CARLA
Sonntag, 18. Mai 2014. Später Nachmittag.
Wien, Innere Stadt. Michaelerplatz.
Ein Frühlingstag wie im Bilderbuch.
Der Michaelerplatz gleicht einem Ameisenhaufen. Er ist schwarz vor Menschen. Ihn erfüllt ein Stimmengewirr in vielen Sprachen. Aus der Ferne ertönt Musik. Und, um Schiller zu zitieren, alles rennet, rettet, flüchtet.
Nein, falsch: Nicht alle rennen, retten, flüchten. Viele stehen nur müßig herum, betrachten die diversen Sehenswürdigkeiten, fotografieren emsig. Vor allem die Touristen. Menschen aus aller Herren Ländern.
Die Rennenden, Rettenden, Flüchtenden – das sind hauptsächlich wohl die Einheimischen. Alle rennen sie in dieselbe Richtung: durch die Schauflergasse zum nahegelegenen Ballhausplatz, vors Bundeskanzleramt, um wenigstens noch den Rest des ersehnten Gratiskonzertes zu erleben. Dort ist soeben Conchita Wurst nach ihrem (seinem?) triumphalen Sieg beim Eurovision Song Contest in Kopenhagen vor einer Woche vom Bundeskanzler empfangen worden und gibt soeben, wie deutlich bis zum Michaelerplatz zu hören ist, ihren Siegersong Rise Like a Phoenix zum Besten.
Unter den Rennenden (und so weiter) bin ich selbst mit meiner kleinen Familie: meiner Ehefrau Johanna und meinem Töchterchen Amelie.
Amelie befindet sich gerade mitten in der Pubertät und fühlt sich schon sehr erwachsen. Letzteres erkennt man nicht nur an der Kriegsbemalung im Gesicht, sondern vor allem an ihrer unaufhörlichen Wehklage.
„Viel zu spät sind wir dran“, mault sie immer wieder. Und zu mir gewandt: „Nur wegen dir versäume ich ein so wichtiges Event.“ (Ja, die Jugend kennt natürlich nur das Event, statt, wie es richtig wäre, den Event.)
Nur wegen mir? Es nützt gar nichts, wenn die Mami ihr erklärt, der Papi sei halt so furchtbar vielbeschäftigt und habe nicht früher heimkommen können. Und ich kann nur hoffen, dass sie das auch wirklich so meint und nicht errät, wo und mit wem der Papi heute so furchtbar „vielbeschäftigt“ war. Nämlich mit einer netten Dame namens Carla, deren Ehemann übers Wochenende mit Freunden irgendetwas unternimmt, ich habe vergessen, was, jedenfalls weder Haus noch Gattin hütet. Und ich muss mir doch ab und zu bestätigen, dass ich trotz meiner 41 Jahre noch nicht zum alten Eisen zähle.
Und da die nette Dame namens Carla heute besonders unersättlich war, fand der Abmarsch von daheim in Richtung Ballhausplatz zu Amelies Verdruss eben mit einiger Verspätung statt.
Bedauerlicherweise hat sich Amelies Verdruss auf meine liebe Johanna übertragen. Auch sie ist sich nicht zu schade, mich zu rügen.
„Sag, Benedikt“, mault sie, „hat die Besprechung im Reisebüro wirklich so lange dauern müssen? Oder konntest du dich nicht schon ein wenig früher absetzen?“
Und ich kann ihr nur immer wieder versichern, das sei leider nicht möglich gewesen.
„Der Felix“ – das ist der Chef des Reisebüros. Also: „Der Felix und ich, weißt du, wir haben dringend einen Beschwerdebrief eines Reiseteilnehmers beantworten müssen. Und das hat sich halt leider, leider, ein wenig in die Länge gezogen.“
„Ein wenig ist gut“, mault Amelie.
„Jetzt seid doch endlich einmal still“, sage ich streng wie ein Patriarch (der ich gar nicht bin), um meine väterliche Autorität nicht zur Gänze einzubüßen, „und hört einfach zu! Wir haben es ja gleich geschafft.“
Und o Wunder, das Machtwort wirkt.
Tatsächlich sind wir unterdessen dem Zentrum des Massenevents ganz nahe gekommen, das Gedränge wird immer dichter, und die Musik ist bereits wunderbar zu hören. Aber damit ist die Jugend nicht zufrieden. Sie will auch den Sänger oder die Sängerin sehen, die tolle Atmosphäre des Massenauftriebs miterleben und möglichst nahe vor den Lautsprecherboxen stehen, um sich wie in der Disco die Ohren zudröhnen zu lassen.
Endlich haben wir den Ballhausplatz erreicht. Mit mäßigem Erfolg versuchen wir uns in die Menge einzureihen und beenden unsere Versuche sehr bald, da Amelie zu erkennen gibt, dass sie mit dem momentanen Standplatz voll zufrieden ist. Unser Vorteil ist, dass wir von der U-Bahn und vom Michaelerplatz und damit sozusagen von vorne kommen und damit der Tribüne mit der Sängerin und ihren Musikern und natürlich auch den Lautsprecherboxen automatisch nahe sind. Übrigens gibt es hier auch kein Maulen mehr. Klar, man würde sein eigenes Wort nicht verstehen.
Während ich, um mich quasi zu orientieren, prüfend in die Runde blicke, sehe ich in geringer Entfernung hinter mir jemanden winken. Eine junge Dame. Winkt sie mir? Anscheinend ja. Sie kommt mir auch unheimlich bekannt vor. Und im nächsten Augenblick weiß ich, wer es ist. Das ist doch die Julia Svacina, eine meiner ehemaligen Schülerinnen. Ich habe sie nur deshalb nicht sofort erkannt, weil sie ihre roten Haare jetzt kurz trägt, während ich sie nur mit einer Haarpracht kenne, die ihr weit über die Schultern gereicht hat.
Schade, denke ich spontan, schade um die schönen, langen Haare! Nur, laut sagen darf man das einer Dame nicht. Damit bin ich einmal ganz schön ins Fettnäpfchen getreten, als ich gegenüber einer anderen Schülerin, die sich ebenfalls ihre langen Haare hatte abschneiden lassen, mein Bedauern darüber ausdrückte.
Ja, die Julia! Jetzt habe ich sie schon so lang nicht mehr gesehen. Seit dem Jahr ihrer Matura nicht mehr. Und maturiert hat sie doch, falls ich mich recht erinnere, vor fünf Jahren, also 2009. Aber gedacht habe ich oft an sie. Sie war ja auch eine besonders liebe Schülerin, genauer, meine Lieblingsschülerin, und die schwatzhafteren unter meinen Kolleginnen im Konferenzzimmer fragen mich noch heute ab und zu gewissermaßen „im Vertrauen“, was nun eigentlich mit der Julia Svacina gewesen sei, und ob ich wirklich mit der „was gehabt habe“.
Natürlich antwortete ich jedes Mal im Brustton der Überzeugung: „Nein, selbstverständlich nicht. Was glaubst denn du von mir? Glaubst du, ich bin lebensmüde?“ Und sogar die mutigeren, oder sagen wir, frecheren unter meinen Schülern und Schülerinnen ergehen sich mir gegenüber ab und zu in unbestimmten Andeutungen in Bezug auf meine angeblichen Beziehungen zur Julia Svacina.
Dass sie mich noch immer solche Dinge fragen, hat natürlich seinen guten Grund. Damals war in den Korridoren unserer Schule unser Tête-à-tête während der Pausen kein ungewohnter Anblick. Mit anderen Worten, Julia und ich, wir steckten nach Herzenslust die Köpfe zusammen und redeten diese heiß und kümmerten uns nicht die Bohne darum, was die anderen davon halten mochten. Die sollten glauben, was sie wollten. Genauer, ich kümmerte mich nicht die Bohne darum, wohl wissend, dass ich mit dem Feuer spielte.
Tatsache ist, dass wir sehr wohl „was miteinander hatten“. Wir waren beide schwer verliebt, was, nebenbei bemerkt, Julias Lerneifer außerordentlich beflügelte, mich hingegen während der Unterrichtsstunden in ihrer Klasse jedes Mal „durch Feuergluten wandeln“ ließ, so ähnlich wie Pamina und Tamino in Mozarts Zauberflöte. Ich durfte mir ja nichts anmerken lassen und musste meine ganze Schauspielkunst aktivieren und hoffte, dass niemand das laute Pochen meines Herzens hört.
Nur, weiter als bis zu heißen Küssen (an einsamen Orten wie leeren Klassen oder dunklen Hauseingängen) ging unsere Verliebtheit vor der Matura nie. Erst danach wagte ich es, Julia in meinen Renault zu laden, an eine einsame Stelle des Wienerwaldes zu chauffieren und dort in der freien Natur, beobachtet nur von den Vöglein des Himmels, mit ihr eben das zu tun, wonach es Liebende im Allgemeinen drängt.
Entjungfert, defloriert habe ich sie dabei übrigens nicht. Dies habe ihr, so gestand sie mir, verschämt schmunzelnd, schon längst ein anderer besorgt. Nur sei das kein Erlebnis gewesen, an das sie gern zurückdenke.
„Und an das heutige Erlebnis mit mir ...“, sagte ich und verstummte abrupt. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss.
„Werde ich immer mit Vergnügen zurückdenken“, ergänzte sie fröhlich meinen angefangenen und nicht zu Ende gesprochenen Satz. „Man merkt, was für ein erfahrener Liebhaber du bist.“
Zu meinem unendlichen Bedauern war dieses Abenteuer im Wienerwald unser einziges Erlebnis dieser Art. Nur wenige Tage danach sollte mir Julia auch schon wieder abhanden kommen. Ihre Klasse machte sich auf zur Maturareise, und die sollte in einen Badeort an der türkischen Riviera führen.
Mir selbst bereitete dieser Umstand einiges Unbehagen. Von Maturareisen hatte ich schon allerhand gehört. Und was ich gehört hatte, ließ mich das Allerschlimmste befürchten. Zwar tröstete mich Julia und versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich nichts zu befürchten hätte.
„Ich bin ja so verliebt in dich. Und daher bin ich immun gegen sämtliche Anfechtungen vonseiten anderer Exemplare des männlichen Geschlechts. Bitte merk dir das.“
Ja, ich bemühte mich eifrig, es mir zu merken.
Und ja, sie schrieb mir auch mehrere flammende SMS-Nachrichten.
Aber dann trat plötzlich Funkstille ein. Auch nach dem Termin ihrer Rückkehr aus der Türkei hörte ich zunächst nichts mehr von ihr. Und da begann ich mir allmählich Sorgen zu machen.
Schließlich erhielt ich doch wieder eine SMS. Darin fragte Julia an, ob ich Lust und Zeit hätte, mich am nächsten Tag mit ihr im Café Griensteidl am Michaelerplatz zu treffen. Natürlich hatte ich Zeit und Lust. Für Julia immer. Nur, ein Treffen in einem Kaffeehaus? Das erhöhte mein Unbehagen nur noch.
Mein ungutes Gefühl trog mich nicht. Sie hatte in der Türkei einen anderen, einen aus ihrer Generation, kennengelernt. Und der hatte sie gleich in mehrfacher Hinsicht verführt, bedauerlicherweise sogar zum Rauchen. Jedenfalls hatte sie sich in ihn „unsterblich“ verliebt.
Und wieder glaubte sie mich trösten zu müssen: „Aber an die schöne Zeit mit dir werde ich immer gern zurückdenken.“
Damit war meine Affäre mit einer ehemaligen Schülerin beendet. Seither habe ich sie nicht wiedergesehen und nichts von ihr gehört. Nur oft und heftig an sie gedacht. Und an Liebeskummer gelitten.
In Sekundenschnelle gehen mir diese Gedanken durch den Kopf, während ich freudig zurückwinke. Hierauf überkommt mich vollends die niemals überwundene Sehnsucht nach Julia. Die nie erloschene Leidenschaft zieht mich mit Macht zu ihr.
„Bin gleich wieder zurück“, brülle ich Johanna ins Ohr und beginne mich unter vielen Entschuldigungen durch die Menge zu Julia durchzudrängen. Ich erreiche sie, und was sehe ich? Ein gefährlich aussehender, jedenfalls höchst unsympathisch wirkender Typ hat in besitzergreifender Manier seinen Arm um Julias Hals geschlungen. Verlegen nicke ich ihm kurz zu und ergreife Julias mir entgegengestreckte Hand und schüttle sie so lange, und sie schüttelt die meine so lange, bis wir uns der Anzüglichkeit der Situation endlich bewusst werden und unsere Hände ähnlich schnell zurückziehen, wie wenn wir auf eine heiße Herdplatte gegriffen hätten.
Danach lächeln wir uns nur gegenseitig an. Sprechen ist ja bei der Lautstärke der Musik kaum möglich und vor dem Typ neben ihr wohl auch nicht ratsam. Und wieder dauert das gegenseitige Anlächeln viel zu lang. Der Kerl neben ihr muss ja Verdacht schöpfen.
Also überwinde ich mich, winke ihr zum Abschied zu und ziehe mich wieder zu meinen Leuten zurück. Aber mein Herz rast. Es rast nicht anders, als wenn ich beim Bergsteigen einen Rekord aufzustellen versuche.
Noch am selben Abend treibt mich dieses Herzrasen dazu, Julia eine SMS zu schreiben. Natürlich hängt alles davon ab, ob ihre Handynummer noch dieselbe ist. Und siehe da, sie ist es. Prompt bekomme ich eine Antwort-SMS.
Und was lese ich da? „Können wir uns morgen um 17 Uhr im Café Griensteidl sehen?“
Und ich schreibe zurück: „Super, morgen um 17 Uhr im Café Griensteidl, freue mich schon.“
Und mein Herzrasen steigert sich ins Gigantische.
Montag, 19. Mai 2014. 17 Uhr.
Dank meinem sensationellen Herzrasen hatte ich die ganze Nacht kaum Schlaf gefunden, und mein heutiger Unterricht war vermutlich die reinste Katastrophe. Ich konnte nichts anderes denken als: Julia! Julia! Julia!
Da sich meine Aufregung bis 17 Uhr noch nicht gelegt hat, treffe ich im Café Griensteidl viel zu früh ein und muss zu meiner Verblüffung, zu meinem Entzücken feststellen, dass Julia schon auf mich gewartet hat.
Ja, sie hat auf mich gewartet und freut sich sichtlich, mich zu sehen. Diesmal verzichten wir aufs Händeschütteln und ersetzen es durch eine Umarmung. Freilich fühle ich mich befangen wie noch nie. Der Julia, kommt mir vor, geht’s nicht viel anders. Die zwangsläufige Folge: Eine nur halbherzige, viel zu kurze Umarmung.
Ich versuche meine Befangenheit abzustreifen und küsse Julia auf die Wangen. Und Julia küsst mich auf die Wangen. Aber auch das finde ich höchst unbefriedigend. Denn das waren eher Küsschen, wie sie sich bestenfalls gute Bekannte geben, aber keinesfalls Liebende.
Trotzdem rieche ich zu meinem Bedauern nur allzu deutlich, dass Julia noch immer zu den Raucherinnen zählt.
Und damit bleibt die wichtigste Frage vorläufig unbeantwortet: Sind wir noch Liebende, oder sind wir bloß gute Bekannte? Schließlich hat sie einen leibhaftigen und allem Anschein nach ziemlich besitzergreifenden Freund.
Auch unsere Unterhaltung erweist sich als unerwartet mühsam und stockend. Offenbar müssen wir erst wieder quasi zueinander finden. Und vielleicht leidet sie unter schlechtem Gewissen, weil sie mich damals so schnell abserviert hat. Vielleicht glaubt sie sogar, ich nehme ihr das noch immer übel. Dabei sollte sie wissen, dass es ein Merkmal wirklich Liebender ist, dass sie einander niemals etwas übelnehmen.
(Warum sie das wissen sollte? Weil das einmal in meinem Englischunterricht vorgekommen ist. In der berühmten „Love Story“ von Erich Segal lasen wir den Satz: Love means not ever having to say you’re sorry.)
Und ja, wenn ich die Frage von vorhin, ob wir noch immer Liebende oder bloß gute Bekannte sind, für mich beantworten soll: Meine Liebe ist durch die Jahre der Trennung um nichts geringer geworden.
Da ich mich jedoch ähnlich befangen fühle wie Julia selbst, sage ich nichts dergleichen, sondern belasse es fürs Erste bei bloßem Smalltalk. Immerhin erfahre ich dabei schon Spannendes. So vor allem, dass Julia unterdessen in einem eigenen Apartment haust.
„Aber das gehört natürlich nicht mir, sondern meinen Eltern.“
„Mit deinem Freund zusammen?“, sage ich und spüre, wie mein Herzschlag sich sogleich beschleunigt.
Julia lässt ein kurzes, reichlich verlegen klingendes Lachen hören. „Nein, nein, der Tommy haust nicht mit mir zusammen. Der hat seine eigene Wohnung.“
„Ist das noch derselbe, der ...“
Den Rest meiner vielleicht gar zu indiskreten Frage bringe ich nicht über die Lippen.
Julia errötet, macht ein schuldbewusstes Gesicht und nickt.
Befangenes Schweigen. Julia schaut mir unverwandt in die Augen. Nach einem kleinen Weilchen sagt sie, schelmisch lächelnd, mit geheimnisvoller Stimme: „Verehrter Herr Professor Pichler!“ (Genau, Pichler heiße ich und nicht etwa Pilcher.) „Möchten Sie mich vielleicht irgendwann einmal besuchen?“
Ich bin so verblüfft, dass ich nicht gleich antworten kann. Dann sage ich, verlegen grinsend: „Ja, selbstverständlich, verehrtes Fräulein Svacina. Mit dem allergrößten Vergnügen. Wann soll ich denn ...“
„Na, wie wär’s zum Beispiel mit heute?“
„Oh ...“
„Ja. Vielleicht jetzt gleich? Oder passt es heute nicht?“
„Doch, doch. Sehr gut sogar. Ich habe heute nichts mehr vor.“
Und wieder: Schweigen. Befangenheit. Beide widmen wir uns nicht der Plauderei, sondern unserem Kleinen Braunen.
Ich zahle, schaue Julia prüfend in die Augen, als könnte ich in ihnen eine Art Bestätigung ihrer Worte finden, und sage: „Also dann. Wollen wir?“ Und Julia sagt mit ernster Miene: „Dann wollen wir also“ und steht als Erste auf.
Auf der Straße scheint unsere blöde Befangenheit allmählich vom Winde verweht zu werden. Ich schlinge meinen Arm um Julias Taille, und sie schmiegt sich an mich und legt ihren Arm um mich. Und so wandern wir, eng umschlungen, in tiefem Schweigen zur nahen U-Bahn-Station. Wir schweigen auch während des Wartens auf den nächsten Zug, blicken uns nur unverwandt gegenseitig in die Augen. Aber dann fallen wir uns ganz spontan um den Hals und küssen uns, nicht auf die Wangen, sondern richtig und alles andere als halbherzig. Und hören erst auf, uns zu küssen, als die U-Bahn einfährt.
Nur bin ich danach so erfüllt von süßen Gefühlen, dass meine Zunge weiterhin gelähmt ist. Und der Gedanke, wie es in ihrer Wohnung weitergehen soll, erhöht noch meine Sprachlosigkeit. Übrigens geht es Julia allem Anschein nach nicht anders.
Montag, 19. Mai 2014. Abend.
Schweigend und innerlich erregt – so betreten wir Julias Apartment. Die Eingangstür schließt sich hinter uns. Und iIm nächsten Augenblick hängt Julia an meinem Hals, versucht mich aber nicht noch einmal zu küssen, sondern legt ihren Kopf auf meine Schulter und schweigt. Und da ist meine Zunge, die gerade wieder in Aktion treten wollte, neuerlich gelähmt. Gelähmt bin ich sogar als Ganzes. Nur meine Hände nicht. Die beginnen Julias Haare sanft zu streicheln und verlegen ihre Aktivität allmählich auf die Wangen, auf den Nacken, auf den Rücken, auf den süßen Po.
Korrektur: Noch ein Körperteil von mir ist nicht gelähmt. Ja, man kann sogar behaupten, er ist alles andere als gelähmt. Und das empfinde ich als extrem unangenehm. So wie sich Julia an mich presst, kann ihr dieses Phänomen nicht verborgen bleiben. Und ich möchte auf keinen Fall, dass sie sich durch mich – oder durch einen vorwitzigen Körperteil von mir – zu irgendetwas gedrängt fühlt, was sie nicht will.
Plötzlich merke ich, dass Julia heult.
Ja, wirklich: Sie weint lautlos. Ich erkenne es an den Zuckungen ihres Körpers. Und ich erkenne es daran, dass auf einmal meine Schulter nass ist. Nun legt sich endlich die Lähmung meiner Zunge.
„Weinst du, Liebste?“, sage ich. „Warum weinst du denn?“
„Bin ich denn noch deine Liebste?“, flüstert sie.
„Aber sicher. Was hast denn du gedacht?“
„Was ich gedacht habe? Dass du mich längst vergessen hast. Vergessen und abgeschrieben. Und dass du böse bist auf mich. Weil, schließlich habe ich ...“
Und dies ist wohl der richtige Moment, an meinen Unterricht zu erinnern und die Love Story zu zitieren: Love means not ever having to say you’re sorry.
Sie hebt ihren Kopf, blickt mir mit ihren feuchten Augen ins Gesicht und flüstert: „Heißt das ... Willst du damit sagen, dass du mich nicht schon längst vergessen und abgeschrieben hast?“
Schmunzelnd schüttle ich den Kopf. „Aber Liebste, wer könnte dich vergessen und abschreiben? Also, ich nicht.“
„Ich dich ja auch nicht. Und an die schöne Zeit mit dir habe ich immer mit Vergnügen und gleichzeitig mit Bedauern zurückgedacht.“
„Wieso mit Bedauern?“
„Weil ich deine Liebe weggeworfen und mit Füßen getreten habe.“
„Hast du doch gar nicht. Sonst stünde ich jetzt nicht hier und ...“
„Also liebst du mich noch?“, sagt sie in drängendem Ton, ohne mich ausreden zu lassen.
„Ich liebe dich noch immer wie am ersten Tag und werde dich immer lieben.“
War das ein Stichwort? Julia hört schlagartig auf zu weinen, löst sich aus meiner Umarmung, ergreift meine Hand und zieht mich – wohin? Ah, in ihr Schlafzimmer. Dort angekommen, küsst sie mich erneut, aber jetzt mit solcher Leidenschaft, dass mir Hören und Sehen vergeht, und legt ihre Hand auf genau jenen Körperteil von mir, der schon längst alles andere als gelähmt zu sein scheint und es allem Anschein nach nicht erwarten kann, in Aktion treten zu dürfen. Und kaum hat sie ihren Kuss beendet, sagt sie, schelmisch lächelnd und so leise, dass es kaum vernehmbar ist: „Ihn habe ich verdammt schmerzlich vermisst. Fast genauso schmerzlich wie dich als Person.“
„Und er dich als Person“, erwidere ich schmunzelnd.
Und von da an geschieht all das, was schon vor fast fünf Jahren, aber eben nur ein einziges Mal geschehen ist und seither nie wieder. Deshalb, und auch weil besagtes Geschehen heute noch vergnüglicher ist und sich noch intensiver, oder sagen wir, ergreifender gestaltet als damals, und weil wir die Englein im Himmel noch viel lieblicher singen hören, wiederholen wir es so oft, wie es mein Körper, genauer, jener von Julia verdammt schrecklich vermisste Körperteil schafft.
Und da muss ich über ihn, sprich, über mich selber staunen: So „gut“ wie heute war ich noch nie. Ist ja vielleicht auch kein Wunder. Anscheinend verhält sich die Potenz („die Stärke“) des Mannes (um das Ding endlich beim Namen zu nennen) proportional zu seiner Verliebtheit, genauer, zur Stärke seiner Liebe. Und ich muss offen zugeben, dass ich noch in keine Frau so verliebt war wie in Julia. Weder meine angetraute Eheliebste noch die nette Dame Carla habe ich jemals so geliebt, wie ich Julia liebte und noch immer liebe.
Die Moralapostel werden über eine solche Aussage garantiert die Nase rümpfen und mich jetzt in Grund und Boden verdammen. Aber sie sollten eigentlich wissen, dass der Mensch seine Gefühle nicht beliebig steuern kann. Und schon gar nicht kann er die Gefühle seiner Partnerin oder seines Partners steuern. Denn natürlich verhält sich die Potenz des Mannes ebenso proportional zur Stärke der Liebe seiner Partnerin. Und da muss ich sagen, die Liebe meiner Johanna ließ von allem Anfang an so einiges zu wünschen übrig (was, nebenbei bemerkt, letztlich der Grund dafür ist, dass ich seit langem Trost und Bestätigung bei anderen Frauen suche). Aber so etwas wie Julia – nein, so etwas habe ich noch nie erlebt.
Und da fragt man sich, wohl zu Recht: Wieso hat mir der liebe Gott oder der Liebesgott, oder wer immer da oben dafür zuständig ist, nicht von vornherein die Julia als Ehefrau zugeteilt? Heißt es nicht immer, Ehen werden im Himmel geschlossen? Und: Was Gott verbunden hat, und so weiter? Gut, ja, ich hätte lange warten müssen. Aber das hätte ich doch locker überstanden. Oder hat mich die dafür zuständige Gottheit eh mit der Julia verbunden, und das mit der Johanna war einfach ein Missgriff, ein menschliches Versehen?
Ja, das wird es wohl gewesen sein. Ich weiß auch die Ursache dafür: Wie wohl die meisten Einzelkinder war ich einfach ein Spätzünder. Meine Kindheit hat viel zu lang gedauert, aus welchem Grund auch immer. Und darum waren Mädchen für mich wie für alle Knäblein Wesen von einem fremden Stern.
Natürlich begann irgendwann die Anziehungskraft des anderen Geschlechts auch auf mich zu wirken. Und da hätte meine Kindheit endlich vorüber sein können. War sie aber nicht. Denn jetzt empfand ich vor allen diesen Wesen von einem fremden Stern eine natürliche Scheu. Mit anderen Worten: Ich hatte Hemmungen, um nicht zu sagen, Angst – Angst, sie anzusprechen oder, wie man das etwas abfällig nannte, Annäherungsversuche zu machen.
Zwar war es unvermeidlich, dass ich mich dem einen oder anderen weiblichen Geschöpf, dessen Schönheit und Charme ich bewunderte und das ich mit der Inbrunst eines Jünglings verehrte, „annäherte“. Aber die taten alle so, als wäre ein Annäherungsversuch etwas Unangenehmes für sie, eine Zumutung oder gar eine Strafe.
Eine einzige Schöne und Charmante ließ erkennen, dass ihr meine Verehrung nicht unangenehm war. Ihr Name: Johanna. Und die ging dafür gleich aufs Ganze, ließ sich von mir liebkosen und verführen und schließlich heiraten. Wobei ihr, aber das wurde mir erst viel später klar, nur das Heiraten wichtig war. Der Sex war und ist für sie ein, ich will nicht sagen, leider notwendiges Übel, aber halt eine leider notwendige Nebenerscheinung der Ehe.
Solche Gedanken schießen mir durch den Kopf, nachdem das „Werk“ endgültig vollbracht und vollendet ist.
Inzwischen ist Julia, offenbar vor Erschöpfung, eingeschlafen, ohne noch zu warten, bis wir wieder zwei getrennte Körper sind, und hält mich auch im Schlaf umschlungen. Ich scheine sie ja wirklich arg „hergenommen“ zu haben. Wenn ich daran denke, wie sie mich währenddessen immer wieder geküsst, mir ins Ohr gebissen, mit ihren Fingernägeln meinen Rücken zerkratzt, gelacht, geweint, geschrien hat! All dies, wohlgemerkt, zur gleichen Zeit. Sonst schlafe ich nach jedem Fick selber gleich ein, nicht unbedingt vor Erschöpfung, eher vor Befriedigung. Aber heute hält mich der Gedankensturm in meinem Kopf wach, vielleicht auch der süße Anblick einer schlafenden und arg „hergenommenen“, sprich, befriedigten Julia.
Aber dann muss ich doch auch selber eingeschlafen sein. Denn mich wecken Julias Zuckungen.
Wie? Heult sie schon wieder? Aber wieso um Himmels willen auf einmal?
„Weinst du schon wieder, Liebste? Ist was passiert?“
„Siehst du, du nennst mich Liebste. Aber dann gehst du wieder fort und kehrst zu deiner Ehefrau zurück. Und ich bleibe allein.“
„Hast du nicht eh deinen Tommy?“
Und Julia mit ungewöhnlich ernster Stimme: „Verehrter Herr Professor Pichler! Bitte zu beachten: Ab heute ist er nicht mehr mein Tommy.“
„Ah ... Oh ...“
Zu mehr reicht es momentan bei mir nicht.
„Ab heute gibt’s nur mehr meinen Benny.“
„Oho.“
Und sobald ich mich von meiner Überraschung erholt habe, sage ich zweifelnd: „Und? Weiß der Tommy das schon?“
Ganz langsam schüttelt Julia den Kopf. Es sieht fast so aus, als wäre der Akku in ihrem Hals schon schwach und müsste endlich wieder aufgeladen werden. „M-m. Aber er wird es bald erfahren müssen.“
„Und? Was glaubst du, wie wird er’s aufnehmen?“
„Wieso? Ist das wichtig?“
Als Antwort kann ich nur leise lachen. Wie sollte ich auch ahnen, dass meine Leichtfertigkeit völlig unbegründet ist?
Julias Tränen sind mittlerweile zum Glück versiegt. Nur ihre traurigen Gedanken, die sind, wie ich erkennen muss, noch nicht versiegt.
„Du siehst also“, sagt sie und macht ein trauriges Gesicht, „du gehst fort, und ich bleibe allein zurück.“
„Du meinst, ich soll lieber bei dir bleiben? Für immer?“
„Nein, nein, keine Angst. Deiner Frau will ich dich schon nicht wegnehmen. Aber schön wär’s halt trotzdem ...“
„Schön wär’s trotzdem?“
„Es ist ein schöner Traum. Man wird doch noch träumen dürfen.“
Und da kommt mir eine Idee.
„Liebste, was sagst du zu folgendem Vorschlag? Du weißt bestimmt noch, dass ich mich in den Ferien des Öfteren als Reiseleiter betätige.“
„Ja, ich erinnere mich.“
„Gleich im Juli soll ich eine Reise zum Nordkap leiten. Wie wär’s, wenn du da mitfahren würdest?“
„Oh, das wär ein Traum. Aber sicher viel zu teuer. Noch dazu, wo Skandinavien ein bekannt teures Pflaster ist. Das könnte ich mir niemals ...“
„Aber geh, das bezahle natürlich ich.“
„Wirklich?“
Und nun fällt Julia über mich her und führt sich auf wie, ich will nicht sagen, wie eine Wahnsinnige, aber so ähnlich, sagen wir, wie eine griechische Bacchantin. Mit jugendlicher Intensität küsst sie jeden Quadratzentimeter meines Gesichts und danach meinen Hals und meine Brust und meinen Bauch. Und so weiter.
Und der Erfolg ist, dass wir uns unglaublicherweise ein weiteres Mal in Liebe vereinigen und zuletzt erneut die Englein im Himmel singen hören.
Montag, 19. Mai 2014. Später Abend.
Ja, aber zuletzt bleibt mir doch nichts anderes übrig, als Julia zu verlassen und heimzukehren zu Frau und Kind. Im Übrigen habe ich ja einen Beruf und muss, so spät es ist, noch den morgigen Unterricht vorbereiten. Johanna ist natürlich noch wach und mault nicht schlecht über meine „Überstunden“ im Reisebüro.
Na ja, jetzt, wo der Sommer naht, sollte sie schon einsehen, dass man als Reiseleiter eben ab und zu Überstunden machen muss. Aber ich verspreche, sie, die Überstunden, in Hinkunft auf das Allernötigste zu beschränken.
Nur, was die Beschränkung meiner „Überstunden“ auf das Allernötigste betrifft, so ist das leichter gesagt als getan. Schließlich habe ich noch die „nette Dame namens Carla“ zu betreuen, während sich ihr Eheliebster, wo auch immer, mit seinen Freunden (Freundinnen?) herumtreibt.
Letzteres passiert zwar meistens nur an den Wochenenden, wenn überhaupt. Aber gelegentlich, sooft die Begierde halt zu stark wird, wünscht sie ein Treffen mit mir in der Wohnung einer wohlinformierten und verständnisvollen Freundin von ihr. Ja, eigentlich hält sie mich ganz schön auf Trab.
Und vor allem – das fällt mir jetzt erst ein, während ich, auf einmal schlaflos, im Bett liege und Zeit und Muße habe, mir alles durch den Kopf gehen zu lassen – vor allem ein bestimmter Gedanke verstört mich nicht wenig: Die Carla hat angekündigt, die Nordkapreise unter meiner Leitung mitzumachen, und ist, soviel ich weiß, schon längst fix angemeldet, hat garantiert bereits die nötige Anzahlung geleistet. Wie kann ich da die Julia mitnehmen?
Die Antwort kann nur lauten: Nein, ich kann die Julia eben nicht mitnehmen, so leid es mir tut. Ich kann doch nicht zur Carla hingehen und sagen: Du, es tut mir wahnsinnig leid, aber du kannst nicht mitfahren, weil, da fährt meine neue-alte Freundin mit, und was soll ich dann mit zwei Freundinnen gleichzeitig?
Nein, es hilft alles nichts, die Julia soll halt nächstes Jahr auf einer Reise mitfahren. Aber was die heurige Nordkapreise betrifft, muss ich sie zu meinem größten Bedauern wieder ausladen.
Dann wieder sage ich mir, mit der Julia ist es doch viel, viel schöner, und meine Liebe zu ihr ist viel, viel größer als die zur Carla. Und ich muss einfach den Mut haben, die Carla auszuladen.
Aber sofort kommt das Gegenargument: Das kann ich der Carla doch nicht antun. Es wäre reichlich unverschämt von mir.
Und so kämpfen in meinem Kopf zwei gegensätzliche Argumente so heftig miteinander, dass sie mir zusätzlich den Schlaf in weite Ferne treiben. Aber der Kampf bleibt unentschieden, und schließlich nehme ich mir vor, fürs Erste einfach nichts zu tun und die Sache in der Schwebe zu belassen.
Samstag, 24. Mai 2014. Nachmittag.
Also ließ ich Julia vorläufig im Glauben, dass sie in den Ferien mit mir auf meine Kosten Skandinavien bereisen kann.
Unterdessen kamen wir uns von Tag zu Tag näher, und Julias Enthusiasmus wurde von Tag zu Tag größer, stärker, überwältigender. Aus Liebe, und um mir eine Freude zu machen, hat sie sogar von heute auf morgen mit dem Rauchen aufgehört.
Mein Versprechen, die vermeintlichen „Überstunden“ im Reisebüro auf das Allernötigste zu beschränken, konnte ich unter diesen Umständen leider nicht einhalten und musste es in Kauf nehmen, dass Johannas Unmut, statt geringer zu werden, ständig wuchs. Denn mein eigener Enthusiasmus trieb mich unaufhaltsam zu Julia, sooft es möglich war. Und möglich war es praktisch jeden Abend. Bedauerlicherweise liegt ihr Apartment ziemlich weit von meiner Wohnung im neunzehnten Bezirk entfernt, nämlich im vierzehnten Bezirk an der Hütteldorfer Straße.
Heute ist Samstag. Und Samstagnachmittag ist doch sicher ein günstiger Termin, um eine gute und liebe (und liebende) Freundin zu besuchen, wie? Wir haben beide frei, Johanna malt, und Amelie ist mit ihrer Busenfreundin unterwegs, wer weiß, wo.
Ohne mich vorher anzumelden, steige ich in meinen Flitzer und flitze in die Hütteldorfer Straße, finde die Haustür offen, stürme in den dritten Stock hinauf, erreiche Julias Wohnungstür. Und erstarre zu einem Eiszapfen. Von drinnen dringen erschreckende Geräusche heraus: das Gebrüll einer männlichen Stimme und gedämpfte Klagelaute aus Julias Kehle. Verwirrt, bestürzt, entsetzt, läute ich Sturm. Das Gebrüll verstummt abrupt. Nicht so die gedämpften Klagelaute. Ganz vorsichtig geht die Türe auf, Julias verheultes Gesicht blickt heraus.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Karl Plepelits
Cover: Pixabay, CCO Creative Commons
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2023
ISBN: 978-3-7554-6110-4
Alle Rechte vorbehalten