Das Bild zeigt den Römersteinbruch von Sievering, einem Stadtteil Wiens im neunzehnten Gemeindebezirk Döbling, der sich wie alle westlichen Bezirke ein Stück in den Wienerwald hinein erstreckt.
Heute ist die Gegend um den Römersteinbruch ein beliebtes Wandergebiet der Wiener.
„Ha, phantastisch!“
„Oui, fantastique! Magnifique!“
Zwei alte Herren stehen inmitten einer unübersehbaren Menge festlich gestimmter Menschen und bestaunen fasziniert das traditionelle Feuerwerk zum Abschluss der Feiern des französischen Nationalfeiertags. Das Besondere daran ist, dass es in der Meeresbucht von einem Schiff aus abgebrannt wird. Und am besten von der breiten Fußgängerpromenade oberhalb des Strandes aus bewundert werden kann.
Festlich gestimmt scheint sogar die Natur zu sein. Denn ein prachtvoller Halbmond hängt schon tief über den fernen Hügeln der Provence im Westen. Überdies bläst ein starker, frischer, aber noch immer warmer Bergwind von den nahen Alpen her und erquickt Mensch und Tier nach der unerträglichen Hitze des Tages. Vieltausendfacher Jubel brandet auf, sooft der Nachthimmel von bunten künstlichen Sternen erleuchtet wird. Es herrscht eine Stimmung unbeschwerter Heiterkeit, und wohl niemand unter den Zuschauern ahnt, dass sich gerade eine furchtbare Katastrophe anbahnt.
Das Feuerwerk endet. Die bisher ausgeschalteten Lichter gehen wieder an. Aus zahllosen Lautsprechern ertönt fröhliche Musik. Viele Menschen tanzen ausgelassen oder trinken in großer Fröhlichkeit. Andere, kaum weniger fröhlich, unter ihnen die zwei alten Herren, setzen sich inzwischen in Bewegung und beginnen über den palmengeschmückten Grünstreifen und die daran anschließenden Fahrbahnen in die Stadt zu strömen. Das ist heute überhaupt kein Problem. Denn sie, die Fahrbahnen, sind zurzeit aus Anlass des Feuerwerks in eine Fußgängerzone umfunktioniert.
Schon naht das Unheil. Niemand hört es kommen, die zwei alten Herren nicht und auch sonst keiner unter den vielen Tausenden der Zuschauer. Die laute Musik und das Brausen des Windes vereinen sich, um das nahende Unheil unhörbar zu machen.
Doch das Unheil naht. Leise hörbar wird allmählich ein fernes, merkwürdiges Rauschen.
Unerbittlich naht das Unheil. Ein erschreckendes Poltern wird laut.
Das Unheil kommt immer näher. Man hört Pistolenschüsse, entsetzte Schreie.
Sehen kann man das Unheil noch nicht. Aber dann spüren die zwei alten Herren plötzlich einen enormen Luftsog.
Aufs Äußerste beunruhigt, blicken sie sich um und trauen ihren Augen nicht: Mit ausgeschalteten Scheinwerfern rast in der Dunkelheit ein weißes Lkw-Ungetüm wie ein Geisterzug direkt auf sie zu, pflügt mitten durch die Menschenmenge wie ein weißes Kreuzfahrtschiff durch die Wellen, noch dazu mit einem Affenzahn. Das Ungetüm hat bestimmt neunzig Stundenkilometer drauf, wenn nicht mehr. Hinter ihm fliegen nicht nur die verschiedensten Gegenstände durch die Luft, sondern auch vor Schmerzen und Entsetzen schreiende Menschen. Sie gleichen von einer rasenden Kugel durcheinander gewirbelten Bowling-Kegeln.
Wie gelähmt fühlen sich bei diesem Anblick die beiden alten Herren im ersten Moment. Wohl in der allerletzten Sekunde schreit der eine „Attention!“, reißt seinen verwirrt umherblickenden Begleiter so heftig zur Seite, dass dieser stürzt, fällt selbst über ihn, versucht sein Gesicht vor den umherfliegenden Gegenständen zu schützen. Im selben Moment braust das Ungetüm an ihnen vorbei, verfehlt sie um Haaresbreite, und sie sind gerettet.
Ja, diese schnelle Reaktion hat ihnen beiden das Leben gerettet. Aber der Schock sitzt tief. Sie zittern am ganzen Körper. Soweit sie sehen können, gleicht die Promenade einer Leichenhalle. Alle anderen, die rund um sie gestanden sind, liegen jetzt, sofern sie nicht rechtzeitig geflohen sind, grauenhaft verstümmelt in ihrem Blut. Und während die beiden voller Entsetzen dieser dahinrasenden Mordmaschine nachblicken, sehen sie, dass der Horror ungebremst weitergeht. Sie rast dahin, diese Mordmaschine, noch dazu im Zickzack, offenbar, um möglichst viele der Fliehenden niederzumähen und zu zermalmen. Es ist ein grauenhaftes Gemetzel.
Das Zittern verstärkt sich noch enorm, als die beiden plötzlich einen heftigen Schusswechsel hören. Und da ahnen sie, da wissen sie, dies ist ein Terroranschlag, und werfen sich hinter einer Palme zu Boden. Nur wenig später kehrt abrupt Ruhe ein.
Und nun erst wird ihnen bewusst, was sie gehört haben, während die Mordmaschine an ihnen verbeibrauste und sie um Haaresbreite verfehlte. Aus dem offenen Türfenster der Fahrerkabine ertönte das Gebrüll des Fahrers. Und das war vollkommen artikuliert und lautete: „Allahu akbar“ – also der berüchtigte Ruf der Islamisten und Dschihadisten während ihrer Massenmorde: „Allah ist groß.“ Und gleichzeitig pfiffen ihnen die Projektile um die Ohren, die der Fahrer aus dem Kabinenfenster schoss und die offenbar für alle jene gedacht waren, die zu weit abseits standen, um von der Mordmaschine selbst zermalmt zu werden.
Ruhe ist eingekehrt? Ja, der Terroranschlag ist allem Anschein nach zu Ende. Hoffentlich. Doch die Schreie der Menschen verstärken sich eher noch. Panik bricht aus. Chaotisch beginnen schreiende, lautstark weinende Menschen in alle Richtungen davonzurennen. Sie rennen buchstäblich um ihr Leben. Vielfach müssen sie dabei über Tote oder Sterbende springen.
Die beiden alten Herren werden wiederholt angerempelt, ja sogar mehr als einmal niedergestoßen. Sie können gar nicht flüchten. Sie sind noch immer starr vor Schrecken. Sie glauben sich in einem Alptraum zu befinden. Wohin sie schauen – überall Blut, überall Tote und Schwerverletzte, Erwachsene und Kinder, neben ihnen vielfach der herzzerreißende Anblick von Puppen, Kinderwagen oder Kinderrollern, zum Teil zerbrochen, zerquetscht, verstümmelt. Wie die Kinder selbst.
Erst da sind die zwei Herren wieder imstande, sich von diesem Anblick zu lösen und sich taumelnd in Bewegung zu setzen, als nach einer gefühlten Ewigkeit die Folgetonhörner zahlreicher Einsatzfahrzeuge zu hören sind. Und nun flüchten sie auch selbst. Nur, wohin? Nach kurzem Zögern folgen sie vielen anderen und suchen Zuflucht im Foyer eines der Luxushotels auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Von draußen sind noch immer Schreie und andere beängstigende Geräusche zu hören. Nach Stunden quälenden Wartens teilt man den Wartenden mit, das Foyer müsse geräumt werden. Man müsse Platz schaffen für die Toten und Verwundeten.
Na, höchste Zeit, brummt einer der beiden alten Herren. Aimée wird inzwischen schon Todesängste um uns ausgestanden haben.
Bis zu seinem Renault sind es auf direktem Wege zwar nur wenige hundert Meter. Trotzdem brauchen die beiden fast anderthalb Stunden, bis sie ihn erreicht haben, weil fast alle Straßen von der Polizei abgesperrt waren.
Solches geschah am Abend des 14. Juli 2016 in Nizza, der bei Touristen so beliebten Küstenstadt, dem eleganten Zentrum der Côte d’Azur. Damals befanden sich im Rahmen der Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag schätzungsweise dreißigtausend Menschen auf der weltberühmten Promenade des Anglais („Promenade der Engländer“), der zu diesem Anlass für den Verkehr gesperrten Strandpromenade von Nizza.
Da taucht zur Überraschung aller, zum Entsetzen aller, wie aus dem Nichts ein großer Lastwagen auf, überwindet die Polizeisperre, die den Beginn der temporären Fußgängerzone markiert, indem er auf die breite Fußgängerpromenade hinauffährt, und benutzt von da an abwechselnd diese und die Fahrbahn, je nachdem, wo er die meisten Menschen überfahren kann. Gleichzeitig schießt der Fahrer auf Menschen, die seine Mordmaschine nicht erreichen kann, und auf die ihn verfolgenden Polizisten und wird zuletzt von diesen selbst erschossen. Es handelt sich um einen Tunesier, der offensichtlich in den Dschihad, den „Heiligen Krieg“, gezogen ist. Er hinterlässt, offenbar zur höheren Ehre Allahs, nicht weniger als sechsundachtzig Tote, darunter zahlreiche Kinder, und mehr als vierhundert zum Teil grauenhaft Verwundete, zudem fassungsloses Entsetzen in Frankreich und in der gesamten zivilisierten Welt.
Zwei der Tausende, die bei diesem Terroranschlag, wenn auch nur mit knapper Not, mit dem Leben davonkommen, sind ein alter Herr aus Wien namens Georg Holly und Monsieur Sylvain Clavié, sein nicht viel jüngerer französischer Cousin, bei dem er gerade zu Besuch weilt. Dieser wohnt freilich nicht direkt in Nizza, sondern in dem nahegelegenen Städtchen Cagnes-sur-Mer, berühmt für den Umstand, dass hier seinerzeit Auguste Renoir gelebt hat und auch gestorben ist. Monsieur Clavié bewohnt mit seiner Frau Aimée noch sein Elternhaus, während sein älterer Bruder Charles in Paris lebt.
Nun sind die landschaftlichen Reize der Côte d’Azur, die Annehmlichkeiten des Klimas und die viel zu seltenen Freuden des Verwandtenbesuches verblasst. Der Schock sitzt tief. Monsieur Clavié ist heilfroh, dass er seine Ehefrau daheim gelassen hat. Und Herr Holly ist froh, dass er allein nach Cagnes-sur-Mer gereist ist. Wenigstens, sagt er sich in einem fort, ist meine Viktoria in Wien geblieben. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ihr bei diesem Gemetzel was passiert wäre.
Viktoria ist Georg Hollys junge Freundin. Nun ja, jung ist bekanntlich ein sehr relativer Begriff, und jung ist sie eigentlich auch nur im Vergleich zu ihm. Sie zählt selbst schon über fünfzig Jährchen.
Ursprünglich fungierte sie als gelegentliche Haushälterin in seinem Singlehaushalt. Doch allmählich kamen sich Georg und Viktoria, wie es eben so zu gehen pflegt, näher. Man fand mehr und mehr Gefallen aneinander und landete schließlich im Bett. Und da war man froh und glücklich, im Alter noch die Freuden der Liebe genießen zu dürfen, auch wenn Viktoria Wert darauf legt, ihre eigene Wohnung zu behalten. Und warum hat sie Georg nicht an die Côte d’Azur begleitet? Nicht, weil er so ein vernagelter Despot wäre. Nein, es war ihre eigene Entscheidung. Sie leidet an ausgeprägter Flugangst.
Somit bedeutet die Rückkehr nach Wien für Georg Holly Trost und Erholung von dem in Nizza erlebten Horror. Nur war dieser Horror, laut Wilhelm Busch, nur der erste Streich. Denn der zweite folgt sogleich.
Wenige Tage sind erst seit seiner Rückkehr vergangen. Da steht unverhofft die Polizei vor seiner Tür und nimmt ihn fest und führt ihn ab. Und, das ist der Hammer, er steht unter dringendem Mordverdacht. Unter dem Verdacht, zwischen dem 13. und 15. Juli 2016 eine betagte Nonne in mörderischer Absicht über die Felsen des sogenannten Römersteinbruchs von Sievering, eines Ortsteiles des neunzehnten Bezirks von Wien, gestoßen zu haben.
19. März 1989. Früher Morgen.
An Bord eines Fährschiffes auf der Fahrt von Genua nach Palermo.
In heller Aufregung kommt eine junge Dame an die Rezeption gestürzt und verkündet mit ersterbender Stimme, ihr Mann, Angelino della Porta, sei auf einmal unauffindbar.
Die Rezeptionistin hat einige Mühe, sie zu beruhigen.
„Wann haben sie ihn zuletzt gesehen?“
„Letzten Abend, an der Bar.“
„Aha. Trinkt Ihr Gemahl gerne?“
Diese Frage muss Signora della Porta leider bejahen.
„Und sagen Sie, wäre es denkbar, dass er sich jetzt in einer anderen Kabine, eventuell bei einer anderen Dame, befindet und dort verschlafen hat?“
Auch das kann Signora nicht ausschließen.
„Na, wissen Sie was? Warten wir doch bis Mittag. Falls Ihr Herr Gemahl dann noch immer nicht aufgetaucht ist ... Aber das wird er sicher. Wissen Sie, derartige Fälle kommen immer wieder einmal vor.“
Dieser Trost wirkt. Signora della Porta nickt und scheint zwar nicht getröstet, aber doch einigermaßen beruhigt.
Jedoch, es wird Mittag, und Signor della Porta ist noch immer nicht aufgetaucht. Und jetzt ist Signora völlig aus dem Häuschen und versetzt die Rezeptionisten – unterdessen sind es drei an der Zahl – endgültig in Alarmzustand. Das Schiff wird systematisch von oben bis unten durchsucht. Aber der Vermisste ist und bleibt unauffindbar. Ergo dessen muss man bedauerlicherweise davon ausgehen, dass es wieder einmal heißen muss: Mann über Bord.
Für einen solchen Fall gibt es in der Seefahrt zwar genaue Vorschriften. Sinnvoll sind die aber nur bei sofortigen Rettungsversuchen. Hier muss man leider davon ausgehen, dass der Mann mitten in der Nacht über Bord gegangen ist. Seither hat das Schiff wer weiß wie viele Seemeilen zurückgelegt, und eine Suche wäre vollkommen aussichtslos. Mit anderen Worten, für Signor della Porta gibt es keine Hoffnung mehr.
„Wie gibt’s denn so was“, jammert die Signora, „dass da ein Mensch einfach verschwindet, als ob er nie existiert hätte?“
„Doch, so was gibt es“, belehrt sie der Kapitän, um sie zu trösten (was ihm natürlich nicht gelingt). „Wissen Sie, Signora, auf diese Weise verschwinden Jahr für Jahr mindestens vierzehn Menschen. Spurlos. Und in jedem Fall bleibt die Frage ungeklärt: War es ein Unfall? War es Selbstmord? Oder war es gar Mord? Kriminalexperten behaupten, für einen perfekten Mord sei kein Ort geeigneter als ein Schiff. Denn hier gibt es keine Leiche. Apropos, Signora, hatte Ihr Ehemann Feinde, die ihm nach dem Leben trachteten?“
Verwirrt schüttelt Signora den Kopf. „Nein, nein. Nicht, dass ich wüsste. Nein, bestimmt nicht.“
„Könnte es Selbstmord gewesen sein?“
„Glaube ich nicht. Er war nicht der Typ dafür. Obwohl … Vollkommen frei von gelegentlichen Depressionen war er nicht. Als Ehefrau glaubt man ja den Partner in- und auswendig zu kennen. Und trotzdem, wer kann schon in einen anderen Menschen hineinschauen?“
„Also, auszuschließen ist Selbstmord nicht, sagen Sie?“
„Hm ... Nein. Ehrlich, völlig ausschließen kann man diese Möglichkeit mit gutem Gewissen nicht. Wer weiß, vielleicht hat er gestern Abend deshalb so viel getrunken?“
„Ah, hatte er zu viel getrunken? Dann war es also vielleicht ein Unfall in alkoholisiertem Zustand? Ja, kommt vor. Nun, wie auch immer, über solche Fälle versuchen die Reedereien nach Möglichkeit den Mantel des Schweigens zu breiten. Und wenn sie doch etwas darüber verlauten lassen, dann ist ihnen die Unfallversion am liebsten. Jedenfalls, ihre Bereitschaft, zur Aufklärung des Verschwindens von Passagieren beizutragen, ist normalerweise enden wollend. Ich selbst kann, ehrlich gesagt, auch nicht mehr tun, als Ihnen mein herzliches Beileid auszudrücken.“
Tatsächlich scheint das Verschwinden des Signor della Porta niemanden zu interessieren, die Passagiere nicht, den Kapitän nicht, die übrige Crew nicht. Und ob es die italienische Polizei besonders interessiert? Diesen Eindruck hat Signora della Porta jedenfalls nicht. Sie ist ganz und gar untröstlich.
Juli 1940. Wien.
Im dunklen, warmen, kuscheligen Mutterleib wächst gerade ein kleines Menschlein heran und macht sich langsam, aber sicher für den bevorstehenden Rutsch in eine wenig anziehende Welt bereit. Sie wird zurzeit von blutrünstigen Tyrannen beherrscht und von der Kriegsfurie zerfleischt. Trotz allem wird das Menschlein den Mutterleib verlassen, wenn seine Zeit gekommen ist. Und dann wird man ihm den Namen Georg Holly geben und ihn zärtlich Schorschi nennen.
Zur selben Zeit genießt in Purkersdorf bei Wien ein neunjähriges Mädchen die Sommerferien und nutzt jede Gelegenheit, den heißgeliebten Nachbarshund Burli, eine französische Dogge, auszuführen. Die Nachbarn hatten ihr eingeschärft, das Tier ja immer an der Leine zu führen. Und an diese Anweisung hält sie sich auch eisern.
An einem Sonntag, man schreibt den 28. Juli, geht sie, in den Worten Goethes, mit dem Burli an der Leine im Walde so für sich hin, und nichts zu suchen, das ist ihr Sinn. Plötzlich zieht der Burli völlig unverhofft so heftig an der Leine, dass es ihm zu ihrem Entsetzen gelingt, sich loszureißen. Und schon saust er davon, noch tiefer in den Wald hinein, ohne auf ihr verzweifeltes Rufen zu achten, und beginnt aufgeregt zu bellen, wie eben Jagdhunde bellen, wenn sie ein angeschossenes, verletztes Wild gestellt haben. Voller Angst und Neugier läuft sie ihm eilig hinterher.
Beim Burli angekommen, erleidet sie den Schock ihres Lebens. Sie sieht etwas für sie als Kind unerhört Schreckliches: Auf einer kleinen Lichtung stehen, an einen Baum gelehnt, einander zugewandt, ein Mann und eine Frau. Beide völlig unbekleidet. Ihre Kleider liegen unbeachtet neben den beiden im Gras. Vor ihnen steht der Burli, bellt sie wild an und ist sichtlich auf dem Sprung, zuzubeißen.
Nackte Menschen hat die Kleine noch nie in ihrem Leben gesehen, weder im Bild und schon gar nicht in natura. Sexuelle Aufklärung ist noch für lange Zeit Zukunftsmusik. Und natürlich ist die Neunjährige noch total „unschuldig“, wie man das damals nannte. Was tun denn da die beiden, ausgezogen und mitten im Wald, fragt sie sich bestürzt.
Den Schock verdoppelt und verdreifacht der Umstand, dass der Mann eine allgemein bekannte Persönlichkeit in Purkersdorf ist, nämlich ein einflussreiches NSDAP-Mitglied. (Seit dem verhängnisvollen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich vor mehr als zwei Jahren herrscht auch hierzulande Hitlers verbrecherischer Nationalsozialismus.) Die Frau, genauer, das junge Fräulein, ist der Kleinen gleichfalls wohlbekannt. Auch sie stammt aus ihrem Heimatort. Und jetzt stehen beide im Evas- und Adamskostüm vor ihr und werden von Burli angebellt und bedroht.
Doch den schlimmsten Schock bereitet ihr die Reaktion des nackten Mannes selbst. Er lässt ihr nämlich gar keine Zeit, sich irgendwas zu überlegen. Zornschnaubend brüllt er los: „Was streichst du da in meinem Pachtwald herum und scheuchst das Wild auf? Nimm sofort den Köter an die Leine und verschwinde! Aber ein bissl plötzlich. Wir sprechen uns noch.“
Sie ist wie vom Donner gerührt und bringt kein Wort der Erklärung oder wenigstens der Entschuldigung heraus. Doch um den Befehl des Brüllenden zu befolgen, sieht sie sich gezwungen, noch näher heranzutreten. Und dabei erkennt sie zum ersten Mal in ihrem Leben deutlich den Unterschied zwischen Mann und Frau.
Nicht ohne Mühe bekommt sie den Burli an die Leine und schafft es, ihn von diesem gefährlichen Ort wegzuziehen. Während sie jedoch den beiden Nackedeis den Rücken zukehrt, muss sie eine Schimpftirade sondergleichen über sich ergehen lassen. Der Mann droht ihr die härtesten Strafen an, sollte sie jemals von dieser Begegnung etwas weitererzählen.
„Wehe dir, wenn ich erfahre, dass du nicht dicht gehalten hast!“
Dies sind die letzten Worte, die das verängstigte Mädchen noch hören kann.
Sie hält auch wirklich dicht.
Nur, es nützt ihr leider nichts. Gemeinsam mit ihren Eltern gehört sie nämlich den Zeugen Jehovas an. Und diese gelten als die einzige Glaubensgemeinschaft, die geschlossen dem NS-Regime Widerstand leistet, wenn auch nur passiven Widerstand. Aus christlicher Überzeugung verweigern sie den Wehrdienst, den Hitlergruß und die Arbeit in der Rüstungsindustrie und werden deshalb unerbittlich verfolgt. Seit dem sogenannten Anschluss erstreckt sich diese unerbittliche Verfolgung auch auf Österreich (das übrigens nicht mehr Österreich heißen darf, sondern seit über einem Jahr Ostmark genannt werden muss).
Auch die Neunjährige, von der hier die Rede ist, verweigert den Hitlergruß konsequent. In der Schule wurde das bisher entweder nicht bemerkt oder nicht beachtet und darum auch nicht beanstandet. Doch als am Morgen nach dem erwähnten Vorfall im Wald die Lehrerin ihre Klasse betritt, hat diese zur Bestürzung der Kleinen eben jenen Mann im Schlepptau, mit dem sie erst gestern jenes peinliche Erlebnis hatte. Nur ist er mittlerweile natürlich nicht mehr nackt, sondern voll bekleidet mit Hose und braunem NSDAP-Hemd und der gewohnten Hakenkreuzarmbinde. Ihm fällt ihre Verweigerung des Hitlergrußes offenbar sofort auf. Er sagt zwar nichts und verlässt die Klasse sogleich wieder. Doch am Nachmittag erscheint er in Begleitung zweier Polizisten in ihrer elterlichen Wohnung und verfrachtet sie und ihre Mutter zur Gestapo. Nicht hingegen ihren Vater. Wahrscheinlich, weil dieser seit dem Ersten Weltkrieg Invalide ist.
Im Kommissariat der Gestapo werden Mutter und Tochter zunächst verhört und – selbstverständlich – gefoltert. Und sobald die beiden zur Genüge gequält und eingeschüchtert sind, wird die Tochter erbarmungslos den Armen der Mutter entrissen und nach Wien in die sogenannte Kinderübernahmestelle gebracht und von dort in das Erziehungsheim „Am Spiegelgrund“ eingewiesen.
Dies geschah im Juli. Wann sahen Mutter und Tochter einander wieder? Antwort: Erst im September. Da feierte nämlich das Mädchen seinen neunten Geburtstag, und die Mutter durfte ausnahmsweise zu Besuch ins Heim kommen – für das Mädchen Anlass großer Freude, zugleich großer Trauer.
„Aber Mama, warum gehst du denn in Schwarz? Ist was passiert?“
Die Mutter brach in Tränen aus. „Ja, stell dir vor, der Papa ist gestorben. Völlig unerwartet.“
„Wie, der Papa ...? Tot?“
Das Mädchen war fassungslos.
„Ja, er musste ins Spital. Und dort ... Na ja, ich habe ihn natürlich besucht, sooft ich konnte. Daran hat mich ja zum Glück keiner gehindert so wie bei dir. Zu dir durfte ich erst heute zum ersten Mal. Aber nur, weil du Geburtstag hast. Na ja, vorgestern wollte ich dann den Papa wieder besuchen. Und da war sein Bett auf einmal leer. Und sein Bettnachbar hat berichtet, er hat eine Injektion bekommen und ist danach sofort aus dem Saal gefahren worden. Und gestern hat man mir mitgeteilt, dass er ganz überraschend gestorben ist.“
Und wann sah die Kleine ihre Mutter wieder? Antwort: Schon wenige Wochen später, Ende Oktober. Aber nicht im Heim und auch nicht zu Hause. Sondern im Gerichtssaal. Das Mädchen war als Zeugin geladen. Angeklagt war die Mutter wegen Mitgliedschaft bei den Bibelforschern; so hießen in der Anklageschrift die Zeugen Jehovas. Sie wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Wegen „staatsfeindlichen Verhaltens“.
Und was geschah mit der Mutter, nachdem die sechs Monate abgelaufen waren? Antwort: Sie wurde in „Schutzhaft“ genommen. Gemeint ist: Sie kam ins KZ Mauthausen.
Schutzhaft: Welch zynische Bezeichnung für ein KZ, diese Hölle auf Erden!
Faktum ist: Die Mutter hat diese sogenannte Schutzhaft nicht überlebt. Und ihre Tochter, bisher Halbwaise, wurde damit zur Vollwaise.
Aber sie genoss ja jetzt die Freuden eines nationalsozialistischen Erziehungsheims.
Des berüchtigten Erziehungsheims „Am Spiegelgrund“ mit dem vielleicht noch berüchtigteren Anstaltsarzt Dr. Magnus.
18. Mai 1960.
Die ehemalige Kaiserstadt Wien ist außer Rand und Band, und die Wiener Polizei befindet sich in höchstem Alarmzustand.
Was ist geschehen? Eine Riesensensation. Endlich gibt es wieder einmal einen Kaiser zu bestaunen und sogar eine Kaiserin.
Der legendenumwitterte Schah von Persien und seine nach der Scheidung von Soraya erst kürzlich angetraute neue Gemahlin Farah Diba weilen über eine Woche lang auf Staatsbesuch in Österreich.
Der Student Georg Holly – er studiert Anglistik, Klassische Philologie und Altertumswissenschaft – ist zwar nicht außer Rand und Band wegen des persischen Kaiserpaares. Aber auch er bewundert die beiden. Im Übrigen kann er jedes Mal, wenn er in der Straßenbahn am Hotel Imperial vorbeifährt, eine dichtgedrängte Menschenmenge beobachten, die davor versammelt ist und offensichtlich hofft, die hier abgestiegenen Berühmtheiten irgendwann zu Gesicht zu bekommen. Und er kann es gut verstehen. Sie sind ja wirklich ein „schönes Paar“, wie man so sagt.
Eben dies versuchte Georg auch seiner Freundin Anneliese Klakowitz, einer Medizinstudentin, zu vermitteln, um sie von ihrer strikt ablehnenden Haltung abzubringen. Sie fand nämlich am Schah absolut nichts Bewundernswertes. Auch nicht an Farah Diba.
„Schau, Anneliese, auch unsere Politiker nehmen doch jede Gelegenheit wahr, dem Schah nahe zu sein. Zum Beispiel gestern Abend beim Staatsempfang im Schloss Schönbrunn. Da waren jede Menge von denen dabei, um dem Schah und der Farah Diba die Hand zu schütteln. Die rissen sich ja alle um eine solche Ehre.“
„Genau“, erwiderte Anneliese grimmig. „Um die Ehre, denen in den Arsch kriechen zu dürfen. Lauter Arschkriecher und Speichellecker. Genauso wie die sensationslüsterne Masse, die vor dem Hotel Imperial steht und gafft. Oder vor dem Schloss Schönbrunn, wenn drinnen der Staatsempfang über die Bühne geht. Oder, apropos Bühne, auch vor der Staatsoper, wenn der gottgleiche Herr Kaiser und seine göttinnengleiche junge Puppe eine Aufführung zu besuchen geruhen.“
„Aber du weißt doch ... Viele Frauen nehmen sich jetzt schon, nach nicht einmal einem halben Jahr, für ihre Frisur die Farah Diba zum Vorbild.“
„Ah, du sprichst von der Farah-Diba-Turmfrisur, wie? Na ja, du siehst, ich gehöre nicht zu den Weibern, die die Farah Diba nachäffen. Und warum tun sie das? Nur, weil diese Farah Diba die Titelblätter der Regenbogenpresse und der Blöd-Gazetten ziert.“
„Aber diese Farah-Diba-Frisur ist doch unheimlich schick.“
„Ja, aber hast du gewusst, dass die Trägerinnen einer solchen Turm- oder Bienenkorbfrisur mit einer Nackenrolle schlafen müssen? So etwas würde ich mir nie im Leben antun. Ganz abgesehen davon, dass ich diesen Herrn Kaiser zutiefst verabscheue.“
„Verabscheue? Wieso denn das?“
„Weil wir auf der medizinischen Fakultät viele Perser und auch Perserinnen haben. Und unter denen gibt es zwei Arten: Die einen jubeln jetzt dem Schah zu, wann immer es geht. Und die anderen verteufeln ihn. Und glaub mir, das ist die große Mehrheit.“
„Sie mögen ihn nicht? Er tut doch sein Bestes, um Persien ins zwanzigste Jahrhundert zu führen.“
„Leugne ich auch gar nicht. Aber er ist ein blutrünstiger Despot. Mit einem Wort, ein Verbrecher.“
„Das erzählen deine Kommilitonen?“
„Genau. Und ich verstehe nicht, wie ein glühender Demokrat wie du – und das bist du doch, oder etwa nicht? – wie also ein glühender Demokrat diesen Despoten sympathisch finden kann.“
„Was erzählen sie denn konkret?“
„Dass die Menschenrechte in Persien mit Füßen getreten werden. Dass er selbstherrlich ist und unvorstellbar verschwenderisch lebt. Dass seine Geheimpolizei das Volk mit unglaublicher Brutalität knechtet. Dass es eine himmelschreiende Korruption gibt. Dass er nicht nur für den schiitischen Klerus, sondern auch für die meisten Intellektuellen der leibhaftige Gottseibeiuns ist.“
Nun, um es kurz zu machen, Anneliese regte sich über den Umstand, dass Georg den Schah trotz seiner „Verbrechen“, wie sie es nannte, sympathisch und bewundernswert findet, immer heftiger auf. Und was war der Erfolg? Sie machte zu seiner Bestürzung mit ihm Schluss. Sie verstieß ihn. Herzlos und kaltlächelnd. Mit „so einem Fürsprecher der Tyrannei“ wolle sie „echt nichts zu tun haben“.
„Und auch das muss einmal gesagt werden. Deine rückständige, stockkonservative katholische Denkungsweise ist mir schon immer auf den Geist gegangen und tut das mit jedem Tag mehr. Wie du dich zum Beispiel über die Warmen Brüder, wie du sie nennst, ständig lustig machst, finde ich, ehrlich gesagt, zum Kotzen. Nur weil in der Bibel ihre Lebensweise als Schande und himmelschreiender Gräuel oder so ähnlich geschmäht wird, glaubst du dich ihnen haushoch überlegen, wie?“
(„Warme Brüder“ nannte man damals gern homosexuelle Männer, um sie zu verunglimpfen.)
Mit solchen Tiraden durchschnitt Anneliese mutwillig das Band der Liebe, das sie bisher mit Georg verbunden hatte, vielleicht aber auch nur, um nicht schwach zu werden und jedem Versuch vorzubeugen, den Bruch wieder zu kitten.
Das sollte aber nicht die einzige tragische Folge des Schahbesuchs in Österreich bleiben. Am 24. Mai wurde in einem Wald an der Landesgrenze zwischen Wien und Niederösterreich Dr. Magnus, der bekannte ärztliche Leiter des Kindererziehungsheimes Wilhelminenberg, früher, in der Nazizeit, Anstaltsarzt im Kinderheim „Am Spiegelgrund“, ermordet aufgefunden. Da hatte der Mörder anscheinend den bei der Polizei momentan herrschenden Ausnahmezustand ausgenutzt, um ungesehen und ungestraft einen Mord zu begehen. Denn natürlich hatte man sich völlig auf die Bewachung des Schahs und seiner Entourage konzentriert. Und tatsächlich sollte dieser Mord trotz eifrigster Nachforschungen lange Zeit unaufgeklärt bleiben. Denn es fanden sich keine Fingerabdrücke und auch sonst keinerlei Spuren des Täters oder der Täter, je nachdem.
Georg Holly kannte Dr. Magnus nur vom Hörensagen. In welchem Zusammenhang er von ihm gehört hatte, wusste er aber nicht mehr. Deshalb berührte ihn die Kunde von seiner Ermordung nur am Rande, so, wie man eben von irgendeiner Missetat in der Zeitung liest oder im Radio hört. Aber das sollte sich in naher Zukunft noch radikal ändern.
Dass ihn Annelieses abrupte Aufkündigung der Freundschaft ungleich stärker berührte als der Mord an dem ihm persönlich nicht bekannten Dr. Magnus, liegt in der Natur der Sache. Immerhin war sie seine erste „richtige“ Freundin überhaupt, auch wenn ihre Freundschaft bloß „platonischer“ Natur gewesen war. Anneliese hatte sich stets standhaft geweigert, die Grenzen der platonischen Liebe zu überschreiten. Sie hatte sich sogar geweigert, sich von ihm küssen zu lassen. Eine solche ablehnende Haltung war damals unter den jungen Frauen weit verbreitet. Sie fürchteten ja ständig, schwanger zu werden – und was dann? Die Eltern würden sie vielleicht verstoßen und erklären: „Du bist nicht mehr unsere Tochter!“ Und konnte man nicht sogar vom Küssen schwanger werden?
(Es ist ein Faktum, dass Küssen für Frauen ein ausgesprochen intimer Akt ist und bereits unter die Kategorie „Sex“ fällt, während für viele Männer selbst Oralverkehr nichts mit Sex zu tun hat – siehe Bill Clinton.)
Georg selbst war
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Karl Plepelits
Cover: Sieveringer Römersteinbruch - Von Funke - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16022955
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2023
ISBN: 978-3-7554-3946-2
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