer, aber diesmal war es das blauweiße Licht gewöhnlicher Blitze. Der Donner krachte ohrenbetäubend. Als Mysla feststellte, dass es nur das langersehnte Gewitter war, was sie geweckt hatte, wollte sie erleichtert wieder in ihr Bett zurücksinken und die sich ausbreitende Kühle genießen. Aber nachdem der Donner grollend verebbt war, klopfte es. Es klang leise im trommelnden Regen, aber dringend. Nun, dringend musste es ja wohl auch sein, schließlich war es mitten in der Nacht und nicht unbedingt die richtige Zeit, um alte Frauen ohne wichtigen Grund aus dem Bett zu scheuchen. Sie stand seufzend auf und suchte eine Wolljacke, fuhr sich mit der Hand durch das wirre, weiße Haar, das sich aus dem Zopf gelöst hatte, und schlurfte zur Tür. Die Hand schon an der Klinke, besann sie sich eines Besseren und fragte: „Wer ist denn da?“
„Ich bin’s – mach auf, es ist wichtig!“
Sie wollte schon eine bissige Bemerkung machen über Leute, die es nicht nötig hatten, ihren Namen zu nennen, weil sie glaubten, jeder kennte sie, als sie die raue, dunkle Stimme tatsächlich erkannte. Seit über zwanzig Jahren hatte sie sie nicht mehr gehört, und vor Erstaunen brauchte sie noch einige Augenblicke, um dann endlich die Tür zu öffnen. Ihr nächtlicher Besucher wurde bereits spürbar unruhig.
„Mysla – um der Einhörner willen – lass mich endlich rein!“
Als sie die Tür öffnete, huschte eine große, schwarze Gestalt an ihr vorbei ins Zimmer. Ihr Mantel streifte Myslas Arm und das Kribbeln wie von tausend Ameisen, das er verursachte, sagte ihr deutlicher als alles, dass sie tatsächlich Hugur vor sich hatte. Sie schloss die Tür wieder, stellte sich mit verschränkten Armen davor und betrachtete ihren nächtlichen Gast kopfschüttelnd. Hugur saß mittlerweile am Herdfeuer auf dem Boden und drückte seine langen, klatschnassen Haare aus. Der schwarze Mantel, der um ihn herum wie Nebel auf den Boden floss und doch über den Binsen zu schweben schien, war trocken.
„Es ist ja wirklich nett, dass du mich nach so langer Zeit auch mal wieder besuchst, aber ging es nicht zu einer passenderen Tageszeit?“
„Es tut mir leid, aber ich fürchte, es ging wirklich nicht anders.“
Er hob den Kopf und betrachtete sie stirnrunzelnd von oben bis unten. „Ich hatte ganz vergessen, wie schnell Menschen altern.“
„Das darf ja wohl nicht wahr sein!“ Kampflustig stützte Mysla die kräftigen Arme in die Seiten und kniff die braunen Augen zusammen. „Du schneist hier mitten in der Nacht unangemeldet herein, tropfst alles um dich herum nass und wirst dann auch noch frech?“
„Friede!“ Er hob müde lächelnd die Hände. „Es tut mir leid, ich werde mich bessern!“
„Das will ich hoffen, sonst kannst du gleich wieder gehen, egal, ob es regnet oder nicht. – Aber du bist vermutlich ohnehin nicht gekommen, weil es dir draußen zu nass ist?“
„Nein, bin ich nicht.“ Er seufzte, und es war, als fielen Schatten auf sein Gesicht. „Ich wünschte, es wäre so. Mysla, ich brauche deine Hilfe.“
Sie ließ sich auf der Bettkante nieder und sah ihn fragend an. „Du brauchst die Hilfe eines Menschen? Und ausgerechnet meine? Wie du richtig bemerkt hast, bin ich eine alte Frau – nein, ich bin nicht beleidigt, es ist nun mal so, und ich fürchte, es gibt nicht mehr allzu viel, was ich für dich tun kann.“
Er betrachtete sie prüfend mit diesem Blick aus seinen nachtschwarzen Augen, bei dem sie immer das Gefühl hatte, er könne ihre innersten Geheimnisse lesen. Aber wenn er das wirklich konnte – und es sprach einiges dafür, dass er es konnte – hatte er es noch nie ausgenutzt. Sie kannte ihn und vertraute ihm seit vielen Jahren, auch wenn sie es immer für klüger gehalten hatte, niemandem von dieser Freundschaft zu erzählen.
Dann zuckte Hugur mit den Schultern und meinte: „Wie auch immer, du bist der einzige Mensch hier, dem ich voll und ganz vertrauen kann. Der einzige, der nicht von Hrydja beeinflusst oder eingeschüchtert ist. Und der einzige Mensch, der an unsere Existenz glaubt.“ Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.
Mysla schnaubte. „Hätte ich mir denken können, dass diese Hexe der Grund ist.“
Sie stützte den Kopf in die Hände. „Was also ist los?“
„Du weißt von der Expedition von Feill und seinen Leuten auf den Hamra?“
Sie nickte: „Die ganze Stadt spricht von nichts anderem. Diese Dummköpfe bilden sich ein, sie könnten einfach so auf den Berg marschieren und Ljosvaengur fangen und ihn anschließend in eine Glasvitrine setzen. Weiß der Himmel, wer ihnen das eingeredet hat.“
„Das kann ich dir sagen – Hrydja hat sie dazu gebracht. Und sie konnten einfach so auf den Berg marschieren und den Schmetterling fangen. Hrydja hat die nötigen Vorkehrungen getroffen.“
„Wie meinst du das?“ Myslas Stimme wurde heiser, als sie voll böser Ahnungen den Kopf hob und die Hände sinken ließ.
„Ljosvaengur ist tot.“
„Er ist ...“ Fassungslos starrte Mysla ihren Besucher an. Das Begreifen sickerte langsam wie ein Gletscher in ihr Blut. Sie versuchte, es aufzuhalten, weigerte sich einfach zu glauben, was Hugur sagte.
„Wie ... wie soll das ... nein, es ist unmöglich, das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein.“
Aber sie las in seinem Gesicht, dass es so war.
„Aber das ist – was wird jetzt passieren? Was kann jetzt überhaupt noch passieren?“
Wie ein Schlag in den Magen traf sie endlich die Erkenntnis, dass Hugur ihr gerade vom Ende der Welt erzählt hatte. Trotz der sommerlichen Wärme wurde ihr eiskalt.
„Ich weiß es nicht genau.“ Hugur sprach zögernd. „Ich weiß nicht, was genau Hrydja vorhat. Nur, dass es bestimmt nichts Gutes ist. Ich wusste, dass sie die Drachen hasst. Ich weiß auch, warum ...“
Er stockte und sah einen Moment vor sich hin. Mysla wusste nicht, wovon er sprach, aber es musste etwas Furchtbares sein, unaussprechliches Leid stand in seinen sonst so reglosen Augen. Dann fuhr er unvermittelt fort: „Aber ich habe nicht geglaubt, dass sie so wahnsinnig sein könnte, sich an dem Schmetterling zu vergreifen. Sie hat ihre Absichten geschickt verborgen, vor mir und vor Hrimugla. Erst als ich die wachsende Unruhe im Berg spürte und dann feststellte, dass ein Trupp Menschen – und unter ihnen dieser Schmetterlingsfreund – offensichtlich völlig unbehelligt den Hamra erklomm, begann mir langsam zu dämmern, worauf sie es abgesehen hatte. Sie hat es geschafft, der Schmetterling ist fort, und er ist tot. Nur was ihr das nützt, begreife ich nicht. Denn nicht den Drachen wird Unheil geschehen, sondern uns – uns allen, die wir auf dieser Welt leben. Und dazu gehört auch Hrydja selbst. Nein, ich habe absolut keine Ahnung, was sie vorhat.“
Mysla sah die Ratlosigkeit auf seinem Gesicht und glaubte, an ihrem Entsetzen zu ersticken.
Sie wusste um die Bedeutung des Schmetterlings und der Drachen für die Erde. Und sie ahnte, dass sowohl ihr guter, alter Bekannter Hugur als auch Hrydja über weit mehr Macht verfügten, als sie sehen ließen.
„Wenn ich daran denke, dass ich ihr alles beigebracht habe, was sie jetzt auf so unheilvolle Weise einsetzt ...“ Hugur knirschte in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen.
„Was ist mit den Drachen?“, unterbrach Mysla ihn. „Was kann man denn jetzt noch tun? Was kann ich tun?“
„Die Drachen sind kein Problem. Noch nicht. Sie erledigen ihre Aufgabe fast von allein, und es wird sehr lange dauern, bis sie merken, dass etwas nicht stimmt. Und noch länger, bis sie begreifen, was nicht stimmt. Aber auch, wenn sie es nicht merken, werden sie Fehler machen. Fehler, die für uns Erdbewohner verhängnisvoll sein werden. Aber ihre Langsamkeit gibt uns die Zeit, etwas zu unternehmen. Denn der Schwarze Wächter hat nicht begriffen, was auf dem Hamra passiert ist. Sonst hätte er Hamarborg längst in Schutt und Asche gelegt. Er weiß, dass etwas passiert ist – aber solange er seine Höhle nicht verlässt, wird er nicht herausfinden, was. Und das wird er hoffentlich nicht tun, solange nicht die Drachen oder etwas anderes ihn aufstört. Bevor das passiert, muss ...“
Er begann, ihr seinen Plan zu erklären.
„Und warum tust du das nicht selbst?“
„Weil Hrydja sofort bemerken würde, wenn ich mich in der Nähe des Schmetterlings herumtreiben würde. Auf dich achtet sie nicht. Sie weiß nichts von unserer Freundschaft.“ Ein grimmiges Lächeln überflog sein Gesicht. „Das wiederum habe ich vor ihr verborgen.“
Sie sah ihm in die Augen. „Wie groß ist die Hoffnung, dass dein Plan gelingt?“
Sein Lächeln war ziemlich gezwungen, als er antwortete: „Wir haben nur diesen Plan, Mysla. Die Alternative wäre, tatenlos zuzusehen, wie die Erde in den nächsten Jahrhunderten langsam unbewohnbar wird.“
Er seufzte und ballte die Fäuste: „Und wenn der Schwarze doch aus seiner Höhle hervorkriecht ...“
Ein Blitz tauchte die Hütte in flackernde Helle, und der heftige Donnerschlag verschluckte den Rest seiner Worte.

*

Feill sank erschöpft auf sein Bett und barg das Gesicht in den Händen. Er fühlte sich hundeelend und war dankbar für die nächtliche Dunkelheit in seinem Schlafzimmer.
So hatte er sich das nicht vorgestellt.
Auch als nach dem Gewitter die Wolken verschwunden waren, hatte Feill den Sonnenschein nicht wahrgenommen. Er war durch einen roten Dunst gewankt, der auf seinem Hirn und seinen Augen lag, hatte keine Nacht ohne Alpträume verbracht, Alpträume, in denen ihn glühende Augen verfolgten. Dunkelrot brannten sie sich in seine Seele, bis er nichts anderes spürte. Tagsüber schien die Welt in rotem Nebel zu liegen, durchdrungen von schwarzen Schwaden aus Hass. Seine Angst war ständig gewachsen, nur mühsam hatte er die aufsteigende Panik immer wieder niederringen können. Er hatte schon beim Aufstieg bemerkt, dass Hrydjas Kräuter ihm gegen diese grauenhafte Angst halfen, und als er den Rest der Kräuter ganz für sich allein hatte, kaute er sie gleich so, ohne vorher Tee aufzubrühen, was ihre Wirkung verstärkte. Trotzdem blieb er immer wieder röchelnd stehen und glaubte zu ersticken. Er hatte Halluzinationen, der nackte Fels schien sich plötzlich in einen nachtschwarzen Drachen zu verwandeln, in gestaltgewordenen Hass, der sich vor ihm aufbäumte und Feuer wie dunkles Blut spie. Alle paar Schritte sah er sich wie gehetzt um, aber nirgendwo konnte er etwas entdecken, was wirklich eine Gefahr dargestellt hätte.
Irgendwie kam er heil unten an. Als einziger. Keiner seiner Begleiter überlebte die überstürzte Flucht, einige fand er unterwegs mit gebrochenem Genick. Etliche leblose Körper schienen gar keine Verletzung zu haben. Nur ihre toten Gesichter waren verzerrte Masken des Grauens.
Zu Hause angekommen, wurde er zwar begeistert empfangen, aber er selbst konnte sich weder über die Heldentat, den Hamra bestiegen zu haben und gesund zurückgekommen zu sein, noch über den Schmetterling freuen, der so lange das Ziel seiner Wünsche gewesen war. Der rote Nebel auf seinen Gedanken verschwand nicht, und er schleppte sich freudlos und niedergeschlagen durch den Tag. Er fror in der Mittagshitze, sah den Sonnenschein nur durch einen blutroten Dunst, und die Stimmen der Menschen hörten sich an wie das leise Zischen von Drachenfeuer. Manchmal fuhr er auf und sah sich gehetzt um, als erwartete er, diese roten glühenden Augen hinter sich zu sehen.
Er fühlte sich mitschuldig am Tod seiner Begleiter und fragte sich, ob der Schmetterling diesen Preis wert gewesen war. Mehr und mehr hatte er auch das Gefühl, dass er nicht nur aus eigenem Antrieb gehandelt hatte. Irgendetwas, irgendjemand hatte ihn den Berg hinaufgetrieben und auch wieder hinunter. Als er das unheimliche Leuchten in Hrydjas Raubvogelaugen sah, den kurz aufflackernden Triumph, als er ihr den Schmetterling zeigte, glaubte er auch zu wissen, wer das gewesen war.
Aber vielleicht war er auch nur zu erschöpft, und seine Fantasie spielte ihm Streiche. Einige Nächte im eigenen Bett würden ihm sicher gut tun. Er war eben nicht mehr der Jüngste. Seufzend schob er die bestickte Tagesdecke beiseite, kroch zwischen die Kissen und versuchte zu schlafen. Aber die Ereignisse des vergangenen Tages wirbelten durch sein Hirn und ließen ihm keine Ruhe. Hrydja hatte den Schmetterling bewacht wie eine Löwin ihr Junges. Feill verstand das nicht. Die Nachricht von seiner Expedition hatte sich in der ganzen Stadt verbreitet, und natürlich wollten die Leute den sagenumwobenen Falter jetzt mit eigenen Augen sehen. Als eine alte Frau den Schmetterling vorsichtig mit dem Finger berührt hatte, war Hrydja förmlich mit gezückten Krallen auf sie losgegangen. Sie hätte der armen Alten das Gesicht zerkratzt, wenn Feill nicht dazwischen gegangen wäre. Völlig verängstigt hatte die alte Frau fluchtartig den Raum verlassen, während Hrydja ihr mit zu Schlitzen verengten Augen hinterher gestarrt und dann das Zimmer durch die gegenüberliegende Tür verlassen hatte.
Es hatte keinen Zweck, Feill musste auf andere Gedanken kommen. Solange er ständig diese – und andere – seltsame Szenen vor seinem geistigen Auge sah, würde er nicht schlafen können. Sein Blick wanderte durch das Zimmer, blieb am Bücherregal hängen. Er war nie ein großer Leser gewesen, kannte nur von wenigen der Schriften, die seine Großmutter hinterlassen hatte, den Inhalt. Lange starrte er auf den verbrannten Rücken eines uralten Werkes. Nur schwach war das rot und grün geprägte Leder unter den Brandspuren noch zu erkennen. Er hatte es nie gelesen. Hrydja hatte es sich einmal ausgeliehen. Danach hatte er eine unüberwindliche Abneigung gegen das nach Rauch riechende angesengte Buch verspürt. Und auch diesmal wanderte sein Blick weiter. Frische Luft war es, was er brauchte. Er stand auf und lehnte sich aus dem Fenster. Der Himmel war sternklar, aber es schien kein Mond. Menschenleer und dunkel lag der Platz zwischen Feills Haus und dem nördlichen Stadttor. Das Tor stand offen, schwarz gähnte die Öffnung. Das war in diesen Zeiten des Friedens nichts Besonderes. Gegenüber verschwand eine Katze um eine Hausecke, und einige Fledermäuse segelten lautlos durch die Nacht. Feill sah unwillkürlich zu Hrydjas Turm hinüber. Er hätte schwören können, dass er von dort beobachtet wurde, aber als er hinübersah, starrten ihn nur die Fensterhöhlen leer und dunkel an. Eine Bewegung schräg unter ihm ließ ihn aufmerksam werden. Dort sattelte jemand ein Pferd. Obwohl dieser Jemand Männerkleidung trug, war er sicher, dass es sich um eine Frau handelte. Dann sah er das weißschimmernde Haar und erkannte, dass es noch dazu eine alte Frau war, obwohl sie sich erstaunlich behende und geschickt um das Pferd bewegte. Was trieb eine alte Frau dazu, mitten in der Nacht auszureiten? Nein „ausreiten“ war wohl nicht das richtige Wort, dachte er sich, als er sie in halsbrecherischem Galopp aus der Stadt jagen sah. Der Hufschlag klapperte auf dem Pflaster und verhallte in der Dunkelheit hinter dem Tor.
Wie auch immer, mochte die Frau vorhaben, was sie wollte – er hatte genug eigene Probleme. Ein schriller Schrei ließ ihn nach oben blicken. Ein Goldmilan schoss hinter der Frau über die Mauer und verfolgte sie ins Dunkel. Feill schüttelte den Kopf. Er sah wirklich schon Gespenster. Der Vogel war ja wohl nur zufällig in dieselbe Richtung geflogen. Unter den Vögeln, die bei Hrydja ein und aus flogen, war ein Goldmilan, ein schönes Tier mit goldglänzendem Gefieder, von dem sich nur der weiße Kopf abhob, und bernsteingelben Augen.

*

Von dem Augenblick an, in dem Hrydja in Feills Halle mit gezückten Krallen auf sie losgeschossen war, war Mysla klar gewesen, dass sie mit ihrer kostbaren Beute nicht unbeobachtet aus der nächtlichen Stadt entkommen würde. Hrydja hatte sich offenbar gescheut, sie gleich in der Halle vor so vielen Menschen zu vernichten, aber Mysla musste mit ihrer Beute die Stadt verlassen, und diese Gelegenheit würde Hrydja sich nicht entgehen lassen. Sie würde sie suchen. Und finden. Deshalb achtete Mysla gar nicht erst auf Heimlichkeit. In Windeseile suchte sie das beste Pferd im Stall ihres ehemaligen Dienstherren, sattelte es mit fliegenden Fingern und setzte es in Galopp, kaum dass sie im Sattel saß. Sie war in ihrer Jugend eine gute Reiterin gewesen, obwohl nur noch ein schwacher Rotschimmer in ihren weißen Haaren daran erinnerte, dass ihre Vorfahren zum Reitervolk der Hestir gehört hatten. Sie jagte durch das Stadttor, dann über die ansteigenden Felder nach Nordwesten. Raschelnd brachen die Halme unter den Hufen, Staub stieg aus dem reifen Getreide auf. Der gleichmäßige Dreiklang der Hufe wurde langsamer, als der Hang steiler wurde. Mysla schnalzte mit der Zunge, der Dreiklang beschleunigte sich wieder. Der Wind blies ihr hart ins Gesicht, zerrte an ihren Haaren und ließ ihren Umhang flattern.
Dann erreichte sie den Wald nordöstlich des Hamra. Das Hufgeräusch wurde dumpfer, der Boden federnder, als sie unter die Bäume eintauchte. Sie kauerte sich, so gut es ging, auf dem schwingenden Pferderücken zusammen und hetzte das Tier zwischen den Bäumen hindurch. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, klammerten sich in ihre Kleider, drohten, sie vom Pferd zu reißen. Unter den Bäumen war es stockfinster. Sie konnte die Hand vor den Augen nicht sehen, geschweige denn Äste oder Baumstämme, die plötzlich aus der Schwärze vor ihr auftauchten, und sie hatte alle Mühe, die abrupten Sprünge auszusitzen, mit denen ihr Pferd den Bäumen auswich, oft im letzten Moment zur Seite sprang, ohne das Tempo zu drosseln. Langsam begann Nebel aufzusteigen. Bleiche Schwaden trieben vor ihr durch die Bäume und zerrissen in wirbelnde Fetzen, als sie hindurchpreschte. Ihren überreizten Sinnen schienen sie wie Geister, die ihr zuwinkten, als wüssten sie, dass der Tod hinter ihr her war. Sie bezwang ihr Grauen mühsam und konzentrierte sich fest darauf, das Pferd vorwärts zu jagen. Sie hoffte inständig, dass das Tier in dieser Finsternis besser sehen konnte als sie. Während eine Hand am Zügel blieb, klammerte sich die andere krampfhaft um das kostbare Kästchen an ihrem Gürtel. Längst taten ihr alle Knochen weh. Inzwischen keuchte nicht nur sie, sondern auch das Pferd. Sie konnte den Schweiß auf seinem Hals fühlen, aber noch lief der Hengst mit unverminderter Geschwindigkeit, trommelten die Hufe in gleichmäßigem Rhythmus über den Boden.
Es wurde heller, noch zwei Sprünge und sie hatte den Waldrand erreicht. Vor ihr dehnten sich die weiten Wiesen nördlich des Hamra aus, sie verlangsamte das Tempo zum Trab und sah sich hastig um. Ihr Ziel musste irgendwo westlich von ihr auf einem Hügel nördlich des Hamra liegen. Die Hütte von Hrimugla, Hugurs Schwester. Mysla war noch nie dort gewesen und kannte auch Hrimugla nicht.
Plötzlich schrie sie auf vor Schmerz – etwas messerscharfes hatte sich ohne Vorwarnung in ihren Arm gebohrt. Instinktiv holte sie mit der anderen Hand aus, um zuzuschlagen, traf aber ins Leere. Gehetzt sah sie sich um und erkannte über sich einen Milan mit matt golden schimmerndem Gefieder, sah den messerscharfen Schnabel auf sich zuschießen. Sie keuchte auf, der Hengst scheute zur Seite. Der Milan schoss vorbei. Ein Schrei voll Zorn, er machte kehrt und kam zurück. Wieder schoss der Vogel auf sie zu, die gelben, stechenden Augen starr und kalt.
Die Augen – sie hatte diese Augen schon gesehen. Als sie in ihrem Geist die Augen vor sich sah, in einem anderen, einem menschlichen Gesicht, und plötzlich begriff, mit wem sie es zu tun hatte, füllte sich ihr Herz mit Eis, und sie sackte zusammen. Ihr Auftrag war gescheitert, Hugurs Plan misslungen.
Da verdunkelte ein lautloser Schatten den Sternenhimmel über ihr. Myslas Pferd brach zur Seite aus und ging durch. Myslas Finger klammerten sich in die Mähne, sie versuchte zu sehen, was hinter ihr geschah – eine große Eule mit hell schimmerndem Gefieder griff den Milan an. Der Milan schrie, stürzte sich auf die Eule. Die Eule dagegen gab keinen Laut von sich. Lautlos griff sie an, lautlos schlug sie zu. Federn taumelten zu Boden, weiße und goldene. Dann gab der Milan auf. Mit einem letzten Schrei, dessen unbändige Wut Mysla zum Zittern brachte, ergriff er die Flucht, schoss wie ein Pfeil davon und verschwand im Dunkel der Nacht. Die Eule zog einige ruhige Bögen in der Luft und beobachtete ihren fliehenden Gegner. Das Sternenlicht glänzte silbrig auf ihrem Gefieder und in ihren stillen, meergrauen Augen.
Endlich blieb der große Hengst mit hängendem Kopf stehen, seine Flanken bebten. Schaum tropfte von seinem Maul. Mysla versuchte abzusteigen, aber sie fiel mehr, als dass sie stieg, und sank zitternd neben dem keuchenden Tier ins feuchte Gras. Sie war am Ende. Von

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wiebke Salzmann
Bildmaterialien: Stefanie Zill, Wiebke Salzmann
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3445-6

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