Cover

Titel und Einleitung

 

 

 

 

ROTER

ROMEO

 

 

STASI GIGOLOS UND

DIE SPIONJÄGERIN

VON DEUTSCHLAND

 

 

INSPIRIERT DURCH TATSÄCHLICH ZUGETRAGENE EREIGNISSE

 

 

 

PETER BERNHARDT

 

 

Copyright ©2016 Peter Bernhardt

 

Titel der englischen Originalausgabe:

 

Red Romeo

Stasi Gigolos and

the Spy Hunter of Germany 

Inspired by Actual Events

 

First Prize

2023 Arizona Authors Association Literary Contest

 

Copyright ©2012 Peter Bernhardt

 

 

Alle Figuren, Organisationen und Vorgänge in diesem Roman sind entweder ein Produkt der lebhaften Fantasie des Autors oder fiktional verwendet.

 

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk darf weder in Teilen noch im Ganzen ohne die vorherige schriftliche Zustimmung des Autors genutzt oder reproduziert werden, abgesehen von kurzen Auszügen, die in Besprechungen oder Literaturkritik zitiert werden.

 

 

https://sedonauthor.com

 

 

1. Auflage 2017

 

Übersetzung ins Deutsche vom Autor

 

Korrektorat: Kathrin Brückmann (lekto-ratio.de)

 

 

 

 

Für Agnes und Rolf

 

In liebevoller Erinnerung

 

 

 

Ich möchte mich herzlich bei den Mitgliedern der Sedona Writers Critique Group, des Internet Writing Workshops und meinen Betalesern für ihre konstruktive Kritik bedanken, die diesen Roman ungemein verbesserte.

 

Das Titelbild ist einer Fotografie der Berliner Mauer von Ian Kindred entnommen. Ich bedanke mich herzlich für seine großzügige Genehmigung.

 

Besonders dankbar bin ich für Marilyns scharfe Einsichten die mich zu höchsten Leistungen anspornten, für ihr wohlüberlegtes Feedback bei der Geburt jedes Kapitels und für ihre standhafte Unterstützung.

 

 

Glossar

 

Hauptfiguren

 

Sabine Maier, Agentin beim Bundesnachrichtendienst in Pullach.

Stefan Malik, Journalist/Schriftsteller in der DDR, als Stasi Romeo rekrutiert. Tarnung: Günter Freund, Journalist für Gemeinschaft Unbegrenzt, eine fiktive Wiener Friedensorganisation.

Werner Heinrich, Generalleutnant, Stasi Spionagechef, Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung.

Monika Fuchs, Chefsekretärin vom Chef des Bundeskanzleramts.

Horst Kögler, Computerfachmann.

Helga Schröder, General Heinrichs Sekretärin.

Traude Malik, Stefans Tochter.

Bernd Dorfmann, Sabines Chef.

Gisela Sturm, Chefsekretärin vom Minister des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

Hans Mertens, Agent beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln.

 

Organisationen

 

STASI: Ministerium für Staatssicherheit.

HVA: Hauptverwaltung Aufklärung der Stasi.

BND: Bundesnachrichtendienst mit Sitz in Pullach, Bayern; dem Bundeskanzler unterstellt.

BfV: Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sitz in Köln; dem Bundestag unterstellt.

ASBw: Amt für die Sicherheit der Bundeswehr, 1956-1984. Seit 1984: MAD: Militärischer Abschirmdienst mit Sitz in Köln.

BKA: Bundeskriminalamt mit Sitz in Wiesbaden, dem Innenministerium unterstellt.

RAF: Rote Armee Fraktion.

BRD: Bundesrepublik Deutschland.

DDR: Deutsche Demokratische Republik.

 

 

Definitionen

 

Maulwurf: ein Spion, der sich sich in eine feindliche Regierung oder Spionageorganisation einschleicht.

 

Doppelagent: jemand, der gegen eine Nation spioniert, während er vorgibt, für sie zu spionieren.

 

 

 

INSPIRIERT DURCH TATSÄCHLICH ZUGETRAGENE EREIGNISSE

 

Laut seiner Autobiographie perfektionierte Stasi-Spionagechef Markus Wolf den Einsatz von Sex in der Spionage, indem er ostdeutsche Männer schulte, einsame westdeutsche Frauen in höchster Sicherheitsstufe anzuwerben und zu verführen, um aus Liebe zu spionieren. Während Wolfs 34-jähriger Amtszeit als Spionagechef der DDR täuschten seine Stasi-Romeos Liebe vor und enlockten den Frauen die am besten gehüteten westdeutschen und NATO-Geheimnisse. Romanze, Sex und das Heiratsversprechen veranlassten an die 50 Frauen, Staatsgeheimnisse an ihre Liebhaber zu verraten.

 

Wie die Stasi-Romeos einen Geheimdienst-Coup nach dem anderen anbahnten, inspirierte mich, diese Geschichte mit fiktiven Hauptfiguren zu schreiben.

 

In den folgenden Büchern werden aktuelle Fälle augezeigt:

 

Stasi: The Untold Story of the East German Secret Police, von John O. Koehler, 182 ff.

 

Man Without a Face: The Autobiography of Communism’s Greatest Spymaster, by Markus Wolf, Kapitel 8: “Spying for Love.”

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1: Die Wahl

 

 

Gefängnis Rummelsburg, Ostberlin, Freitagnachmittag, 15. Juli 1977

 

Der Gefängniswärter stieß Stefan Malik über die Schwelle und schlug die Zellentür zu. Als der riesige Schlüssel den Riegel im Schloss zuschnappen ließ, dachte Stefan: Das ist der Klang der Ewigkeit. Der Gestank der Toilette mit ihrem zersplitterten Sitz durchzog die feuchte Zelle, aber der Geruch nach Fäkalien war das geringste seiner Probleme. Drei Häftlinge musterten ihn misstrauisch. Zwei von ihnen lauerten hinter einem kräftigen Rothaarigen, dem offensichtlichen Herrscher im Raum.

Ein hässliches Grinsen verzerrte das fleischige Gesicht des korpulenten Mannes – kaum sichtbar in dem schwachen Licht, das durch ein kleines, vergittertes Fenster strömte. »Was ist los, Hübscher, noch nie Scheiße gerochen?«

Seine zwei Zellengenossen, die sich gegen eines der Etagenbetten lehnten, lachten meckernd – das gezwungene Lachen von Untertanen über den üblen Witz eines Vorgesetzten.

Der Rothaarige fragte: »Wie heißt du?«

»Stefan.«

»Na dann, Stefan. Wir sind deine neuen Freunde. Ich bin Emil.« Er drehte sich nach links: »Anton«, dann nach rechts: »Hans.«

Bei der Erwähnung ihrer Namen nickten beide kurz. Doch Stefan konzentrierte sich auf Emil, der auf das Geräusch der Stiefel des Wärters im Gang zu horchen schien.

Sobald der Ton verklungen war, wandte sich Emil an seine Zellengenossen. »Glaubt ihr nicht, dass unser Stefan hier einen schönen Arsch hat? Was sagt ihr, Jungs, sollen wir ihn näher kennenlernen?« Er warf Stefan einen lüsternen Blick zu. »Viel näher.«

Stefan wich zurück. Er hatte schon von schwulen Häftlingen in Rummelsburg gehört, die der Staat als Sozialschädlinge brandmarkte; jetzt war er gleich unter drei geraten. Schwul oder nicht, sie hatten Vergewaltigung im Sinn. Bevor er reagieren konnte, hatten ihn Hans und Anton umkreist. Einer verdrehte seinen rechten Arm gegen seinen Rücken, während der andere ihn auf die Knie drückte. Stefan kämpfte gegen die unerträglichen Schmerzen. Es fühlte sich an, als ob sein Arm aus dem Gelenk spränge.

»Ganz ruhig, Junge.« Emil ließ seine Anstaltshosen herunter. »Mach, was ich dir sage, und wir kommen zurecht.«

Stefan starrte auf die Beule in Emils grauer Unterhose. Die nächsten Sekunden würden sein Schicksal bestimmen. Er brach in kalten Schweiß aus. Vergewaltigt im Gefängnis? Falls er jetzt erlag, würde es kein Ende nehmen. Nach den Wärtern zu rufen, war sinnlos. Selbst wenn sie ihn hörten, würden sie sich wahrscheinlich keinen Dreck darum kümmern. Er war auf sich selbst angewiesen.

Stefan stemmte sich nicht mehr gegen den Griff der zwei Häftlinge. »Du willst einen Blowjob?« Er täuschte ein Lächeln vor. »Das hättest du gleich sagen können.«

Aber Emil ließ sich nicht so leicht überlisten. »Anton, bring ihn rüber. Hans, halt ihn fest.«

Stefan überwand sein Ekelgefühl über die gelben Flecken an Emils Unterhose. Er blickte weg und entspannte seine Muskeln. Der Trick funktionierte. Sobald sich die Griffe an seinem schlaff gewordenen Körper lockerten, riss er sich los. Er sprang auf und versetzte Emil einen harten Stoß in den Unterleib.

Der Schläger stolperte rückwärts und knurrte durch zusammengebissene Zähne: »Dafür wirst du mir büßen. Schnappt ihn, Jungs!«

Stefan kehrte sich gegen Emils Spießgesellen, aber zu spät, um einen kräftigen Tritt an sein rechtes Bein abzuwehren. Er stürzte und schrammte sich das Knie am Betonboden auf. Bevor er zur Seite rollen konnte, saß einer der Sträflinge rittlings auf ihm und hielt ihn nieder, während der andere sein Gesicht zu Boden drückte. Er konnte kaum atmen.

Emils zornige Stimme dröhnte in Stefans Ohren. »Großer Fehler, Bursche. Ich zeig dir, wer hier herrscht.«

Ein brutaler Ruck an seinen Haaren zwang Stefans Kopf zurück. Den Blick auf die bedrohlich näherrückenden Unterhosen fixiert kämpfte Stefan gegen seine Panik an. Er würde nicht aufgeben. Falls notwendig, würde er das Glied des brutalen Kerls abbeißen. Aber halt, warum wich Emil zurück?

Das schabende Geräusch, als der Riegel zurückgeschoben wurde, war die Antwort. Emil zog seine Hose hoch. Die Zellentür flog auf, und zwei Wärter stürmten herein.

Einer zog Stefan auf die Beine. »Du prügelst dich am ersten Tag?«

»Diese Perversen –«, versuchte er, sich zu verteidigen.

Der Wärter stieß ihn aus der Zelle. »Heb dir die Ausrede für den Direktor auf.« Er schob Stefan den Gang entlang, während der andere die Zelle abschloss.

Jede Erklärung wäre zwecklos; die ganze Sache stank. Die Wärter waren so schnell gekommen, als hätten sie die Schlägerei erwartet.

Vor einer Stunde erst war die Polizei in seine Wohnung gekommen. Nur etwas aufklären solle er, hatte es geheißen. Sicher doch! Er wusste von zu vielen, die ins Schleppnetz der Geheimpolizei geraten waren. Die Stasi war aus gutem Grund die gefürchtetste Institution, und etwas aufzuklären, war ein Euphemismus für harte Verhöre, Foltern, lange Gefängnisstrafen oder Schlimmeres. Würde bald auch sein Name auf der wachsenden Liste von vermissten Ostdeutschen stehen?

Während der Fahrt im Zivilfahrzeug durch Berlin war er im Geiste noch einmal seinen Artikel, den er Anfang der Woche eingereicht hatte, durchgegangen. Er hatte doch nichts geschrieben, das gegen offizielle Parteidoktrin verstieß. Aber man konnte nie wissen, wann der Wind im totalitären Staat umschlug. Vielleicht hatte er, ohne es zu ahnen, bei einem Parteioberen Anstoß erregt.

Der Wärter eskortierte ihn durch das Zellentor in einen Trakt, in dem vermutlich die Verwaltungsräume lagen. Stefan fragte sich, was für eine Form der Disziplinierung ihn erwartete. Der Gedanke, wieder mit den Vergewaltigern eingesperrt zu werden, war unerträglich. An einer Tür, deren Beschilderung auf das Büro des Gefängnisdirektors verwies, verlangsamte er seine Schritte, aber der Wärter stieß ihn weiter auf eine unmarkierte Tür zu und klopfte.

»Herein«, brüllte eine tiefe Stimme.

Der Wärter öffnete die Tür und schob Stefan hinein. Er stolperte über das schäbige Linoleum in das kleine Büro. Der abblätternde olivgrüne Anstrich an den kahlen Wänden verlieh dem Raum eine trübe Stimmung. Hinter einem großen Schreibtisch aus Teakholz-Imitat saß ein Mann in grauer Uniform, das schwarze Haar ordentlich gescheitelt. Dunkle Augen starrten Stefan durch eine Nickelbrille an.

Weg war des Wärters überlegene Art. Er sprach den Mann, der um die fünfzig war, demütig an: »Generalleutnant, Insasse Stefan Malik.«

Der Offizier befahl ihm: »Schließen Sie die Tür hinter sich und warten Sie im Gang.«

Als der Wärter den Raum verließ, deutete der General auf einen eckigen Metallstuhl, der sich als genauso unbequem erwies, wie er aussah. Aber wichtigere Sachen beschäftigten Stefans Gedanken. Das war kein gewöhnlicher Armeegeneral, sondern ein Stasioffizier. Was konnte er nur von ihm wollen? Was es auch sei, von einer Auseinandersetzung mit der Stasi kam nie etwas Gutes.

♫ ♫ ♫

Während der Gefangene sich setzte, musterte ihn Generalleutnant Werner Heinrich. Bis jetzt funktionierte sein Plan. Malik wirkte vorsichtig, doch nicht so unterwürfig wie der Gefängniswärter. Die Aufgabe, für die er ihn rekrutieren wollte, erforderte Courage. Er konnte niemand Zimperlichen oder Zaghaften gebrauchen. Maliks Blick zeugte von Intelligenz, und am wichtigsten: Er war so attraktiv, wie seine Akte es versprochen hatte. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge unter dem vollen, schwarzen Haar waren offen, vertrauenerweckend, und welche Frau könnte schon einem so athletischen Körperbau widerstehen?

Anfangs Freundlichkeit, dann Druck, das würde auch hier funktionieren. »Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie mit Stefan anrede?« Nach Maliks wortlosem Nicken fuhr Heinrich fort: »Ich bin Generalleutnant Heinrich. Sie dürfen mich mit General anreden.«

Keine Antwort.

Heinrich öffnete die dicke Akte vor sich auf dem Schreibtisch. »Falls Sie so klug sind, wie es hier steht, dann sind Sie schon darauf gekommen, dass ich ein Stasioffizier bin.«

Keine Reaktion.

»Aber Sie wissen nicht, warum Sie hier sind.«

Stefan verlagerte sein Gewicht im Stuhl.

»Nicht wegen Ihrer Schreiberei. Ihre Artikel sind unterhaltsam. Sie halten sich an die Parteilinie, sonst würde Neues Deutschland sie nicht veröffentlichen.«

Heinrich beobachtete Stefan. Würde er Anzeichen von Nervosität oder Angst erkennen lassen? Falls Stefan diese Gefühle hatte, versteckte er sie. Perfekt. Die Mentalität eines Pokerspielers wäre ideal.

Beinahe Zeit für die Rekrutierung, aber zuerst noch ein bisschen Lob. »Sie sind hier, weil wir Ihr Talent gut gebrauchen können.«

Stefan hob seine Augenbrauen, sagte aber nichts.

Heinrich tat, als ob er die Akte auf seinem Schreibtisch gründlich studierte. »Sie sind ein regelrechter Don Juan, nicht wahr?« Er schaute auf. Immer noch keine Reaktion. »Wir wissen von mindestens einem Dutzend Frauen die – um das taktvoll zu sagen – Ihrem Charme erlegen sind.«

»Sex haben ist nicht illegal, oder?« Stefans Bariton klang gemessen, aber standhaft.

Noch ein Pluspunkt.

»Illegal? Normalerweise nicht.« Heinrich machte eine Kunstpause. »Außer …« Er fixierte Stefan. »Erstens: Mehrere Frauen, die Sie verführt haben, sind verheiratet. Zweitens: Sie haben sich Geld von ihnen geben lassen, weil Ihre Schreiberei nicht für Ihren Lebensunterhalt ausreicht. Und drittens: Unser Staat duldet keine Schmarotzer, die nichts zur Gesellschaft beitragen.«

Ein ungläubiger Blick aus blauen Augen. »Deswegen haben Sie mich in eine Zelle mit Schwulen gesteckt?«

»Ich stelle hier die Fragen.« Heinrich neigte sich vor. Jetzt unter Druck setzen. »Ich dachte, wir könnten das alles durch eine freundliche Plauderei klären. Leider haben Sie Ihre Zellengenossen attackiert.«

»Aber die haben mich angegriffen!«

»Das behaupten Sie. Allerdings steht Ihre Aussage gegen die von zwei Wärtern und drei Häftlingen.« Nach einer Pause, um seine Botschaft eindringen zu lassen, fuhr Heinrich fort: »Nun gut, ich kann Ihnen einen Ausweg aus Ihrer misslichen Lage anbieten. Stellen Sie Ihren Charme in den Dienst unseres Staates.«

»Ein Spitzel für die Stasi?«

Heinrich ließ seine Zunge schnalzen. »Etwas, das wichtiger und schwieriger ist. Es ist eine gewaltige Herausforderung, bereitet aber, wenn man es richtig macht, größtes Vergnügen.« Er genoss Stefans verwirrte Miene. »Falls Ihre Verführungskünste so groß sind, wie es in dieser Akte steht, dann können Sie Weiber flachlegen und gleichzeitig Ihrem Land dienen. Es wird gut genug bezahlt, dass Sie Ihre Freundinnen nicht mehr um Geld anpumpen müssen.«

»Sie wollen mich als Stasi-Spion anwerben?«

»Wir nennen’s ›Ficken fürs Vaterland.‹ Das ist doch ein schönes Privileg, oder nicht? Sie sind als Verführer einzigartig qualifiziert, und die Spionagepraxis bringen wir Ihnen schon bei.«

»General, selbst mit Ihren, äh … Nebenleistungen habe ich keinerlei Interesse daran, für Sie zu spionieren.«

Heinrich sprang von seinem Stuhl auf, lief um den Schreibtisch herum und sah auf den sitzenden Gefangenen hinab. »Dann will ich mal Klartext reden, Stefan. Entweder Sie dienen Ihrem Land, oder Sie verrotten in diesem Gefängnis. Was da auf sie zukäme, haben Sie doch gerade zu fühlen bekommen. Eine leichte Wahl, meinen Sie nicht auch?«

Stefan rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Wollte er bestreiten, seine Zellengenossen angegriffen zu haben? Nein, er hielt den Mund. War offensichtlich klug genug, um zu erkennen, dass aller Protest vergeblich wäre; das Gericht würde das von der Stasi vorgeschriebene Urteil fällen. Heinrich kehrte zu seinem Stuhl zurück, behielt aber den Häftling im Auge.

Schließlich erwiderte Stefan seinen Blick. »Was muss ich tun?«

»Ich dachte mir, dass Sie die richtige Entscheidung treffen würden«, sagte Heinrich, als hätte sein Gegenüber jemals eine wirkliche Wahl gehabt.

Er stand auf, schritt um den Schreibtisch herum und schüttelte Stefans Hand. »Willkommen. Melden Sie sich Montagmorgen um neun bei mir in der Stasi-Zentrale. Und kein Wort davon an irgendjemand. Ist das klar?«

»Jawohl, Herr General.«

»Draußen wartet ein Wagen auf Sie.«

Heinrich begleitete Stefan in den Gang hinaus und beauftragte den Wärter, ihn zu entlassen. Obwohl die beiden schon längst um eine Ecke verschwunden waren, ging ihm das Bild seines neuesten Rekruten nicht aus dem Kopf. Stefan Malik war wirklich gut aussehend, vielleicht einer der attraktivsten unter seinem Kommando. Er würde zweifellos ein verführerischer Romeo werden.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2: Der Auftrag

 

 

Bundesnachrichtendienst [BND], Pullach, Bayern, Freitagnachmittag, 15. Juli 1977

 

Sabine Maier fuhr ihren VW am blau beschrifteten Schild des Bundesnachrichtendienstes vorbei, das vor einer massiven Mauer stand, in die ein überdimensionaler Bundesadler eingraviert war. Sabine winkte dem jungen Pförtner am offenen Tor zu. Mit einer fragenden Geste erinnerte er sie an seine mehrmaligen Einladungen zu einem Drink nach Feierabend.

Einen Augenblick dachte sie daran, ihn zu ermutigen. In wenigen Jahren wäre sie vierzig. Wie lange würden Männer sie noch attraktiv finden? Aber sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht für ein lockeres Verhältnis aufgeben, also schüttelte sie den Kopf und lächelte ihm freundlich zu. Der Pförtner schnitt eine Grimasse und winkte sie durch.

Sie stellte den Wagen auf dem für sie reservierten Parkplatz ab. Aus den dunklen Wolken fielen erste schwere Regentropfen. Schnell schloss sie das Verdeck. Den ganzen Tag über war es schwül gewesen, und jetzt kam ein Wolkenbruch. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie die kühleren Temperaturen begrüßen oder ihr vor einem trüben, regnerischen Wochenende grauen sollte. Wie war sie auch auf die Idee gekommen, ein Käfer-Cabrio zu kaufen? Deutscher Sommer – ein Widerspruch in sich.

Nachdem sie den Wagen abgeschlossen hatte, hielt sie sich die Handtasche zum Schutz vor dem immer stärker prasselnden Regen über den Kopf und eilte zu dem Gebäude am Ende des Hofs. Nach der Eingangskontrolle ging sie am Fahrstuhl vorbei und nahm zwei Treppenstufen auf einmal bis hinauf zum zweiten Stock. So war sie etwas außer Atem, als sie den Gang entlangschritt, vorbei an den offen stehenden Zimmern der Sekretärinnen. Vor ihrem Büro verharrte sie. Durch die offene Tür erblickte sie ihren Chef, der auf dem Besucherstuhl saß.

Dorfmann, wie immer im blauen Anzug, weißen Hemd und gestreifter Krawatte, wandte sich ihr zu. »Vom Wolkenbruch erwischt?« Er war um die fünfzig, und das sah man ihm auch an. Er war schon früh ergraut.

Verlegen betupfte Sabine ihre feuchten, kastanienbraunen Locken, rückte ihre rote Bluse zurecht, die an ihrem Körper klebte, und glättete ihren schwarzen Rock. Doch ihre Versuche, sich präsentabel zu machen, erwiesen sich als zwecklos. Sie stellte ihre Handtasche auf den Schreibtisch und ließ sich in den Lederstuhl fallen. »Tut mir leid –«

Mit einer Handbewegung brach Bernd Dorfmann ihre Entschuldigung ab. »Noch ein regnerisches Wochenende. Ideal zum Arbeiten, meinen Sie nicht auch?«

Sie musterte seine Miene. Er scherzte öfter, aber diesmal nicht.

»Sie haben doch nichts vor, das sich nicht aufschieben ließe?«

Sie beantwortete die rhetorische Frage mit einem Kopfschütteln, sagte aber nicht, dass sie ihrer Mutter einen Opernbesuch für Samstagabend versprochen hatte. Auf keinen Fall würde sie Don Giovanni verpassen, ausverkauft wie die meisten Aufführungen der Münchner Opernfestspiele. Sie hatte nicht stundenlang Schlange gestanden, um das Ereignis jetzt zu versäumen. Ihre Opernabende waren ihr geradezu heilig. Sie würde die Arbeit vorher erledigen, selbst wenn sie die nächste Nacht durchmachen müsste.

»Gut.« Dorfmann neigte sich vor. »Ich trage Ihnen etwas Neues auf.«

»So?«

Ihre mangelnde Begeisterung musste ihr anzusehen sein. »Ich bin mir bewusst, dass Sie überarbeitet sind. Das haben Sie Ihren großartigen Leistungen zu verdanken.«

»Nur den Maulwurf zu entlarven, ist mir noch nicht gelungen.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Frau Maier. Wenn es einen Maulwurf in einem unserer Geheimdienste gibt, werden Sie ihn ausfindig machen.«

Falls ihr Chef ihre Kompetenz bezweifelte, würde er es ihr sagen. Trotzdem konnte sie es sich nicht verkneifen, in seiner Miene nach Zeichen von Unaufrichtigkeit zu suchen.

Er sprach weiter: »Wir müssen unsere Methode ändern.«

Überrascht richtete sie sich auf.

»Was wissen Sie über Rasterfahndung?«, fragte er.

»Nicht viel. Da entwirft man am Computer Profile von eventuellen Terroristen. Eine Art von Schleppnetzfahndung.«

»Genau. Es ist mühsame Kleinarbeit, durch die der Bundeskriminalpolizei aber schon einige Mitglieder der Roten Armee Fraktion ins Netz gegangen sind.«

»Sie beauftragen mich doch nicht etwa, RAF-Terroristen zur Strecke zu bringen?«

Er winkte ab. »Nicht doch! In fünf Jahren haben Sie mehr Spione erwischt als sonst jemand. Sie machen den BND stolz. Aber trotz all Ihrer Festnahmen werden wir immer noch von Stasi-Agenten überlaufen. Der Kanzler setzt uns unter Druck, diese Flut mittels Rasterfahndung zu stoppen.«

Sie zögerte, ihm ihre aufkommenden Bedenken mitzuteilen, aber er hatte sie immer ermutigt, offen ihre Meinung zu sagen. Daher erwiderte sie nun frei heraus: »Ist das denn legal?«

Datenmengen, in Computer eingegeben, aus denen dann Profile erstellt wurden – widersprach das nicht dem Datenschutz?

Er winkte abermals ab. »Egal. Solange das Verfassungsgericht in Karlsruhe es nicht verbietet, werden wir auf dieses Mittel nicht verzichten.«

Sie sah ihn verdutzt an. »Was hat das mit dem Enttarnen von Spionen zu tun?«

»Berechtigte Frage. Sie müssen Ihren Blickwinkel ändern. Wir dachten, dass nach der Verhaftung von Guillaume keine Stasi-Spione mehr in unsere Ministerien eindringen könnten. Da haben wir uns geirrt!«

»Günter Guillaume«, sagte Sabine mit gedämpfter Stimme. Als vor drei Jahren die rechte Hand des Kanzlers als Stasi-Spion aufgeflogen war, hatte das den Niedergang von Willy Brandt herbeigeführt.

»Aber jetzt ist klar, dass die Stasi noch immer Zugang zu Dokumenten höchster Geheimhaltungsstufe besitzt, fast so, als ob sie im Osten die Korrespondenz unserer Minister läsen und an unseren Kabinettsitzungen teilnähmen.« Dorfmann ballte die Faust. »Sie müssen dem ein Ende machen.«

»Und Sie denken, Rasterfahndung kann das fertigbringen?«

»Ehrlich gesagt, habe ich so meine Zweifel, aber ich habe Anweisung festzustellen, ob es möglich wäre.«

»Sie meinen, ich soll mein Wochenende opfern, um etwas zu eruieren, von dem wir beide wissen, dass es nichts bringen wird?«

Dorfmann hob seine Hand. »Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Sie wissen das genauso wenig wie ich.«

»Sie sind sich hoffentlich darüber im Klaren, dass ich von Rasterfahndung keine Ahnung habe.«

Er tippte auf eine dicke Akte auf dem Schreibtisch. »Es geht doch nichts über ein regnerisches Wochenende, um das zu beheben.« Seine strenge Miene wurde ein wenig milder. »In einer Woche sind Sie Expertin.«

Sie suchte sein Gesicht vergeblich nach einem Lächeln ab und seufzte. »Sie meinen es ernst? Also gut, sagen Sie mir, wonach ich suchen soll. Stasi-Agenten allgemein oder etwas Spezielleres?«

Er zuckte mit den Achseln. »Schön wär’s, wenn wir einen besseren Anhaltspunkt hätten.«

»Wer, vermuten Sie, ist infiltriert worden?«

Dorfmann lehnte sich zurück und musterte sie, als erwöge er, was er preisgeben durfte. Nach einer langen Pause sagte er: »Wir können niemanden ausschließen. Aber die Art von Geheimnissen, die im Osten landen, deuten auf das Außenministerium, das Kanzleramt und die Geheimdienste, selbst unser BND.«

»Ein großer Auftrag für eine einzige Person.« Mehr konnte sie nicht sagen.

»Denken Sie an die Belohnung. Sie würden damit das Stasi-Netz weitgehend zerstören, und ich werde dafür sorgen, dass Sie eine stattliche Gehaltserhöhung bekommen.« Jetzt lächelte er. »Höchste Zeit, dass Sie den Käfer gegen ein größeres Auto eintauschen, sodass Sie sich beim Einsteigen nicht mehr in eine Brezel verdrehen müssen.«

»Ein silberner Mercedes oder ein roter BMW wäre schön.« Sie lachte. »Diese Aussicht spornt mich zur Wochenendarbeit an.«

»So ist’s recht.« Er wurde ernst. »Studieren Sie die Akte und bringen Sie sich auf den neuesten Stand, was Rasterfahndung angeht. Beweisen Sie, dass wir beide falsch liegen. Sollten Sie aber zu dem Schluss kommen, dass sich auf diese Weise keine Spione enttarnen lassen, geben Sie mir triftige Gründe, warum nicht. Dann müssen Sie sich allerdings etwas ausdenken, das funktioniert. Der Kanzler hört das Wort ›Nein‹ nicht gern.«

Dorfmann stand auf. »Gleich als Erstes Montag früh will ich etwas Geniales von Ihnen hören, wie wir diese Stasi-Geheimagenten außer Gefecht setzen können.« Er schritt zur Tür und trat in den Gang.

Sabine drehte die mindestens fünf Zentimeter dicke Akte herum. Wenn sie trotz Opernbesuch am Montagmorgen Bericht erstatten wollte, durfte sie keine Zeit verlieren.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3: Die Scheidung

 

 

Bonn, Freitagabend, 15. Juli 1977

 

Mit einem Schwung, den sie seit Monaten nicht gefühlt hatte, stieg Monika Fuchs die Rolltreppe der Stadtbahnstation hinauf. Sie hielt ihren Schirm fest – Schutz gegen den Regen, der den ganzen Nachmittag auf Bonn heruntergeprasselt war. Manche Frauen mochten Regen angemessen für den Tag der Ehescheidung finden, sie aber nicht.

Ein linder, sonniger Abend grüßte sie beim Verlassen der Station. Der Regen hatte aufgehört, als hätte sich das Wetter entschieden, ihrer guten Laune am Tag ihrer zurückgewonnenen Freiheit zu entsprechen. Sie bändigte ihren Impuls, den Gehweg entlangzuhüpfen; stattdessen sprang sie über vereinzelte Pfützen. Nach ein paar hundert Metern stand sie vor dem Café Diplomat. Ein blöder Name für ein Restaurant, der eigentlich nur nach Bonn passte. Seine internationale Küche trug dem Geschmack der ausländischen Diplomaten, welche die westdeutsche Hauptstadt bevölkerten, Rechnung.

Monika schalt sich fast selbst, weil sie das Wort Hauptstadt nicht mit ›vorübergehend‹ oder ›vorläufig‹ garniert hatte. Alle Politiker, die wiedergewählt werden wollten, mussten dies bei jeder Gelegenheit tun. Weder Monikas Kollegen noch die höheren Tiere im Bundeskanzleramt glaubten daran, dass es jemals ein wiedervereintes Deutschland gäbe. Bonn, nicht Berlin, würde auf lange Zeit Regierungssitz bleiben. Vielleicht für immer.

Aber warum an Politik denken an diesem Tag ihrer Wiedergeburt? Heute sollte nichts ihre Stimmung trüben. Sie stieß die Tür so heftig auf, dass sie fast einen älteren Herrn über den Haufen gerannt hätte. Er verschwand, bevor sie sich entschuldigen konnte.

Die Dame am Empfang, die sie beobachtet hatte, ließ sich nichts anmerken, sondern fragte Monika, ob sie reserviert hätte.

Sie nannte den Namen Sturm.

»Frau Sturm ist bereits hier.«

Monika folgte den roten Pfennigabsätzen und dem schwingenden Hintern im blaugrünen Minirock. Die langbeinige Servicekraft deutete auf einen Ecktisch, und da stand Gisela auch bereits auf. Eine rotbraune Pagenfrisur umrahmte ihr rundes Gesicht. Sie umarmten sich.

»Gratuliere!« Gisela küsste sie auf die Wange. »Jetzt bist du den Rohling endlich los.«

Sie setzten sich, und Monika deutete auf ein halb volles Glas Rotwein. »Bin ich spät dran?«

»Nein. Ich hab früher Feierabend gemacht.«

»Wie hast du das geschafft? Du sagst doch immer, das Außenministerium sei ein Ausbeuterbetrieb.«

»Normalerweise schon, aber der Minister ist schon am Spätnachmittag gegangen, und ich bin gleich danach verduftet. So, wie der mich auf Trab hält, wenn er da ist, dachte ich mir, dass ich das Blaumachen verdient habe.«

»Gute Rechtfertigung.« Monika warf einen Blick auf das Weinglas. »Was trinkst du?«

»Beaujolais. Den trinkst du doch am liebsten.« Sie winkte den Kellner herbei. »Das Gleiche für meine Freundin und noch ein Glas für mich, bitte.«

Nachdem der Kellner sich entfernt hatte, fragte Gisela: »Sag, wie ist es gelaufen? Hat Jochen Schwierigkeiten gemacht?«

»Das hatte ich erwartet nach dem wochenlangen Gefeilsche von ihm und seinem Anwalt. Doch er war überraschend anständig.«

»Hat sich der Scheißkerl tatsächlich mal benommen?«

»Kaum zu glauben, ich weiß. Das Ganze war ziemlich ereignislos, wenn du mich fragst. Der Richter stellte ein paar routinemäßige Fragen und unterzeichnete das Scheidungsurteil. Ich fühle mich befreit. Grund zum Feiern.«

Wie gerufen brachte der Kellner ihre Getränke, und sie stießen an. Monika nippte mit wahrer Wollust an dem süffigen französischen Wein, entspannte sich und griff zur Speisekarte.

Nachdem der aufmerksame Kellner ihre Bestellungen aufgenommen hatte, erhob Gisela ihr Glas. »Auf dich und die romantischen Abenteuer, die dich erwarten.«

Während des Trinkspruchs musterte Monika ihre Freundin. Fachmännisch aufgetragenes Make-up, das die Falten ihrer vierzigjährigen Haut verbarg, Bluse und Rock, die ihre üppige Figur betonten, doch die extra Pfunde vorteilhaft verdeckten – kurzum, Gisela war keine Schönheit, aber recht attraktiv.

Monika setzte ihr Glas auf den Tisch. »Romantische Abenteuer? Wenn du mit mir tauschen willst – deinen Mann nähme ich jederzeit.«

Gisela lachte. »Auf keinen Fall. Lass gefälligst deine Finger von ihm!«

Monika hob beschwichtigend die Hände. »Kennst mich doch! Dein Klaus ist aber ein toller Fang. Wer weiß, wenn Jochen und ich ein Kind gehabt hätten so wie ihr …«

Gisela runzelte die Stirn. »Rainer ist fast im Teenageralter, und das merkt man. Mir graust jetzt schon vor den kommenden Jahren.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Reden wir besser von dir. Gibt es denn keine annehmbaren Junggesellen im Kanzleramt?«

Monika spottete: »Ich hab die Wahl zwischen muffeligen Ehemännern – meist glatzköpfig und mit Bierbauch – und übertrieben ehrgeizigen Aufsteigern, die in die Politik verliebt sind. Wenn die sich eine Frau nehmen, dann nur für eine Nacht.«

»Ja, das ist im Außenministerium genauso. Das soll aber nicht heißen, dass ich auf der Suche wäre.« Gisela langte über den Tisch und drückte Monikas Hand. »Du bist jung und hübsch. Bei deiner Figur werden die Verehrer bald Schlange stehen. Triff aber beim nächsten Mal eine bessere Wahl.«

»Darauf kannst du dich verlassen.« Monika erwiderte den Händedruck, ließ aber los, als der Kellner das Essen und mehr Wein servierte.

Nachdem sie etwas von ihrem Nudelgericht gegessen hatte, wischte Gisela sich den Mund mit ihrer Serviette. »Sag bloß nicht, dass du gleich in den Alltagstrott zurückkehrst. Etwas Spaß täte dir gut.«

Monika nahm einen Bissen Lachs, spülte ihn mit einem Schluck Beaujolais hinunter und lächelte geheimnisvoll. »Ich habe schon etwas vor.«

»Ich hab’s doch gewusst.« Gisela zielte scherzhaft mit der Gabel auf sie. »Sprich!«

»Ich mache vierzehn Tage Urlaub. Morgen reise ich ab.«

»Und … wohin?«

»Viareggio, an der italienischen Riviera. Es ist in der Nähe von Lucca und Florenz. Lange kann ich das am Strand Liegen nicht aushalten, ohne mich zu langweilen.«

»Klingt großartig. Schön wär’s, wenn ich dich begleiten könnte. Pass bloß auf, dass dich die feurigen Gigolos nicht kneifen. Sie schwärmen für Blondinen.«

Monika zwinkerte. »Vielleicht lasse ich den Bikini zu Hause.«

»Untersteh dich! Aber eine Urlaubsromanze wäre genau das Richtige für dich.«

Monika schüttelte den Kopf, plötzlich ernüchtert. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dazu bereit bin.«

»Was hast du denn? Du siehst enttäuscht aus.«

»Du kennst mich zu gut. Ich wollte ïï in der Arena di Verona sehen. Das ist meine Lieblingsoper, und die Freiluftinszenierung auf der riesengroßen Bühne soll spektakulär sein. Aber sie ist ausverkauft.«

Gisela drückte ihr nochmals die Hand. »Tut mir leid. Vielleicht gibt jemand seine Karten zurück.«

Monika seufzte. »Wenn nicht, dann gehe ich zu den Puccini-Sommerfestspielen in Torre del Lago.«

»Und dein Hotel?«, fragte Gisela. »Komm, muss ich dir alles aus der Nase ziehen?«

»Warum willst du das wissen? Schickst du mir einen gut aussehenden Junggesellen?«

Gisela zögerte. »Na klar.« Sie lachte.

Da lag etwas in diesem Lachen, mit dem sie so gezögert hatte, das Monika zu denken gab. Doch Gisela war ihre Freundin. Warum sollte sie ihr etwas verschweigen? »Pensione Garibaldi.«

Gisela nickte. »Ich kann’s kaum erwarten, von deinen Abenteuern zu hören, wenn du zurückkommst.«

Sie plauderten noch ein Weilchen über dies und das und beendeten ihr Essen.

Auf der Treppe hinunter zur Stadtbahnstation fragte sich Monika abermals, warum Gisela sich so für ihre Italienreise interessiert hatte. Vielleicht wollte sie damit ihre Unterstützung zeigen. Aber sie war noch niemals so neugierig gewesen.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4: Die Ausbildung

 

 

Stasi-Zentrale, Berlin-Lichtenberg, Montagmorgen, 18. Juli 1977

 

Stefan trat aus der U-Bahn-Station, blinzelte in die Morgensonne und brauchte einen Augenblick, um sich zurechtzufinden. Er wusste, dass die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße lag, war aber nie in der Nähe der gefürchteten Gebäude gewesen. Jetzt hatte er keine Wahl. Wenn man erst einmal ins Visier der Stasi geraten war, gab es keinen Ausweg.

Ein Mann in den Dreißigern eilte den Gehweg entlang. Die graue Uniform, die Tasche aus Kunstleder, sichtlich Staatseigentum, und seine energischen Schritte bedeuteten, dass er auf dem Weg zur Stasi-Zentrale war. Stefan folgte ihm zu einem massiven Gebäudekomplex. Dort atmete er tief durch, um die Müdigkeit zu vertreiben.

Er hatte sich während des schlaflosen Wochenendes den Kopf zerbrochen, wie er die Aufmerksamkeit des Generals auf sich gezogen haben könnte. Außer seinen Artikeln, die in der offiziellen Zeitung der SED veröffentlicht wurden, gab es kaum einen Anlass. Das musste es sein. Doch dann war er aus dem Halbschlaf erschreckt in die Höhe gefahren. Hatte ihn eine seiner Liebhaberinnen bei der Stasi verpfiffen? Keine von ihnen hatte er schlecht behandelt, und alle waren nur allzu gern bereit gewesen, einem armen Schriftsteller finanziell unter die Arme zu greifen. Oder nicht? Diese Gedanken und die ständige Angst vor einer Rückkehr ins Gefängnis hatten ihn verfolgt.

Der Mann vor ihm verschwand in einem überdachten Eingang, der aus dem achtstöckigen Plattenbau herausragte. Stefan folgte ihm in das trostlose Gebäude. Als der Mann zwei bewaffneten Wachposten seinen Ausweis zeigte, winkten sie ihn anstandslos durch. Dann schritt der kleinere der Wachposten auf Stefan zu. »Können wir Ihnen helfen?«

»Ich soll mich bei Generalleutnant Heinrich melden.«

»Name?«

»Stefan Malik.«

Der Wachposten hob die Hand. »Augenblick.« Er machte kehrt und betrat ein Büro hinter dem Tisch.

Stefan hörte das Drehen einer Telefonwählscheibe und dann eine gedämpfte Stimme. Innerhalb einer Minute erschien der Mann wieder. »Bitte Arme hoch!«

Stefan gehorchte.

Nachdem er ihn gründlich abgetastet hatte, sagte der Wärter: »Warten Sie hier, bis Sie zur HVA in Gebäude 15 geführt werden.«

»Was ist HVA?«

Der Mann schaute ihn an, offensichtlich erstaunt, wie jemand das nicht wissen konnte. Ob er Stefan sympathisch fand oder sich beim Herumstehen langweilte, aus welchen Gründen auch immer, er gab eine Erklärung. »Hauptverwaltung Aufklärung.« Dann nahm er seinen Sitz hinter dem Tisch wieder ein.

Also war Heinrich Generalleutnant im Auslandsnachrichtendienst der Stasi. Das hätte er sich denken können.

Eine halblaute Stimme unterbrach Stefans Gedanken. »Herr Malik?«

Er wandte sich dem Mann im Rentenalter zu. »Jawohl.«

»Kommen Sie mit.«

Der Wachposten hinkte vor Stefan durch ein Gängelabyrinth, wobei die Pistole in seinem Halfter bei jedem Schritt mitschwang. Das langsame Tempo stellte Stefans Geduld auf die Probe. Beim Blick auf eine Wanduhr, die ein paar Sekunden vor neun anzeigte, wurde er nervös und wäre dem Alten, der beim Treppensteigen das kranke Bein nachzog, am liebsten vorausgerannt. Der General würde ihn für seine Verspätung zum ersten Termin schön anscheißen. Das Geräusch einer ratternden Schreibmaschine trieb ihn zur Eile an. Sobald der Alte die letzte Treppenstufe bewältigt hatte, verstummte die Maschine. Stefan folgte ihm über den Fliesenboden eines Foyers.

Eine Frau in ihren Dreißigern, die an einem kleinen Schreibtisch saß, sah ihm neugierig entgegen. »Herr Malik?«

Stefan nickte, während er sie abschätzte – üppiger Busen, kurz geschnittenes, braunes Haar, hohe Wangenknochen. Während der Wachposten sich zurückzog, sprach sie Stefans Nachnahmen mit gedämpfter Stimme in ein gelbes Tischtelefon. Dann stand sie auf und deutete auf eine Tür, die er bislang nicht bemerkt hatte, da ihr Ockerfarbton sich kaum von der tristen Wandfarbe abhob. Ein Schild auf Augenhöhe verkündete Namen und Titel des Generals in Blockschrift. Sie klopfte, und als eine tiefe Stimme antwortete, öffnete sie die Tür. Stefan betrat mit zögernden Schritten das Linoleum, wobei er Heinrich, der hinter einem großen Schreibtisch saß, im Auge behielt. Als das Türschloss einrastete, schaute der General auf und deutete auf einen kleinen Tisch mit vier Stühlen am Fenster. Stefan setzte sich unter die Porträts von Staats- und Parteichef Erich Honecker und Stasi-Chef Erich Mielke.

Während der General sich mit Papieren beschäftigte, bemerkte Stefan, dass keine gerahmten Bilder auf dem Schreibtisch standen. Entweder war Heinrich nicht verheiratet, oder er zog es vor, sein persönliches Leben nicht zur Schau zu stellen. Stefan schaute sich in dem Büro kurz um. Obwohl es größer und besser möbliert war als das im Gefängnis, entsprach es nicht dem Bild, das er sich von dem eines Stasi-Generalleutnants gemacht hatte. Die Wandtäfelung aus hellem Holzimitat passte so gar nicht zu dem dunkelbraunen Schreibtisch und olivfarbenen Linoleum. Das eingerahmte Stasi-Emblem, eine Hand am Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett, umrandet von den Worten Ministerium für Staatssicherheit, hing hinter Heinrich an der Wand. Groß genug, um ein Safe zu verbergen? Stefan hörte auf zu spekulieren, als Heinrich mit einer Akte zu ihm an den Tisch kam.

Der General setzte sich auf den Stuhl Stefan gegenüber und legte die Akte auf die Glastischplatte. Er starrte Stefan an. »Ich sagte neun Uhr.«

Stefan blickte auf die Uhr über der Tür. Fünf nach neun. »Ich wusste nicht, in welchem Gebäude –«

»Ich habe Sie nicht gefragt, warum Sie spät dran sind, Genosse.« Heinrich schlug mit der Faust auf die Akte. »Ich akzeptiere keine Ausreden. Sie werden immer pünktlich sein. Ist das klar?«

»Jawohl.« Stefan verkniff sich das Verlangen, darauf hinzuweisen, dass er sich schon mehrere Minuten im Büro befand.

»Erste Lektion – missachten Sie Anweisungen oder Prozeduren, und Sie werden enttarnt. Vergessen Sie das niemals.«

Stefan nickte.

»Haben Sie irgendjemandem gesagt, dass Sie hierhergekommen sind?«

Die Frage überraschte Stefan, sodass er zögerte. »Nein, ich … das habe ich nicht.«

»Das klingt so, als ob Sie darüber nachdenken mussten. Sind Sie sich dessen sicher?«

»Jawohl.« Stefan hielt des Generals Blick stand.

»Niemand außerhalb der Agentur darf wissen, wo Sie arbeiten. Kapiert?«

»Jawohl.«

Heinrich zog ein Blatt Papier aus der Akte, schob es über den Tisch und reichte ihm einen Stift aus seiner Jackentasche. »Unser Standardvertrag beschreibt das ausführlich.«

Stefan war dabei, den ersten Paragrafen zu überfliegen, als der General ihn anherrschte: »Umdrehen und unterschreiben. Sie können Ihre Kopie später lesen.«

Dieses Mal heuchelte der General nicht vor, dass Stefan eine Wahl hätte. Also gehorchte er und reichte das unterzeichnete Dokument zurück. Weiß Gott, was er alles zugestimmt hatte.

»In den nächsten Wochen werden Sie die Spionagepraxis von den Besten unserer Branche lernen.« Des Generals Gesicht strahlte vor Stolz.

»Unterrichten Sie –?«

»Nein. Die Schule ist in Golm, westlich von Potsdam, etwa vierzig Kilometer.«

»Aber –«

»Ich weiß, dass Sie kein Auto besitzen. Ein Fahrer holt Sie um eins in Ihrer Wohnung ab. Packen Sie für einen mehrwöchigen Aufenthalt. Es ist alles arrangiert. Noch Fragen?«

Stefan schüttelte den Kopf.

»Sie werden dort mit den notwendigen Spionagewerkzeugen vertraut gemacht. Aber das ist nur der Anfang. Ich werde Sie danach zum Stasi-Romeo ausbilden.«

Heinrich blätterte durch die Akte. »Da steht es.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle. »Methoden, wie Sie westdeutschen Sekretärinnen näherkommen, wie man sie umwirbt, wie man eine Beziehung herstellt, wie man ihr Vertrauen gewinnt, wie man ihnen den Kopf verdreht, wie man sie dazu überredet, Staatsgeheimnisse zu verraten.«

Stefan musste gegen widerstreitende Gefühle ankämpfen. Er genoss eine Romanze und Sex, solange die Frau attraktiv war. Sicher hatte er sich von manch einer Geld gepumpt, aber nie Liebe vorgetäuscht, um sie zu manipulieren. Der General wollte ihn für etwas Grundverschiedenes aufbauen. Würde er es fertigbringen, eine plumpe Frau zu umwerben, mit ihr zu schlafen, ihr Liebe vorzuspielen, nur damit sie Dienstgeheimnisse verriet und am Ende als Informantin im Netz der Stasi zappelte?

Heinrich fuhr in seinen Anweisungen fort. »Heute Morgen behandle ich nur ein paar Themen. Nehmen Sie diese Akte daher mit. Ich rechne damit, dass Sie nach Ihrer Rückkehr von Golm bis ins kleinste Detail informiert sind.«

»Jawohl.«

Heinrich musterte ihn eine geraume Weile, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die mit seinem Daumen markierte Seite richtete. »Wir interessieren uns hauptsächlich für Sekretärinnen, die im Kanzleramt, in Ministerien und anderen westdeutschen Institutionen beschäftigt sind. Sie wissen oft mehr, als man denkt, und viele sind für Geheimsachen verantwortlich. Abgeordnete und Minister kommen und gehen, Sekretärinnen bleiben. Deshalb sind sie eine langfristige Investition wert.« Heinrich schaute auf. »Können Sie mir bis jetzt folgen?«

»Jawohl.«

»Wir richten unser Augenmerk auf ledige oder geschiedene Frauen, was nicht allzu schwer ist. Ob Sie es glauben oder nicht, etwa dreißig Prozent der Sekretärinnen in Bonn, die bei der Regierung oder Parteien beschäftigt sind, fallen in diese Kategorie.« Heinrichs Stimme hatte einen triumphierenden Klang.

Die Selbstgefälligkeit dieses Mannes ging Stefan auf die Nerven, dennoch brachte er es fertig herauszuplatzen: »Hervorragend, Herr General.«

»Ideales Jagdrevier für Sie, würde ich sagen.« Heinrich beugte sich vor. »Ins Visier wollen wir einsame Frauen nehmen, die sich schwer damit tun, Freunde zu finden. Falls sie auf der Suche nach einem Ehemann sind, umso besser.«

Der General klappte die Akte zu und schob sie über den Tisch. »Das war’s für heute. Sie studieren den Rest. Noch Fragen?«

»Nein, Herr General.«

Heinrich stand auf. »Meine Sekretärin führt Sie nach unten, wo Sie Ihren Ausweis bekommen. Dann gehen Sie sofort nach Hause und packen. Punkt eins müssen Sie bereit sein.«

»Geht in Ordnung, Herr General.« Stefan nahm die Akte und ging zur Tür.

»Ich erinnere Sie daran, dass Sie niemandem sagen dürfen, was Sie tun, wo Sie hingehen oder für wen Sie tätig sind. Verstanden?«

Stefan drehte sich noch einmal zu Heinrich um. »Jawohl, Herr General.«

»Das gilt auch für Traude. Sie wollen ihr doch sicherlich keinen Schaden zufügen, oder?«

»Nein, auf keinen Fall.«

Die Erwähnung seiner Tochter und die angedeutete Drohung bestürzten Stefan. Wenn er bloß auf diesen Schweinehund losgehen und ihn über seinen großen Schreibtisch zerren könnte! Aber das war ausgeschlossen, wenn er nicht wieder im Gefängnis landen wollte. Er packte die Türklinke so fest, dass seine Finger abrutschten. Beim zweiten Versuch gelang es ihm, die Tür zu öffnen und den Raum zu verlassen.

Auf dem Weg zur Sekretärin brütete er über der verschleierten Drohung. Was könnte Heinrich Traude antun, falls ihr Vater nicht nach des Generals Pfeife tanzte?

 

 

 

 

 

 

Kapitel 5: Rasterfahndung

 

 

Bundesnachrichtendienst, Pullach, Montagmorgen, 18. Juli 1977

 

Sabine war im Begriff, ihr Büro zu verlassen – Kaffeetasse in einer Hand und Akte in der anderen –, als ihr Chef eintrat. Er trug ebenfalls eine Tasse vor sich her. »Bleiben Sie. Wir können hier sprechen.«

Sie kehrte um und verschüttelte fast ihren Kaffee, als sie sich schwungvoll in ihren Schreibtischstuhl setzte.

Dorfmann ließ sich im Besucherstuhl nieder und lächelte schief. »Dieses Wochenende hatten Sie Gelegenheit, unsere Expertin für Rasterfahndung zu werden. Eigentlich sehen Sie dafür recht ausgeruht aus.«

»Sehr witzig, Chef.« Sie tippte auf die Akte. »Ich bin vielleicht keine Expertin, aber ich weiß alles, was hier drin steht. Und ich kann Ihnen eines versichern: Rasterfahndung ist eine Sackgasse, was das Ausfindigmachen von Stasi-Spionen betrifft.«

Dorfmanns Lächeln schwand. Er stützte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte. »Das darf doch nicht wahr sein.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Es wird nicht funktionieren.«

»Sind Sie da so sicher?«

»Tatsache ist, dass die Rasterfahndung vom Bundeskriminalamt für die Enttarnung linksgerichteter Terroristen entwickelt wurde, und selbst dafür hat sie sich nur in wenigen Einzelfällen als erfolgreich erwiesen.«

»Bitte begründen Sie Ihre Schlussfolgerung, warum uns mit dieser Methode keine Spione ins Netz gehen werden.«

Sabine heftete ihren Blick auf eine Stelle an der gegenüberliegenden Wand und konzentrierte sich darauf, wie sie ihre Meinung am besten erklären könnte. Sie atmete tief durch und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Dorfmann zu. »Wenn es funktionieren soll, müssen wir erst einmal einzelne Individuen innerhalb unserer Tätergruppe ausfindig machen und bei diesen nach gemeinsamen Eigenschaften suchen, das heißt, ein entsprechendes Profil entwickeln. Dann erst können wir eine Rasterfahndung durchführen, die dieses Profil mit Daten von Wohnsitzregistrierungen, Polizeiakten, Versicherungsunterlagen, Mietverträgen, Telefonaufzeichnungen, Zahlungen an Stadtwerke und so weiter vergleicht.«

Dorfmann rutschte auf die Kante seines Stuhles. »Augenblick mal, ist das alles wirklich notwendig?«

»Oh ja.«

»Dazu bräuchte man mehr Leute, als wir zur Verfügung haben.«

»Selbst wenn wir das Personal hätten, diese Methode wäre für uns undurchführbar.«

Dorfmann runzelte die Stirn. »Warum?«

»Weil sich, im Gegensatz zu linksgerichteten Terroristen, Stasi-Agenten nicht ohne Weiteres in ein Profil zwängen lassen. Wir besitzen nun mal leider keine Informationen, mit denen wir einen Computer füttern könnten, damit er uns bedeutsame Ergebnisse liefert.« Die Kiefer verkrampft hielt sie dem Blick ihres Chefs stand. »Wie sagen die Amerikaner so schön?« Sie machte eine Kunstpause. »Garbage in, garbage out.«

»Auf gut Deutsch: Wenn man Müll hineinsteckt, kommt auch Müll heraus.« Seine strenge Miene lockerte sich, und sie hätte schwören können, dass er sich ein Schmunzeln verkniff. Er blickte sie immer noch an und sagte: »Also gut. Sie haben unsere Zweifel an der Tauglichkeit der Rasterfahndung bestätigt. Sie kann uns nicht helfen, Spione zu enttarnen. Aber das löst unser Problem nicht, oder?«

»Kaum.«

»Der Kanzler wird jeden Tag ungeduldiger. Er will, dass wir diese Stasi-Spione umgehend außer Gefecht setzen. Haben Sie sich eine neue Methode einfallen lassen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Leider habe ich das ganze Wochenende über herauszufinden versucht, ob und wie die Methode der Rasterfahndung für uns funktionieren könnte.« Sie unterdrückte die Gedanken an den Opernabend und sagte: »Um mir etwas anderes auszudenken, hatte ich keine Zeit.«

Sein Gesicht nahm einen schelmischen Ausdruck an.

Sabine stöhnte. »Sie brüten doch etwas aus, Chef, und ich glaube nicht, dass mir das gefallen wird.«

Er faltete die Hände über dem Bauch und lehnte sich zurück. »Es kann sein, dass ich von jetzt auf gleich nach Bonn zitiert werde. Und wer als unsere neueste Expertin würde sich besser dafür eignen, dem Kanzler zu verdeutlichen, warum wir die Rasterfahndung nicht benutzen?«

Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. »Ich hatte schon öfter den Verdacht, dass Sie eine gemeine Ader haben.«

Dorfmann grinste. »Gut gekontert. Aber im Ernst – Sie sollten mich nach Bonn begleiten. Und auf keinen Fall wollen wir ohne einen Vorschlag hinfahren, wie wir Stasi-Spione enttarnen können. Sie sind kreativ und haben Ideen. Sie können sich bestimmt etwas ausdenken, das funktionieren wird.«

Sabine hielt seinem Blick stand. Er verließ sich auf sie, also musste sie dafür sorgen, dass sie nicht mit leeren Händen dastanden. »Okay. Ich werde Tag und Nacht nur an Stasi-Spione denken, sogar wenn ich eigentlich schlafen sollte.«

Dorfmann nickte zufrieden, stand auf und deutete auf die Akte. »Zurück ins Archiv, bitte.« Er nahm seine Tasse und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Immer schön an den silbernen Mercedes denken.«

 

 

 

 

 

 

Kapitel 6: Die Mission

 

 

Hauptverwaltung Aufklärung, Stasi-Zentrale, Ostberlin, Montagmorgen, 18. Juli 1977

 

Die Art, wie Stefan Malik bei der Erwähnung seiner Tochter an der Türklinke gefummelt hatte, bereitete Heinrich gemischte Gefühle. Gut, dass Malik verstanden hatte, dass seine Tochter leiden würde, falls er Mist baute; nicht so gut, dass man ihm so deutlich anmerken konnte, wie die Drohung ihn erschütterte. Hatte er einen Fehler begangen, einen Neuling zu rekrutieren? Vielleicht hatte er sich von Maliks augenfälligen Eigenschaften beeinflussen lassen. Er wischte seine Zweifel beiseite und steckte den unterzeichneten Vertrag in die Akte auf seinem Schreibtisch. An einem Tag wurde weder Rom erbaut noch ein Spion geformt.

Er schwenkte seinen Stuhl zur Wand und griff den unteren Rand des niedrig hängenden Stasi-Emblems mit beiden Händen. Durch leichtes Anheben löste sich der Rahmen vom Haken. Er setzte das Wappen auf den Boden und enthüllte so den kleinen Safe. Heinrich drehte das Rad mit den Nummern, die ihn mit Stolz erfüllten: 5-4-7-4, der Tag seiner Beförderung zum Generalleutnant am 5. April 1974. Wenn alles so lief, wie er es sich erhoffte, konnte Malik ihm eine neue Kombination bescheren – wenn er nämlich zum Generaloberst befördert würde.

Er legte Maliks Akte auf die der anderen Romeo-Spione. Manche mochten ihn als paranoid bezeichnen, weil er sie nicht im sicheren Archiv im Erdgeschoss aufbewahrte, aber er schlief so besser.

Er war gerade im Begriff, den Safe zu schließen, als die Stimme seiner Sekretärin über die Gegensprechanlage erklang: »Leutnant Gruber hat gerade ein Kuvert vorbeigebracht. Er sagt, es sei dringend.«

»Herein damit.«

Sie trat ein und reichte ihm einen versiegelten Umschlag, der an ihn adressiert und STRENG GEHEIM gestempelt war. Er ignorierte den Brieföffner in ihrer ausgestreckten Hand, riss das Kuvert auf und zog ein Blatt heraus. Beim Lesen der kurzen Notiz schoss ihm das Blut ins Gesicht. Seine Geduld würde endlich belohnt werden.

Er ließ Zettel und Umschlag auf den Schreibtisch fallen. »Oberst Borst soll sich sofort bei mir melden. Und bringen Sie mir die Monika-Fuchs-Akte aus dem Archiv.«

Sie nickte und ging. Er trat an den offenen Safe und suchte in dem Stoß von Ordnern, bis er den mit ›Uli Borst‹ beschrifteten fand. Er warf ihn auf den Schreibtisch, schloss den Safe und hängte das eingerahmte Stasi-Emblem wieder an seinen Platz. Zu aufgeregt zum Sitzen tigerte er durch das Büro. Alles nahm endlich Gestalt an. Vor den Porträts von Honecker und Mielke blieb er stehen. Sie würden ihn zum Generaloberst befördern, falls ihm dies gelang. Dann setzte er seinen Weg über das Linoleum fort. Wo zum Teufel blieb Borst? Was dauerte denn so lange?

Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Mit einem Schritt war er bei der Tür und riss sie auf. Beim Anblick von Oberst Uli Borst fragte sich Heinrich wie schon so oft, was Frauen an diesem Mann fanden. Er war ein Mittdreißiger, nicht größer als eins fünfundsiebzig, mit dünner werdendem, braunem Haar, und seinen Bauchansatz konnte die Uniform nicht verbergen. Doch am Erfolg des Obersts war nichts auszusetzen. Er war einer seiner Star-Romeos, dessen Liebesaffären mit einsamen westdeutschen Sekretärinnen der Stasi über die Jahre zahllose Geheimnisse in die Hände gespielt hatten. Heinrich wies Borst einen Sitzplatz zu.

Der Oberst war offensichtlich neugierig, doch wie es sich für einen braven Parteisoldaten gehörte, hütete er sich, Fragen zu stellen.

»Oberst, wir können uns endlich auf die Zielperson fokussieren, die wir schon so lange im Visier gehabt haben.«

»Monika Fuchs?«

»Genau. Ich habe gerade erfahren, dass sie nach ihrer Scheidung einen zweiwöchigen Urlaub in Italien verbringt. Das bedeutet, dass Sie morgen nach Viareggio abreisen.«

Borst schaute ihn mit ausdruckslosem Blick an.

»Ein Badeort an der Riviera, bei Florenz. Sie haben schon mal von Florenz gehört, Oberst?«

»Selbstverständlich, Herr General.«

Heinrich schnappte sich Notizblock und Stift und schrieb: Pensione Garibaldi. Er riss den Zettel ab und reichte ihn Borst. »Da ist sie einquartiert.«

Seine Sekretärin klopfte und trat ein. »Die verlangte Akte, Herr General.« Sie legte sie auf den Schreibtisch.

Nachdem sie gegangen war, wandte Heinrich sich Borst zu. »Müssen Sie Ihr Gedächtnis mit der Fuchs-Akte auffrischen?«

»Ich denke nicht, Herr General.« Der Oberst zögerte. »Außer sie enthält neue Angaben, seit ich sie letztmals studiert habe.«

»Das war letzte Woche?«

Borst nickte.

»Nichts Neues. Irgendwelche Fragen, Oberst?«

»Nein.«

Heinrich stand auf. »Meine Sekretärin wird die notwendigen Reisevorbereitungen treffen. Sie gehen heim und packen. Warten Sie auf den Anruf.«

Borst erhob sich und ging zur Tür, drehte sich jedoch noch einmal um, als Heinrich ihm zurief: »Sie sind sich hoffentlich darüber im Klaren, wie ausgesprochen wertvoll Monika Fuchs für uns ist?«

»Jawohl, Herr General.«

»Sie haben schon Großartiges geleistet, Oberst, aber dies ist Ihre wichtigste Aufgabe. Sie müssen erfolgreich sein!«

»Jawohl, Herr General.« Borst zog die Tür hinter sich zu.

Als er sich auf den Weg ins Vorzimmer zu seiner Sekretärin machte, überzeugte sich Heinrich davon, dass er den besten Romeo für diesen Auftrag gewählt hatte – jemanden, der nicht scheitern würde.

 

 

 

 

 

Kapitel 7: Don Giovanni

 

 

München, Montagabend, 18. Juli 1977

 

Mit einer übervollen Einkaufstasche am Arm zielte Sabine Maier im düsteren Gang mit dem Schlüssel auf das Schlüsselloch ihrer Wohnungstür. Vielleicht sollte sie das zusätzliche Geld der versprochenen Gehaltserhöhung nicht für einen Mercedes, sondern für eine nettere Wohnung ausgeben. Welche Gehaltserhöhung? Im Büro hatte sie sich den ganzen Tag lang den Kopf zerbrochen, doch nichts war ihr eingefallen. Nicht eine einzige Idee für den von ihrem Chef verlangten neuen Ansatz war ihr gekommen.

Nachdem sie es endlich geschafft hatte aufzuschließen, trat sie ein, stieß die Tür mit dem Absatz zu und stellte die Tasche auf die Küchentheke. Auf dem Weg zum Schlafzimmer knöpfte sie ihre Bluse auf und lockerte ihren Rock. Sie warf die Kleider aufs Bett, schleuderte ihre Pumps auf den Teppich und nahm T-Shirt und Jeans aus der Kommode. Sabine hoffte, mit der unbequemen Kleidung irgendwie auch den Frust dieses Tages abzulegen.

Auf dem kurzen Weg zurück in die Küche suchte sie erneut die Erinnerung heim, wie fruchtlos ihre Tagesbemühungen gewesen waren. Halt, Schluss damit! Wie hatte ihre Mutter immer gesagt, wenn sie sich mit ihren Hausaufgaben herumquälte? Je mehr du dich anstrengst, ein Problem zu lösen, desto weniger gelingt es dir. Entspann dich, denke an etwas anderes, und über kurz oder lang wirst du eine Eingebung haben. Ein Glas Wein beim Kochen wäre genau das Richtige.

Sie stellte einen mit Wasser gefüllten Topf auf den Herd und drehte die Gasflamme auf. Dann goss sie aus der halb vollen Flasche Spätburgunder auf der Durchreiche einen ordentlichen Schluck in das Kristallglas, das auf dem Trockengestell neben dem Waschbecken stand. Sie war kein Weinkenner und fand den Rotwein noch genauso köstlich wie am Wochenende, als sie die Rasterfahndungsakte studiert hatte. Eine Viertelstunde später standen Spaghetti mit Tomatensoße und geriebenem Parmesan auf dem Esszimmertisch. Sie schenkte sich den Rest des Weins ein und setzte sich. Bevor sie zu essen begann, merkte sie, dass etwas fehlte. Ja, klar. Zu einem italienischen Gericht gehörte natürlich italienische Musik – eine perfekte Gelegenheit, die Schallplatte, die sie sich zur Aufführung am Samstagabend gekauft hatte, anzuhören.

Kurz darauf spülte Mozarts herrliche Musik die Anspannung des Tages fort; Rotwein und Nudeln taten das Übrige. Als sie etwa die Hälfte des lukullischen Mahls verzehrt hatte, erklang eines von Sabines Lieblingsstücken. Sie lehnte sich zurück, um die Registerarie zu genießen, in welcher der Diener Leoporello die ellenlange Liste der Frauen rezitiert, die Don Giovanni in ganz Europa verführt hat. Des Baritons belustigter Klang ertönte: »Ma in Ispagna, son già mille et tre.« Die tausendunddrei spanischen Eroberungen lösten immer ein amüsiertes Schmunzeln bei ihr aus.

Das Glas war leer. Während sie überlegte, ob sie noch eine Flasche entkorken sollte, überkam sie plötzlich ein Geistesblitz: Don Giovanni, der Frauen mit Eheversprechen verführte – das Bild der Bonner Sekretärin, die im Frühjahr wegen Spionage verurteilt worden war, ging ihr durch den Kopf. Die Frau war dem Charme eines ostdeutschen Spions erlegen. Und wenn sie kein Einzelfall war? Dank Mozart könnte sie zufällig auf eine neue Methode der Stasi gestoßen sein, Westdeutschlands Geheimnisse zu stehlen.

Das musste begossen werden. Nachdem sie die inzwischen lauwarmen restlichen Nudeln heruntergeschlungen hatte, erhob sie ihr Glas auf sich selbst, stellte es aber gleich wieder ab. Zu verstehen, wie die Stasi die westdeutsche Regierung infiltrierte, war eine Sache, diese Geheimagenten aber aufzuspüren, eine ganz andere. Als Experten in Spionagepraxis achteten sie darauf, keine Spuren zu hinterlassen.

Sie nahm einen Schluck Spätburgunder, dann noch einen und genoss den trockenen Wein. Als hätte es der Ablenkung bedurft, kam ihr eine weitere Eingebung. Was wäre, wenn man sich anstelle der Spione auf die Frauen konzentrierte, die am ehesten im Visier der Stasi waren? Das könnte der neue Ansatz sein, nach dem sie gesucht hatte: anfällige Frauen aufspüren und scharf beobachten.

Sie müsste ein Profil von Frauen mit Zugang zu Staatsgeheimnissen erstellen und ihre Charaktereigenschaften untersuchen. Dann wäre sie eventuell in der Lage, gemeinsame Faktoren festzustellen, auf deren Basis sie die Fährte von Stasi-Agenten aufnehmen könnte. Was hatten diese Frauen gemeinsam? Wahrscheinlich waren sie ledig oder geschieden. Auch verheiratete Frauen waren gegen Affären nicht immun; man konnte sie aber vorerst ausschließen. Der Chef des Stasi-Spionagerings, dessen Aussehen im Westen immer noch unbekannt war, wäre zu klug, das Risiko einzugehen, dass einer seiner Romeos von einem betrogenen Ehemann entlarvt werde.

Doch die Anzahl unverheirateter Frauen im Regierungsdienst musste riesengroß sein. Vielleicht wäre es möglich, die Suche einzuengen, wenn auch nicht mittels Rasterfahndung. Sie schluckte den Rest des Weins und erinnerte sich an eine Sekretärin in Köln, die ebenfalls einem Stasi-Spion verfallen war. Es gab sicherlich noch andere, die bereit waren, Dokumente zu kopieren, um sie ihren Liebhabern auszuhändigen.

Gleich als Erstes morgen früh würde sie damit anfangen, Informationen über Frauen zu sammeln, die der Spionage angeklagt worden waren. Nur so konnte sie den roten Faden aufspüren, der sich durch diese Fälle zog.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 8: Der Unfall

 

 

Hauptverwaltung Aufklärung, Stasi-Zentrale, Ostberlin, Dienstagmorgen, 19. Juli 1977

 

Heinrich war in Gedanken bei der Mission, die er gestern in die Wege geleitet hatte, daher murmelte er seiner Sekretärin nur ein hastiges ›Guten Morgen‹ zu. Uli Borst sollte jetzt gerade seinen Flug nach Mailand antreten.

»Herr General, ich muss Ihnen berichten –«

»Was ist los? Raus mit der Sprache!«

»Oberst Borst ist gestern Nacht verunglückt.«

»Was soll das bedeuten?« Aus ihrem Gesichtsausdruck befürchtete er das Schlimmste. »Ist er –?«

»Nein, nicht tot, aber er liegt auf der Intensivstation.«

»Verdammt!« Er starrte sie an. »Was für ein Unfall war das?«

»Ich weiß nur, dass die Polizei ihn um halb drei nachts aus seinem Auto gezogen hat. Er muss die Kontrolle verloren haben und in einen Graben gefahren sein.«

Heinrich erinnerte sich an die Gerüchte über Borsts Trunksucht. Er hatte sie nicht weiter beachtet, da nichts darauf hinwies, dass Alkohol sich störend auf seine Tätigkeit auswirkte. Er war einer der Jungs, die es manchmal zum Abschluss eines Auftrags krachen ließen. Vielleicht hätte er den Gerüchten mehr Beachtung schenken sollen. Er ärgerte sich so über Borst und sich selbst, dass er fast noch mal geflucht hätte, doch als er die traurige Miene seiner Sekretärin bemerkte, verkniff er es sich.

Er fragte: »Was sagen die Ärzte?«

»Na ja, Sie wissen ja, wie Ärzte so sind. Sie lassen sich auf nichts festlegen, außer dass es ein langer Genesungsprozess werden wird.«

Heinrich stand da, finstere Gedanken im Kopf. Die Fuchs-Mission war zum Teufel. Der fragende Blick seiner Sekretärin gemahnte ihn daran, Anweisungen zu geben.

»Sobald beim Oberst Besuch gestattet ist, bringen Sie ihm Blumen.« Er ging auf sein Büro zu, verharrte aber auf halbem Wege. »Und noch etwas, Frau Schröder. Benachrichtigen Sie seine Verwandten, falls das Krankenhaus das nicht bereits getan hat. Ich weiß nur von einem Bruder in Leipzig.«

Sie nickte und hob den Hörer ab. Heinrich schloss die Bürotür hinter sich und stampfte zum Schreibtisch. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, rief er aus, und es war ihm egal, ob Schröder es hörte. Er sackte auf seinem Stuhl zusammen. Schadensbegrenzung betreiben. Er musste einen Ersatzmann beschaffen, und zwar schnell. Bei dem Gedanken sprang er vom Stuhl auf, nahm das Stasi-Emblem von der Wand, öffnete den Safe und entnahm Dutzende von Ordnern, die er auf dem Schreibtisch stapelte und fieberhaft überflog. Er musste jemanden finden, den er kurzfristig für die Aufgabe engagieren konnte. Doch alle seine Romeos waren im Westen im Einsatz. Scheiße! Gab es keinen, den er loseisen könnte?

Er studierte die Ordner systematischer und war fast am Ende angelangt, als er auf die Akte von Major Dietmar Kurz stieß. Dessen jüngster Bericht aus Bonn versprach Erfolg bei der Umwerbung einer Sekretärin mit Zugang zu NATO-Korrespondenz. Kurz hatte sie übers Wochenende beschlafen. Noch ein paar Wochen Liebesaffäre, und er könnte sie vielleicht rekrutieren. NATO-Dokumente in die Finger zu bekommen, war verlockend, aber kein so großer Coup, wie das westdeutsche Kanzleramt durch Monika Fuchs zu infiltrieren.

Heinrich konzentrierte sich. Selbst die kleinste Möglichkeit, Einblick in des Kanzlers Korrespondenz zu erhalten, musste er nutzen. Obwohl er es hasste, eine vielversprechende Mission aufzugeben, traf er die schwere Entscheidung, Kurz von seinem Auftrag abzuberufen. Monika Fuchs hatte Vorrang. Ihre Italienreise bot ihnen vielleicht die einzige Gelegenheit, unverfänglich mit ihr Kontakt aufzunehmen. Die durfte er sich nicht durch die Lappen gehen lassen! Er ergriff Notizblock und Stift. Nach kurzem Überlegen schrieb er die vereinbarte Botschaft, die seine Agenten anwies, unverzüglich in die Zentrale zurückzukehren: Heimat sofort.

Er überprüfte die Akte und murrte: »Scheiße.« Der Funkspruch konnte erst um fünf heute Nachmittag gesendet werden – die Tageszeit, die er für Übermittlungen an Major Kurz bestimmt hatte.

Heinrich kritzelte 17:00 Uhr auf das Papier und drückte auf die Taste der Gegensprechanlage. »Frau Schröder, bitte kommen Sie herein.«

Als sie den Raum betreten hatte, riss er das Blatt vom Block und gab es ihr. »Bringen Sie das zur Funkaufklärung. Es muss Punkt siebzehn Uhr an Major Kurz übertragen werden.«

»Wird erledigt, Herr General.«

Nachdem sie gegangen war, legte Heinrich die Ordner zurück in den Safe und versuchte, Trost in der Tatsache zu finden, dass Borsts Unfall ihn höchstens zwei Tage kosten würde. Morgen könnte er Major Kurz seine Anweisungen erteilen, sodass der am Donnerstag auf dem Weg nach Italien wäre. Dennoch wurde er das quälende Gefühl nicht los, es könnte zu spät sein. Er malte sich einen italienischen Strand mit deutschen Blondinen und italienischen Gigolos auf der Jagd aus. Die frisch geschiedene Monika Fuchs könnte gerade in der richtigen Stimmung für ein Urlaubsabenteuer mit einem der dunkelhaarigen Casanovas sein. Das würde Major Kurz auf eine Zuschauerrolle beschränken. Vieles konnte in zwei Tagen passieren – nichts davon gut.

Er blickte auf die Porträts der Parteifunktionäre an der Wand. Was würden Mielke oder Honecker tun? Eines war sicher: Falls sie herausfänden, dass er die Chance verpasst hatte, eine Kanzleramtssekretärin mit Sicherheitsfreigabe in eine Spionin zu verwandeln, würden sie ihn auf keinen Fall befördern, schlimmstenfalls sogar degradieren. Die Winde in seinem Staat konnten sich im Nu drehen, und er musste sie jederzeit im Rücken behalten.

Heinrich lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte an die Decke. Könnte Kurz nur früher dort sein! Vielleicht sollte er die Orientierungsstunde ausfallen lassen und ihn von Köln direkt nach Viareggio senden. Nicht ideal, weil der Major nicht genügend Erfahrung besaß, um zu improvisieren. Mit dem Stift in der Hand überlegte Heinrich, wie er die Anweisung für Kurz klar genug formulieren könnte, ohne die westdeutschen Geheimdienste, die alle Funkübermittlungen aus dem Osten überwachten, zu warnen. Ihm fiel nichts ein. Vielleicht hätte jemand in der Funkabwehr eine Idee. Eine Notiz in einem toten Briefkasten wäre am besten, doch die Zeit reichte dazu nicht aus.

Dann grübelte er über eine Maßnahme, die Fuchs vor eventuellen Avancen schützen könnte, bis Kurz ankam. Eine einfache Lösung. Und plötzlich wusste er genau, wer die notwendigen Schritte unternehmen könnte.

Schröder sollte inzwischen zurück sein. Heinrich drückte den Rufknopf. Sobald sie die Gegensprechanlage beantwortete, sagte er: »Ist bei der Funkabwehr alles bereit für die Übermittlung?«

»Jawohl, Herr General. Sie geht Punkt fünf.«

»Gut. Dann verbinden Sie mich jetzt mit Signore Amato Conti in Mailand.«

»Sofort, Herr General.«

Während er auf das Telefonat wartete, überlegte sich Heinrich, was er seinem Mailänder Kontaktmann sagen sollte. Zumindest konnte er sich darauf verlassen, dass Conti alles in Italien arrangieren würde. Dafür garantierten die großzügigen Zahlungen von der Stasi.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 9: Gemeinsame Eigenschaften

 

 

Bundesnachrichtendienst, Pullach, Dienstag, 19. Juli 1977

 

Sabine Maier schritt den Gang im Erdgeschoss entlang und wiederholte lautlos den Namen, der ihr heute früh beim Aufwachen eingefallen war. Sie stieß die Glastür zum Archiv auf. Beim Klang der Türklingel lugte Heinz Riedel aus einem engen Korridor zwischen Archivregalen hervor. Sein runzliges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das seinen Schnurrbart kräuselte.

»Guten Morgen, Frau Maier. Was führt Sie so früh in unsere Unterwelt?«

Sie erwiderte seinen Gruß und schmunzelte über seinen selbstironischen Humor. Er trug einen beigefarbenen Polyesteranzug mit blank gewetzten Ellenbogen. Eine Clipkrawatte hing schief von seinem schlaffen, weißen Kragen mit Schmutzrand. Typisch für ältere Männer, die sich nicht mehr um ihr Aussehen kümmerten, oder Anzeichen eines dürftigen Gehalts? Dabei leitete er die Archivabteilung – eine kritische Funktion des Geheimdiensts – seit der Gründung des BND vor einundzwanzig Jahren, und zwar äußerst kompetent.

»Unterwelt? Sie sind die wichtigste Person hier, Herr Riedel, und das wissen Sie genau.«

»Erzählen Sie das den großen Tieren.« Er drohte scherzhaft mit dem Finger. »Sie wollen bestimmt etwas außer der Reihe.«

»Eigentlich wollte ich wissen, ob Sie eine Akte über die Bonner Sekretärin haben, die im Frühjahr wegen Spionage für die DDR verurteilt worden ist. Ich glaube, Vogel ist ihr Name.«

»Ja, freilich.« Riedel drehte sich um und eilte einen Gang entlang. Er war außergewöhnlich flink für jemanden, der auf die siebzig zuging. Nach einer Minute kam er zurück und legte eine Akte neben ein offenes Buch auf der Theke. »Dagmar Vogel.« Er machte einen Eintrag im Register und schob es ihr zu.

Sie quittierte neben dem Namen und der Aktennummer. Dann schaute sie ihn mit dem unschuldigsten Ausdruck an, den sie draufhatte. »Ich benötige Ihre Hilfe für noch etwas anderes.«

»Aha, jetzt kommt der Grund für die Schmeicheleien. Welche Vorschriften soll ich übergehen? Welche Regeln missachten?«

»Nein, das müssen Sie nicht. Ich möchte mich lediglich auf Ihr institutionelles Gedächtnis verlassen. Falls es irgendjemand weiß, dann sind Sie es.«

»Schon gut. Genug Honig ums Maul geschmiert. Wonach genau suchen Sie?«

»Den Namen der Kölner Sekretärin, die im letzten Jahr oder vielleicht vor zwei Jahren wegen Spionage verurteilt worden ist. Wir müssten Information über sie gesammelt haben.«

Riedel strich über sein Kinn. »Hm. Auf Anhieb kann ich mich an den Namen nicht erinnern. Aber falls wir eine Akte haben, werde ich sie finden und in Ihr Büro bringen.«

Weil sie noch nicht ging, fragte er: »Das ist immer noch nicht alles, was Sie wollen, oder?«

»Ich hoffe, dass Sie noch Akten von anderen Frauen finden können, die über die Jahre wegen Spionage für die Stasi angeklagt, verurteilt, oder nur dessen verdächtigt worden sind.«

»Mit anderen Worten, ich soll mich an alle weiblichen Stasi-Spione erinnern, die in den vergangenen zwanzig Jahren geschnappt wurden?«

»Das ist äußerst wichtig, Herr Riedel. Würden Sie sich bitte darum bemühen?«

Er murmelte vor sich hin, dann blickte er sie an. »Jedem anderen würde ich sagen, er soll sich zum Teufel scheren. Aber für Sie, Frau Maier, will ich sehen, was sich tun lässt.«

Sie ergriff die Akte. »Sie sind ein Schatz.«

Als die Tür hinter ihr zuschlug, hörte sie gerade noch: »Ja, ja. Aber keinerlei Versprechungen, Frau Maier.«

♫ ♫ ♫

Sabine lehnte sich im Stuhl zurück und rieb sich die müden Augen. Riedel hatte ihr drei zusätzliche Ordner gebracht, einen über die Kölner Sekretärin, um den sie gebeten hatte, und zwei über ihr unbekannte Fälle. Aus dem Material hatte sie zwei Listen erarbeitet. Die erste enthielt spezifische Angaben über jede Frau, die zweite ihre gemeinsamen Charakterzüge.

Ein flüchtiger Blick auf die Wanduhr bestätigte, dass es auf Feierabend zuging. Dieser Arbeitstag hatte nicht viel gebracht. Vielleicht sollte sie die Daten morgen früh mit frischen Augen auswerten. Dann entschloss sie sich, ihre Notizen kurz vor Feierabend noch mal zu untersuchen. Ein weiterer Blick könnte eventuell einen Zusammenhang offenbaren, den sie bislang übersehen hatte. Nicht zuletzt könnte sie eine weitere Eingebung erhalten, wenn sie die Einzelheiten im Kopf rekapitulierte, während sie heute Abend daheim Mozart hörte. Sie studierte, was sie auf die Papierzettel gekritzelt hatte.

Monika Fischer, 33, nie verheiratet, sieben Jahre Sekretärin im Bundesministerium des Innern, Bonn, dieses Frühjahr verurteilt wegen Verrats von Staatsgeheimnissen an einen Stasi-Agenten, fünf Jahre Haftstrafe. Sie hatte aus Liebe spioniert.

Brigitte Koch, 37, geschieden, fünf Jahre Sekretärin im Amt für die Sicherheit der Bundeswehr, Köln, Mutter eines fünfjährigen Sohns. Im vergangenen Herbst wurde sie zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie ihrem Liebhaber Kopien von NATO-Fernschreiben gegeben hatte. Der war ein Ostdeutscher, der sich als dänischer Diplomat ausgegeben hatte, und sie hatte geglaubt, einem NATO-Partner behilflich gewesen zu sein.

Dagmar Vogel, 27, ledig, drei Jahre Sekretärin im Bundesministerium für Verteidigung, Bonn, lieferte Informationen über Westdeutschlands militärische Strategie an die ostdeutsche Regierung gegen ein Versprechen, dass ihre Mutter in der DDR nachsichtig behandelt werde. Sie wurde zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt.

Ursula Klein, 29, geschieden, sechs Jahre Sekretärin beim Bundesamt für Verfassungsschutz, Köln, übergab einem Stasi-Agenten streng geheime Unterlagen von Deutschlands Inlandsgeheimdienst. Sie gestand vor Gericht, dass sie sich ihrer illegalen Tätigkeit bewusst gewesen war, doch wollte sie alles dafür tun, damit ihr Liebhaber sie nicht verlasse. Im Jahr 1972 erhielt sie eine fünfjährige Gefängnisstrafe.

Sabine überflog die kargen Notizen auf dem zweiten Blatt. Die gemeinsamen Eigenschaften, die sie bis jetzt ermittelt hatte: Alle vier waren Sekretärinnen und bei der Regierung beschäftigt, hatten Zugang zu Geheimsachen, waren entweder ledig oder geschieden. Drei spionierten aus Liebe, eine wegen der Drohung gegen eine Verwandte in der DDR. Alle außer einer wussten, dass ihr Liebhaber ein Stasi-Agent war.

Sabine sammelte ihre Gedanken. Die Ordner beinhalteten wenige persönliche Angaben über die Frauen. Sie brauchte psychologische Profile. Waren sie attraktiv oder reizlos? Kontaktfreudig oder schüchtern und introvertiert? Selbstsicher oder unsicher? Welche Angewohnheiten hatten sie? Schwächen und Laster? Ihre Fragen waren endlos, und die Unterlagen des BND-Archivs beantworteten keine von ihnen. Sie müsste Gerichtsprotokolle anfordern und die Akten der Staatsanwaltschaft untersuchen.

Um fünf schloss sie die vier Ordner in eine Schreibtischschublade ein. Sie nach Hause zu nehmen, verstieß gegen die Vorschriften, nicht aber ihre Notizen, die sie in ihre Aktentasche steckte. Als sie ihr Büro verließ, fiel ihr auf, dass sie ihren Chef den ganzen Tag über nicht gesehen hatte. Sie hatte erwartet, ihn gleich frühmorgens auf ihrer Türschwelle anzutreffen, um Ergebnisse einzufordern.

Bevor sie die Treppe erreichte, trat Dorfmann aus dem Vernehmungsraum am Ende des Flurs. »Gut, dass ich Sie noch erwische, Frau Maier. Ich muss mit Ihnen reden.«

Sobald sie bei geschlossener Tür in seinem Büro saßen, sagte er: »Ich habe fast den ganzen Tag einen Stasi-Überläufer befragt, einen Hauptmann Manfred Ruhland. Dreiundvierzig und seit zehn Jahren Stasioffizier. Gestern Abend hat er mit einem gefälschten Ausweis die Grenze nach Westberlin überquert.«

»Allein?«

»Ja. Er ist geschieden, keine Kinder.«

»Und er macht sich keine Sorgen um seine Verflossene?«

»Keine Spur. Üble Scheidung. Ihm wäre nichts lieber, als wenn die Stasi sie unter Druck setzen würde.«

Sie las in seinem Ausdruck, dass er die Aussagen des Überläufers nicht bezweifelte. »Sie halten ihn für glaubhaft?«

»Seine Angaben über drei Stasi-Maulwürfe, die in den Westen eingeschleust worden sind, haben sich als korrekt erwiesen. Obwohl er keine Namen wusste, konnten wir aufgrund seiner Aussagen zwei Stasi-Kollaborateure identifizieren: einen Pfarrer in Bad Godesberg und einen Journalisten in Hamburg.«

Sabine fragte: »Und der dritte?«

»Er soll mit einer Sekretärin, die bei einem der Kölner Dienste beschäftigt ist, ausgehen. Ruhland weiß nicht, welcher Dienst oder den Namen der Sekretärin. Sie könnten mir behilflich sein, beides herauszufinden.«

»Soll ich den Überläufer vernehmen?«

Dorfmann hob seine Hand. »Auf keinen Fall. Er darf Sie nicht sehen.«

»Sie denken, er könnte ein Spitzel sein?«

»Nein, ich glaube, er ist echt. Aber ich will nicht riskieren, dass Ihr Name die Runde macht, besonders, da wir uns sehr bemüht haben, ihre vielen Festnahmen nicht bekannt werden zu lassen.« Er zögerte. »Freilich, falls der Chef des Stasi-Spionagerings wirklich so gut ist wie sein Ruf, könnte er über Sie bereits Bescheid wissen.«

Sie runzelte die Stirn. »Ein schauriger Gedanke.«

»Keine Sorge. Bis jetzt hat er Sie wahrscheinlich noch nicht ins Auge gefasst. Wäre schön, wenn es so bliebe. Der Überläufer darf Sie nicht sehen. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass ich alles aus ihm herausgeholt habe, was er über den dritten Spion weiß.«

Sie dachte einen Augenblick nach. »Sie sagten, es sei einer der Kölner Dienste. Das muss entweder der Verfassungsschutz oder das Bundeswehramt sein.«

Er nickte. »Ich habe eine Vermutung, aber Sie sollen aufgrund meines Berichts zu Ihrem eigenen Ergebnis kommen. Falls Sie der gleichen Meinung sind, können wir uns darauf konzentrieren, die Sekretärin dort ausfindig zu machen.«

Sabine zog eine Augenbraue hoch. »Und die Sekretärin wird uns auf die Spur ihres Liebhabers führen.«

»Genau.«

Dorfmann durchblätterte einen Spiralblock. »Ruhland konnte nur wenige Einzelheiten über die Sekretärin weitergeben.« Er zeigte mit dem Finger auf eine Seite. »Die Information ist vage, aber ich hoffe, sie reicht aus.« Er betrachtete Sabine, als wollte er sich vergewissern, dass sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte.

Geduld war keine ihrer Tugenden, doch sie brachte es fertig, den Mund zu halten, auch wenn sie auf ihrem Sitz herumrutschte. Immerhin verkniff sie es sich, ihren Chef zum Weitermachen aufzufordern.

Schließlich las er aus seinen Notizen: »Als Hauptmann hatte er angeblich keinen Zugang zu streng geheimen Spionageberichten.«

Sabine warf ein: »Finden Sie das glaubhaft?«

Dorfmann zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es wirklich nicht, doch ich sehe keinen Grund, warum er darüber lügen sollte. Je wertvoller seine Informationen, desto größer seine Aussichten auf ein behagliches Leben hier im Westen. Er hat den Lügendetektortest bestanden, und seine Tipps haben uns auf die Spur der zwei Stasi-Spitzel geführt.«

»Also, was hat er über den Spion in Köln gesagt?«

»Während einer Geburtstagsfeier für einen der Generäle hat er zwei Kollegen belauscht, als sie über einen Romeo und sein ›Ficken fürs Vaterland‹ klatschten. Den Namen des Spions konnte er nicht aufschnappen, sondern nur, was ich Ihnen bereits mitgeteilt habe: Der Mann hat ein Verhältnis mit einer Sekretärin in einem der Kölner Dienste.«

»Ist das alles?« Sabine konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Wie sollte sie einen Maulwurf aufgrund dieser dürftigen Angaben identifizieren?

»Nicht ganz. Die Kollegen hätten gesagt, wie glücklich der Romeo sei, eine geile Geschiedene zu vögeln.«

»Eine geschiedene Sekretärin. Na, das begrenzt die Auswahl.«

»Nicht aufgeben. Ich habe das Beste zum Schluss aufgehoben. Die zwei Stasioffiziere prahlten, dass sie bald Harold Browns Korrespondenz lesen würden.«

Sie rutschte zum Stuhlrand. »Sie meinen –«

»Die des US-Verteidigungsministers. Keines Geringeren.« Dorfmann starrte sie an. »Gibt Ihnen das einen Hinweis, wo unsere Sekretärin beschäftigt ist?«

»Amt für die Sicherheit der Bundeswehr«, platzte Sabine heraus. »Sie hat Zugang zu NATO-Korrespondenz.«

»Genau.« Er klappte den Notizblock zu. »Als Erstes morgen früh fahren Sie nach Köln. Überprüfen Sie jede geschiedene Sekretärin mit potenziellem Zugang zu diesen Informationen, und zwar schnell. Sie haben höchstens einen Tag, den Spion ausfindig zu machen. Die Stasi geht keine Risiken ein. Falls sie ahnen, dass der Überläufer über ihren Mann in Köln Bescheid weiß, rufen sie ihn im Nullkommanichts zurück nach Ostdeutschland.«

 

 

 

 

 

 

Kapitel 10: Enttarnt

 

 

Hauptverwaltung Aufklärung, Stasi-Zentrale, Ostberlin, Mittwoch, 20. Juli 1977

 

»Major Kurz meldet sich zum Einsatz, Herr General.«

Heinrichs Stimmung besserte sich beim Anblick des jungen Offiziers, den er ausgewählt hatte, um den verletzten Borst zu ersetzen. Die graue Uniform passte sich seiner schlanken Figur an, als ob sie maßgeschneidert wäre. Sein gutes Aussehen kompensierte seine Unerfahrenheit. Groß und schlank, blaue Augen, ausgeprägte Wangenknochen, breites Gesicht und volles, blondes Haar sollten selbst das kälteste weibliche Herz zum Schmelzen bringen. Ja, in der Tat, er wäre ein guter Ersatz für Borst.

»Guten Morgen, Major. Setzen Sie sich. Probleme mit der Rückkehr?«

»Nein, Herr General.« Kurz ließ sich im nächstgelegenen Stuhl nieder. »Ich habe Ihre Nachricht rechtzeitig genug bekommen, um den Nachtzug nach Berlin zu erwischen.«

»Gut gemacht, Major.« Als Kurz mehrmals heftig blinzelte, sagte Heinrich: »Sie haben wenig geschlafen. Kaffee?«

»Nein danke, Herr General. Ich habe schon zu Hause eine halbe Kanne getrunken.«

»Wie Sie wünschen.« In seinem Eifer, die nächste Phase zur Verführung von Monika Fuchs einzuleiten, erhob Heinrich seine Stimme: »Ich übertrage Ihnen die bislang wichtigste Aufgabe Ihrer Karriere. Der Erfolg dieser Mission ist von höchster Bedeutung. Ich kann nicht zulassen, dass Sie einnicken. Sagen Sie es mir, wenn Sie mehr Koffein brauchen. Verstanden?«

Kurz richtete sich auf. »Jawohl, Herr General.«

Heinrich schob eine Akte über den Schreibtisch. »Dies enthält das Profil Ihrer nächsten Eroberung: Monika Fuchs. Sekretärin mit Sicherheitsfreigabe im westdeutschen Bundeskanzleramt. Sie ist gerade auf Urlaub in Italien, wo Sie Kontakt zu ihr aufnehmen werden.«

»Wann –?«

»Morgen früh fliegen Sie nach Mailand. Mietwagen und Hotel sind bereits gebucht.«

»Wo –?«

Ungeduldig hob Heinrich die Hand. »Frau Schröder gibt Ihnen die Reisepapiere. Jetzt nehmen Sie diesen Ordner an sich. Machen Sie sich mit dem Material vertraut und kommen in einer Stunde wieder zurück. Ich gebe Ihnen dann weitere Anweisungen.«

Kurz nahm die Akte und verließ das Büro. Heinrich griff nach seiner Tasse, setzte sie aber gleich wieder ab, als Frau Schröders aufgeregte Stimme durch die Gegensprechanlage drang: »Herr General, Leutnant Gruber ist hier mit einer dringenden Meldung.«

»Er soll reinkommen.«

Ohne zu klopfen, stürmte der stämmige Gruber in den Raum. »Herr General, ich muss Ihnen eine schlechte Nachricht überbringen.«

»Auch das noch!«

Gruber blieb stehen. »Wir vermuten, dass Hauptmann Ruhland übergelaufen ist.«

»Quatsch.« Heinrich sprang auf. »Oder haben Sie Beweise?«

»Er ist gestern nicht zum Dienst angetreten. Seine Sekretärin ist im Urlaub, und niemand hat daran gedacht, nach ihm zu sehen. Ich wurde erst heute Morgen von seiner Abwesenheit benachrichtigt.«

»Verdammt noch mal! Habe ich’s hier nur mit Schlafwandlern zu tun?«

Gruber trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe sofort bei ihm angerufen. Bekam keine Antwort. Da habe ich Feldwebel Beck zu seiner Wohnung gesandt.«

»Und?«

»Er hat mich gerade von dort angerufen. Der Hausmeister hat ihn hereingelassen. In der Wohnung ist alles durcheinander. Kleidung übers Bett verstreut. Anzüge im Wandschrank zur Seite geschoben. Schränke weit offen. Keine Koffer.«

»So ein Mistkerl! Haben wir die leiseste Ahnung, wann er abgehauen ist?«

»Er hat den Hausmeister noch gegrüßt wie immer, als er am Montag von der Arbeit nach Hause gekommen ist, aber ich nehme an, dass Ruhland sich noch am selben Abend aus dem Staub gemacht hat.«

Heinrich sank in seinen Stuhl. »Wie lange ist Ruhland schon bei uns?«

»Etwa zehn Jahre.«

»Wie viel weiß er über unser Agentennetz im Westen?«

»Bei seinem Dienstgrad sollte er –«

Heinrich schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Keine Mutmaßungen. Ich muss sicher sein, dass er –«

Er verstummte, als Frau Schröder ins Büro trat. »Entschuldigung, Herr General, aber mir wurde aufgetragen, Ihnen diese Mitteilung sofort zu übergeben.«

Er entriss ihr das versiegelte Kuvert und öffnete es mitten durch den Streng-geheim-Stempel. Angesichts der darin enthaltenen Nachricht schüttelte er ungläubig den Kopf, dann warf er Zettel samt Umschlag auf den Schreibtisch. »Hier ist die Antwort. Zwei unserer besten Spitzel wurden letzte Nacht in Westdeutschland verhaftet. Der Deserteur muss sie verraten haben.«

Mit einer Handbewegung forderte Heinrich seine Sekretärin auf zu gehen. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte er sich Gruber zu. »Was wissen Sie über Ruhlands Familie? Ist er verheiratet? Kinder?«

»Geschieden. Keine Kinder.«

»Wie steht’s mit Eltern, Geschwistern, anderen Verwandten?«

»Ich müsste seine Akte überprüfen, Herr General.«

»Tun Sie das gleich.« Er winkte mit der Hand. »Los, machen Sie schon!« Bevor der Leutnant aus dem Büro schlüpfen konnte, rief Heinrich ihm nach: »Und bringen Sie mir seine Ex. Ich will mit ihr reden.«

»Jawohl, Herr General.«

Sobald er allein war, lehnte Heinrich sich in seinem Stuhl zurück und starrte auf die Wand. Zwei erfahrene Stasi-Spitzel vom Überläufer enttarnt. Als Hauptmann sollte Ruhland keinen Zugang zu weitergehenden Informationen über das Stasi-Spionagenetzwerk im Westen gehabt haben, doch das war keine Garantie dafür, dass der Mann nicht doch einige Geheimnisse herausgefunden hatte. Spitzel zu verlieren, war schlimm genug, aber könnte der Verräter auch Stasi-Spione in Westdeutschland kompromittiert haben?

Heinrich sagte seiner Sekretärin durch: »Major Kurz soll sofort zu mir kommen.«

Mit der Akte unterm Arm trat Kurz ein paar Minuten später ins Büro. »Es tut mir leid, Herr General, aber ich bin noch nicht ganz fertig mit –«

Heinrich winkte ab. »Schon gut. Geben Sie mir die Akte.«

Kurz legte sie auf den Schreibtisch. »Ich verstehe nicht.«

»Vergessen Sie diese Mission, Major. Sie sind eventuell von einem Überläufer enttarnt worden.«

Kurz schnitt eine Grimasse.

»Sie können von Glück reden, dass Sie letzte Nacht abgehauen sind. In ein paar Tagen gebe ich Ihnen eine neue Aufgabe.«

»Aber was geschieht mit Monika Fuchs? Wenn Sie gestatten, Herr General, will ich trotzdem riskieren, die Aufgabe durchzuführen.«

»Kommt nicht infrage. Gehen Sie in Ihr Büro zurück und warten Sie auf meine Anweisungen. Was Fuchs angeht, lasse ich mir etwas einfallen.«

Major Kurz verließ den Raum, und Heinrich lehnte sich über die Schreibtischplatte. Gestern hatte er Borst verloren, heute Kurz. Zwei Romeos in ebenso vielen Tagen kaltgestellt. Monika Fuchs könnte ihm entgleiten. Das durfte er nicht zulassen.

Als

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Peter Bernhardt
Bildmaterialien: Peter Bernhardt
Lektorat: Kathrin Brückmann
Übersetzung: Peter Bernhardt
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2017
ISBN: 978-3-7438-2658-8

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