Hurra, ist das lustig: Anlauf nehmen und über die zugefrorenen, nur mit einer dünnen Schneeschicht bedeckten „Lacken“ rutschen! Besonders dann, wenn dieses Vergnügen mit einem Wettkampf verbunden ist, wer weiter rutschen kann.
Denn natürlich vergnüge ich mich nicht allein mit dieser „Rutschpartie“, sondern zusammen mit meinen Freunden und Mitschülern Hansi und Wuki oder vielmehr gegen sie. Schließlich soll es ja ein Wettkampf sein. Na, und außerdem hält es warm.
Hält warm? Ja, klar, solange man halt trocken bleibt. Aber nachdem wir uns diesem Vergnügen lange genug hingegeben haben und ich schon fast als Sieger feststehe, kracht unversehens das Eis gefährlich unter mir. Und schon stecke ich bis zu den Knien im Wasser und glaube auf meiner Brust bereits die kalte Hand von Schnitter Tod zu spüren.
Nein, nein, keine Angst! So schnell stirbt man nicht. Und zum Glück befinde ich mich schon nahe dem Ufer. Ja, zu meinem Glück. Denn wäre ich das nicht – ich würde wohl bis zum Hals oder womöglich bis über den Haarschopf im Wasser stecken. Und was dann?
Klar, dass ich nach dem ersten Schrecken schnell aus dem Wasser herauszuklettern versuche. Ist übrigens gar nicht so einfach. Ja, Grund habe ich unter den Füßen, aber verdammt weichen und verdammt unebenen, somit keinen, der mir sicheren Halt bietet. Und noch unangenehmer: Ich mache versuchsweise nur einen kleinen Schritt, und schon stecke ich noch tiefer im Wasser.
Na, endlich schaffe ich es, mit Hilfe beider Hände auf festeres Eis herauszukrabbeln und zur Sicherheit auf allen vieren ans nahe Ufer zu kriechen. Hansi und Wuki eilen mir natürlich sofort zu Hilfe, wohlgemerkt, indem sie einen großen Bogen um das von mir produzierte Eisloch machen. Nur, zu helfen gibt es eigentlich eh nichts mehr. Im Prinzip bin ich wohlbehalten, nur eben klatschnass und müsste möglichst schnell trockengelegt werden. Meine einzige Sorge besteht jetzt darin, mein Missgeschick zu Hause zu verheimlichen, um zu verhindern, dass meine Mutter vor nachträglicher Angst außer sich gerät und ein Mordstheater macht oder sich gar bemüßigt fühlt, nach dem Pracker, sprich, Teppichklopfer, zu greifen und mir, wie dem Teppich auf der Teppichstange den Staub, die Unbesonnenheit und den vermeintlichen Übermut aus dem Hinterteil zu klopfen.
Das Vergnügen auf dem Eis ist damit definitiv beendet, und sofortige Heimkehr ist geboten. Trotzdem zögere ich, den weiten Weg zurück in die Stadt anzutreten. Irgendetwas lässt mir keine Ruhe. Was war das für ein merkwürdig weicher Gegenstand auf dem Seegrund, von dem ich abgerutscht bin? Wie Schlamm hat sich das bei Gott nicht angefühlt. Und wäre es wirklich Schlamm gewesen, wie hätte ich dann in noch tieferes Wasser abrutschen können? Zu sehen ist nichts, obwohl gerade an der gefährlichen Stelle kein Schnee mehr die Sicht behindert. Aber das Wasser ist jetzt trüb. Klar, ich bin schuld. Ich habe Schlamm aufgewühlt.
„Warum beeilst du dich denn nicht?“, höre ich Hansi rufen. „Du wirst dir noch den Tod holen, wenn du da noch länger herumstehst. Was suchst du denn da überhaupt?“
„Ich weiß nicht“, brumme ich missvergnügt. „Aber vielleicht seht ihr was?“
„Was sollen wir denn in dem trüben Wasser ...“
Hansi verstummt mitten im Satz, als ihm Wuki unverhofft einen offenbar unerwartet festen Schlag auf den Brustkorb versetzt und, sichtlich aufgeregt, mit der anderen Hand auf das Loch im Eis zeigt. Da reißt Hansi die Augen auf und greift sich auf den Mund. Der Schlamm sinkt bereits langsam zu Boden, und im allmählich klarer werdenden Wasser beginnt sich ein mysteriöser länglicher Gegenstand abzuzeichnen, der unter Garantie nicht dorthin gehört. Und dieser mysteriöse Gegenstand entpuppt sich immer deutlicher als menschlicher Körper, man könnte fast glauben, als Körper eines Dämons. Denn das Gesicht – ha, das Gesicht ist auf entsetzenerregende Weise entstellt.
Dieses Missgeschick mit all den katastrophalen Folgen, die es nach sich zog, trug sich vor unfassbar langer Zeit zu, als ich noch nicht wie heute doppelter Großvater, sondern noch jung und dumm war und mütterliches Missfallen fürchten musste, konkret, am 10. Jänner des Jahres 1954.
Es ereignete sich in den Auwäldern bei Melk, jenem für sein berühmtes Benediktinerstift bekannten Städtchen in Niederösterreich. Sein offizieller Name ist zwar Melk an der Donau. Aber genaugenommen liegt es gar nicht an der Donau, sondern teils an einem Arm des Stromes, der hier von ausgedehnten Auwäldern begleitet wird, teils am Fuß des steilen Stiftsfelsens. Und in diesen Auwäldern finden sich zahlreiche „Lacken“. So nennt man hier Teiche oder kleine Seen, deren Wasser offensichtlich nach dem Prinzip der kommunizierenden Gefäße mit dem der Donau verbunden ist. Das hat zur Folge, dass der Wasserspiegel besagter „Lacken“ extrem unterschiedlich sein kann. Und wenn die Donau Hochwasser führt, steht sowieso jedes Mal die ganze Au unter Wasser.
Im Winter führt die Donau normalerweise Niederwasser. Und nicht nur das. Der Wasserspiegel pflegt dann ständig noch weiter abzusinken. Letzteres merkt man besonders deutlich an den Eisdecken der „Lacken“ und des Donauarms (wenn er zufriert, was nicht in jedem Winter der Fall ist). Dort bildet sich nämlich an den Ufern stets eine abschüssige Eisschicht, und die Eisdecke selbst ist in Ufernähe offenbar dünner oder brüchiger, jedenfalls weniger tragfähig als weiter draußen.
So konnte es geschehen, dass ich an einem eisigen Sonntag im Jänner 1954 in Ufernähe durch die sonst so stabile Eisdecke brach und mein Freund Wuki im Wasser die grausig entstellte Leiche eines Menschen entdeckte (falls es sich nicht um einen Dämon handelte; so sah ihr Gesicht nämlich aus).
Jetzt wusste ich wenigstens, auf was für einen Gegenstand ich dabei abgestürzt war, und war nun doppelt entsetzt. Mein Entsetzen war so groß, dass ich für einige Augenblicke völlig vergaß, dass meine Kleider triefend nass waren und ich elendiglich fror. Ich schrie nicht, riss nur, wie mir einer meiner Freunde nachher erzählte, den Mund weit auf, als ob mir der Schrei im Hals stecken geblieben wäre. Wie gelähmt, stumm und regungslos, starrte ich auf den Toten im Wasser – denn wie an der Kleidung mit einiger Sicherheit zu erkennen war, handelte es sich um eine männliche Leiche – und bot vermutlich den Anblick des Menschen auf Munchs berühmtem Bild „Der Schrei“. Meine Freunde mussten mich erst daran erinnern, dass ich schleunigst trockengelegt gehörte.
Auf dem Heimweg mitten durch die Stadt blieb mein beklagenswerter Zustand zum Glück unbemerkt. So dachte ich.
Aber nein, ich freute mich zu früh. Wir überquerten gerade den Hauptplatz, da hielt mit quietschenden Reifen ein Auto neben uns, auf der Fahrerseite ging das Fenster auf, und eine mir nur zu gut bekannte Stimme rief mir zu: „Ja, Meisl! Hörst du, wie schaust denn du aus?“
Es war der Pater Eustachius, unser Klassenvorstand und Deutschprofessor im Stiftsgymnasium (den wir Schüler, natürlich nur unter uns, meistens nur Stachius oder einfach Stachi nannten; und wir fanden, dass dieser Spitzname bestens zu ihm passte, weil er an die Stacheln erinnerte, die er mit sich trug wie ein Igel, nur eben unsichtbar). Dass er in einem Auto herumkurvte, war für uns keine Überraschung. Soviel wir wussten, war er der Einzige unter all den Patres im Stift, der ein solches Privileg besaß. Dies war uns übrigens ein ständiges Rätsel. Wir hatten ja gelernt: Ordenspriester haben nicht nur Gehorsam und Keuschheit, sondern auch Armut gelobt. Wie kam dann also der Pater Eustachius zu einem eigenen Auto?
Verflixt, ausgerechnet der Stachius! Wie peinlich!
Vor Schreck brachte ich nicht einmal einen Gruß, geschweige denn eine Antwort auf seine Frage heraus. Hansi und Wuki erkannten meine Verlegenheit und sagten brav, obwohl etwas zaghaft: „Grüß Gott.“ Und mit bedauernder Stimme verriet ihm Wuki das Offensichtliche: „Naja, eingebrochen ist er halt.“ Und Hansi fügte eifrig hinzu: „Ja, wissen Sie, das Eis war auf einmal zu dünn.“
Pater Eustachius machte große Augen. „Das Eis? In der Au? Auf einer Lacke?“
Ich nickte heftig, und es gelang mir zu sagen: „Ja, ja. Und jetzt muss ich schleunigst heim, mich umziehen, trockenlegen.“
„Ja, dann, beeil dich, dass dich nicht der Sensenmann …“, rief er, schloss das Fenster und brauste davon. Hatte ihm der Name Sensenmann solchen Schrecken eingejagt? Damit meinte er wahrscheinlich den Schnitter Tod. Ich hatte diesen Ausdruck noch nie gehört.
„He, so nett kenne ich den Stachi gar nicht“, bemerkte Wuki, während wir weitermarschierten.
Und Hansi: „Unglaublich. Direkt mitfühlend. Sind wir von ihm gar nicht gewohnt.“
Und Wuki (eigentlich hieß er ja Hans-Horst, aber aus unerfindlichen Gründen wurde er von Eltern, Verwandten und Freunden stets unverdrossen Wuki genannt): „Ja, wirklich. Trottel, setz di nieder – sein Lieblingsspruch, wenn einer was nicht kann oder nicht verstanden hat. Ich zum Beispiel. Na ja, ich bin halt nicht so ein Genie wie ihr zwei.“
Und Hansi: „Geh, hör auf. Zu mir sagt er das ja auch oft genug. Und nur, weil der Stachius so schiach zu uns ist, sind wir noch lang keine Trotteln.“
Und ich: „Na, hoffentlich verrät er mich nicht an meinen Stiefvater. Ihr wisst ja, der arbeitet im Stift als Buchhalter.“
Bald danach kamen wir am Rathaus mit dem Melker Gendarmerieposten vorbei. Und da erinnerten wir uns wieder an unsere grausige Entdeckung. Sollten wir hier nicht haltmachen und den Leichenfund melden? Andererseits, was war wohl dringender: das Melden eines Leichenfundes oder das Trockenlegen eines Lausbuben, der bei Minusgraden nähere Bekanntschaft mit dem eisigen Wasser gemacht hat? So überlegten wir ein kleines Weilchen hin und her. Ich war dafür, gleich zur Gendarmerie zu gehen. Die Nässe war nicht so schlimm. Weit größer war meine Angst, die Mutti könnte mein Missgeschick entdecken.
Den Ausschlag gab Hansis Argumentation: „Du, Schurli“ (so nannte man mich damals allgemein statt mit meinem richtigen Namen Georg; nur der Stiefvater nannte mich Schurl) „pass auf, die Meldung ist nicht so dringend. Der Tote ist, so wie’s ausschaut, eh schon ziemlich tot und kann garantiert nicht mehr zum Leben erweckt werden wie der Lazarus oder der gekreuzigte Jesus. Wichtig ist im Moment nur das eine, dass du nicht krank wirst. Sonst bist du wirklich auch bald tot. Und die Auferstehung von den Toten am dritten Tag kannst du dir gleich abschminken.“
„Aber meine Mutter ...“
„Glaubst du nicht, dass deine Mutter mit einem toten Schurli noch weniger Freude hätte als mit einem, der in nassen Klamotten heimkommt? Außerdem werden wir dich begleiten.“
Und so geschah es. Hansi und Wuki begleiteten mich zu mir nach Hause. Und es gelang mir, mich durch die tagsüber stets unversperrte Haustür ins Haus und an der Küche, dem gewöhnlichen Aufenthaltsraum, vorbei ins leider wie üblich ungeheizte Wohnzimmer zu schleichen, wo nicht nur mein Bett stand, sondern auch der Wäsche- und Kleiderschrank. Und während Hansi und Wuki meine Mutter in der warmen Küche besuchten und mit harmlosen Erzählungen unterhielten, vertauschte ich das nasse Zeug eilends mit trockenem Gewand, ehe ich mich selbst in die Höhle des Löwen, nein, der Löwin wagte.
Übrigens, zu meiner eigenen Überraschung gelang es mir, dieses Missgeschick vor den mütterlichen Augen geheim zu halten. Und ich wurde nicht einmal krank.
Die Gendarmen machten, wie man sich leicht denken kann, große Augen, als wir zu dritt vor ihnen aufkreuzten und ihnen berichteten, was wir entdeckt hatten, und schienen uns zunächst gar nicht zu glauben. Melk sei doch so ein friedliches Nest. Da gebe es doch keine Verbrecher, geschweige denn Mörder. Doch da wir auf unserer Schilderung beharrten, erklärten sich schließlich zwei von ihnen bereit, sich von uns zu dem mysteriösen Leichenfund führen zu lassen, und machten sich in unserem Schlepptau auf den Weg, nicht ohne ab und zu über die weite Hatscherei zu jammern. Denn natürlich war der Fundort nur zu Fuß erreichbar. Dort angelangt, glaubten sie uns endlich und waren zunächst einmal ebenso starr vor Entsetzen, wie wir es gewesen waren. Denn obwohl die Stelle, wo ich eingebrochen war, inzwischen wieder von einer dünnen Eisschicht bedeckt war, war infolge des Fehlens der Schneeschicht an dieser Stelle die im Wasser liegende Leiche noch immer klar zu erkennen. Schließlich zückte der eine Gendarm ein Funkgerät und sprach, sichtlich aufgeregt, hinein. Ich glaubte zu verstehen, dass er Verstärkung anforderte. Fragen konnten wir aber nicht mehr, denn der andere Beamte schickte uns unverzüglich heim.
Hansi, Wuki und ich waren damals knapp vierzehn Jahre alt und Quartaner im Melker Stiftsgymnasium, das heißt, wir gingen alle drei in die vierte Klasse. Dafür war (und ist noch heute) Schulgeld zu bezahlen (während der Schulbesuch an staatlichen Schulen seit 1962 grundsätzlich unentgeltlich ist). Für die Eltern meiner zwei Freunde war das kein Problem. Ihre Väter waren beide Ärzte, Wukis Vater Zahnarzt und Hansis Vater Allgemeinmediziner. Hingegen wäre mir der Besuch des Gymnasiums um ein Haar verwehrt gewesen.
Mein Vater war im Krieg gefallen, und jetzt gab es halt, wie bereits erwähnt, einen Stiefvater. Und der war zwar anfangs ganz nett zu mir gewesen. Anders wurde das erst, seit ich mich über ein süßes Halbbrüderlein namens Franzi freuen durfte. Seither bemühte er sich, der Bezeichnung „Stiefvater“ alle Ehre zu machen. Zu Muttis Leidwesen war ich ein „schlechter Esser“ und infolgedessen zaundürr, sprich, extrem mager. Und das nahm er, um ein harmloseres Beispiel zu nennen, zum Anlass, mich „Gandhi“ zu nennen und sich in einem fort über meine „Hühnerbrust“ lustig zu machen. Schon weniger harmlos klang in meinen Ohren seine Behauptung, mich könne man nicht einmal als Schlachtvieh verkaufen, an mir sei ja „nichts dran“. Dachte er etwa gar daran, mich abzustechen wie ein Schlachtvieh? Fühlte er sich jetzt auf einmal als der große Löwe? Ein Löwenmännchen, das ein Rudel übernimmt, beißt ja bekanntlich die Jungen des früheren Rudelführers tot. Haben wir in Naturgeschichte gelernt. (Heute nennt sich das Fach Biologie.)
Na gut, totgebissen hatte er mich, jedenfalls bisher, zum Glück noch nicht. Vielleicht hatte er mehr Respekt vor meiner Mutter als ein Löwenmännchen vor seinem Löwenweibchen. Meine Mutter war nämlich eine eher resolute Person und „hielt mir unverzagt die Stange“; so nannte sie es. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb verhielt er sich mir gegenüber nicht gerade väterlich (um es höflich auszudrücken), außer wenn er vor fremden Leuten zu beweisen versuchte, was für ein liebevoller Vater er doch sei, eine Doppelzüngigkeit, die ich stets aus tiefstem Herzen verabscheute.
Nicht anders, glaube ich, empfand es die Mutti. Übrigens kam es immer wieder vor, dass sie, wenn er nicht zu Hause war, vor mir unverhofft in Tränen ausbrach und mir vorjammerte, um wie viel schöner, lustiger und angenehmer doch das Leben mit meinem richtigen Vater gewesen sei.
Um aber wieder zum Thema Schulgeld zurückzukehren. Der Stiefvater verdiente als Buchhalter im Stift Melk (angeblich) herzlich wenig und war strikt dagegen, dass für mich auch noch Geld in höhere Bildung investiert werden sollte.
„Was braucht der Bub ins Gymnasium gehen?“ So seine Argumentation.
Meine Mutter fand zum Glück eine salomonische Lösung: „Der Bub ist ja musikalisch und hat eine schöne Stimme. Da soll er doch zu den Sängerknaben gehen und uns so das Schuldgeld ersparen.“
Sie meinte natürlich nicht die berühmten Wiener Sängerknaben, sondern den Knabenchor, der den Patres in der Melker Stiftskirche die Gottesdienste verschönerte. Im Übrigen lernte ich zum Glück leicht und, ehrlich gesagt, auch gern, weil mich alle Fächer maßlos interessierten (zumindest bisher; in den höheren Klassen sollte das noch anders werden). Dadurch erwies ich mich rasch als halbwegs guter Schüler und gab dem Stiefvater wenig Veranlassung, mich wieder aus dem Gymnasium zu nehmen. Und der Mutti bereitete ich dadurch nur wenig Kummer, zumindest mit meinen schulischen Leistungen. Kummer bereitete ich ihr höchstens durch mein sogenanntes Betragen in der Schule. Durch besondere „Bravheit“ fiel ich nämlich bei Gott nicht auf, und unsere Lehrer hatten immer wieder Anlass, mich zu rügen. Heute noch habe ich den ständigen Ausruf unseres Geographieprofessors Pater Benedikt im Ohr: „Aber Meisl, so sei doch endlich still!“
Solche Rügen gingen mir beim einen Ohr hinein und beim anderen heraus. Weniger angenehm war es da schon, wenn sie glaubten, sich über mich beschweren zu müssen. Denn bei wem beschwerten sie sich da im Normalfall? Natürlich beim Stiefvater. Den hatten sie ja im Stift gleich zur Hand.
Apropos Geld. Der Begriff Taschengeld war damals für mich ein absolutes Fremdwort. Ein paar Groschen, etwa für ein Eis, hatte ich nur dann in der Tasche, wenn ich zum Beispiel im Stiftspark, der reich an Kastanienbäumen ist, Kastanien für die Jägerschaft sammelte, die sie für die Winterfütterung der Wildtiere brauchen konnte. Doch unterdessen hatte ich eine weitaus lohnendere Einnahmequelle entdeckt: Nachhilfe.
Mein Schulerfolg schien sich herumgesprochen zu haben. Und die Folge war, dass ich jüngeren und manchmal sogar gleichaltrigen Schülern und Schülerinnen den unverstandenen oder versäumten Lernstoff erklären und einbläuen durfte. Dafür erhielt ich pro Stunde den „Wahnsinnsbetrag“ von 5 Schilling. Das wären heute zirka 35 Cent. Aber damals bekam man dafür immerhin schon eine Tafel Schokolade.
Einer meiner ersten Nachhilfeschüler war Otto, der Sohn des Bezirkshauptmanns. Er wohnte mit Eltern und großer Schwester in der BH. So nannte der Volksmund das Gebäude der Bezirkshauptmannschaft, und dieses war nur wenige Schritte von meinem eigenen Domizil entfernt.
Otto hatte mir übrigens einmal einen leichten Schock versetzt. Das geschah geraume Zeit vor dem vorhin erwähnten Abenteuer in der winterlichen Au. Wir plauderten gerade über meine ausgeprägte Lust am Radfahren. Und da erklärte er im Brustton der Überzeugung, sein Vater besitze ja ein Auto. Wozu brauche er da ein Fahrrad? Außerdem sei Radfahren sowieso unter seinem Niveau – was immer er damit meinte. Wahrscheinlich, dass die Leute dann glauben könnten, er habe so etwas nötig.
Nun, ich hatte es nötig. In unserer Familie gab es kein Auto. Radfahren war folglich für mich die einzige Möglichkeit, mich schneller als zu Fuß fortzubewegen, außer in der Eisenbahn. Aber es bereitete mir eben unheimlichen Spaß. Und dass es ihm keinen Spaß bereiten sollte, war mir ein echtes Rätsel. Ich dachte mir halt, es hängt mit seiner unübersehbaren Bequemlichkeit, oder sagen wir besser, Faulheit zusammen. Nachhilfe hatte er nämlich genaugenommen gar nicht nötig. Er hätte einfach fleißiger lernen oder auch nur im Unterricht besser aufpassen müssen. Aber für seinen Vater, den Herrn Bezirkshauptmann, war es wohl ein Klacks, ihm Nachhilfe geben zu lassen, noch dazu zu einem solchen Dumpingpreis.
Ein verwirrendes Erlebnis hatte ich auch mit Ottos großer Schwester. Ich läutete an, ließ mich vom Dienstmädchen ins Wohnzimmer, den gewohnten Ort der Nachhilfestunden, führen, und wartete auf Otto. Die Tür ging auf, und herein kam nicht Otto, sondern seine unglaublich hübsche Schwester. Sie grüßte höflich, setzte sich neben mich und schaute mich schweigend an. Ich schaute sie schweigend an und dachte zuerst: Was will sie denn von mir? und dann: Will sie was von mir? Ich sollte vermutlich etwas sagen, charmante Dinge von mir geben, einen Balzgesang anstimmen, Balztänze aufführen, wie? Aber dafür war ich damals noch viel zu schüchtern. Zusätzlich eingeschüchtert fühlte ich mich durch ihre strahlende Schönheit. Nein, Balzgesang wollte mir keiner über die Lippen kommen. Mir fiel einfach nichts zu sagen ein. Ich schaute sie nur schweigend an. Sie schaute mich schweigend an. Nach endlosen Minuten gab sie einen leisen Seufzer von sich, stand auf, verabschiedete sich sehr höflich und verschwand. Und ich hätte mir in den Hintern beißen können, dass ich eine solche Gelegenheit, mir eine hübsche Freundin aufzureißen, nicht beim Schopf gepackt hatte. Denn was sonst hatte Schwesterlein wohl beabsichtigt, als mit mir anzubandeln? Offenbar gefiel ich ihr, obwohl ich für sie natürlich viel zu jung war.
Kurz darauf ging die Tür wieder auf, und Otto trat schmunzelnd ein, enthielt sich aber, Gott sei Dank, jedes Kommentars.
Doch zu meinem Glück war unter meinen ersten Nachhilfeschülern ein entzückendes blondes Mädchen ungefähr meines Alters. Sie hieß Ursula, wurde allgemein Uschi genannt und wohnte in einer schönen Villa nahe der Auffahrt zum Stift, besuchte aber nicht das so nahe gelegene Stiftsgymnasium, denn dort wurden damals noch ausschließlich Knaben aufgenommen, sondern das Mädchengymnasium der Englischen Fräulein in Sankt Pölten, wohin sie täglich mit dem Zug fahren musste. Sie hatte keine Geschwister und schien mich daher, je länger, umso mehr, fast wie einen großen Bruder zu betrachten, den sie gern haben, zu dem sie aufblicken, dem sie ihre Geheimnisse anvertrauen konnte. Und eines ihrer Geheimnisse lautete: Sie habe absichtlich wenig gelernt und schlechte Noten heimgebracht, damit sie mich als Nachhilfelehrer bekomme; Onkel Bernhard erfülle ihr jeden Wunsch. (Aha, sagte ich mir im Stillen nicht ohne Selbstgefälligkeit, ihr gefalle ich offenbar auch.)
„Ah“, warf ich ein, „der Herr Sedlacek ist gar nicht dein Vater?“
„Nein. Mein Onkel.“
„Und die alte Dame? Ist die wenigstens deine Mutter?“ (Alt: Was eben ein noch nicht einmal Vierzehnjähriger als alt empfindet.)
„Aber nein. Das ist nur unsere Haushälterin. Weißt du, meine Eltern sind während dem Krieg gestorben. Aber da war ich ja selber noch klein.“
„Ach, du armes Kind! Da bist du ja eine Vollwaise, wie? Siehst du, ich bin nur Halbwaise. Mein Vater ist im Krieg gefallen.“
„Aha, da weißt du wenigstens, wie und wo er gestorben ist. Wie und wo oder auch warum meine Eltern gestorben sind, weiß ich nicht, und der Onkel, der es eigentlich wissen müsste, weigert sich, mir Genaueres mitzuteilen. Er beteuert immer wieder nur, er wisse es auch nicht. Aber das glaube ich ihm einfach nicht.“
„Aber so wie ich es sehe, ist er doch sehr nett zu dir, wie ein richtiger Vater. Oder täusche ich mich da?“
„Nein, nein. Naja, streng ist er schon. Manchmal viel zu streng. Aber sonst ...“
„Ist er immer sehr lieb zu dir?“
„Ja, ja. Furchtbar lieb. Wie lieb, kann ich dir gar nicht sagen.“
„Nein? Wieso kannst du mir das nicht sagen?“
Uschi wurde plötzlich rot wie eine reife Tomate, schüttelte heftig den Kopf und fuhr fort, ohne meine Zwischenfrage zu beantworten: „Und er ist halt furchtbar besorgt um mich und meine schulischen Erfolge. Aber ich darf nicht undankbar sein. Ich muss froh sein, dass ich ihn überhaupt habe. Sagt er selber. Andernfalls, sagt er mir ständig vor, wäre ich in einem Kinderheim. Und da hätte ich’s nicht halb so schön wie bei ihm.“
Dass ihr Onkel Bernhard „furchtbar lieb“, also ein netter Mensch war, konnte ich übrigens bestätigen (obwohl ich nicht hätte beschwören wollen, dass seine Nettigkeit immer echt war). Er ging sogar so weit, mir persönliche Geheimnisse anzuvertrauen. Nicht, woran oder wodurch Uschis Eltern gestorben sind. Das nicht. Aber zum Beispiel, und das fand ich doch bemerkenswert, dass er in der Nazizeit bei der SS gewesen sei und sich heute noch als Nationalsozialist fühle. Bemerkenswert, ja. Aber (für mich damals) nicht weiter schlimm. Weder ehrenrührig noch verachtenswert. Was die menschenverachtende Politik des NS-Staates und die Gräueltaten der SS betrifft, war ich damals noch völlig ahnungslos. Und ich glaube, das gilt für alle meine Altersgenossen. Niemand hatte uns je aufgeklärt, auch keiner unserer Lehrer, nicht einmal der Mopsl alias Doktor Sonnenbichler, unser Geschichtsprofessor. Alle bewahrten sie darüber totales Stillschweigen, als drohe ihnen andernfalls die Todesstrafe. Warum eigentlich? Das ist mir heute noch ein Rätsel.
Ein kleiner Einblick in eine solche mir damals noch unbekannte Denkweise wurde uns, Wuki, Hansi und mir, erst nach unserer grauenvollen Entdeckung in der Au geboten.
So sehr hatte sie uns verstört, dass unser Gefühlsleben noch lange nicht zur Ruhe kam. Noch lange war es uns ein dringendes Bedürfnis, mit jedem, der uns sein Ohr lieh, darüber zu reden, egal, ob der Betreffende davon schon wusste oder nicht. Und so schüttete ich bei Gelegenheit auch Uschi und ihrem Ziehvater mein Herz aus. Wie jedes Mal schloss ich auch diesmal mit der bangen Frage: „Wer macht denn so was?“
Und siehe da, Onkel Bernhard wusste sofort die Antwort: „Na, die Zigeuner, wer sonst.“
„Sie meinen, die Zigeuner, die erst kürzlich in der Au ...?“
„Aber sicher. Du weißt doch, die Zigeuner neigen von Natur aus zur Kriminalität. Wie den primitiven Urmenschen fehlen ihnen die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum und fremdem Leben.“
Tatsächlich hatte sich eine Zeitlang eine Gruppe von Sinti und Roma mit ihren Wohnwagen auf einer Lichtung am Rand der Melker Donauauen, nicht weit vom Tatort entfernt, aufgehalten und waren erst kürzlich weitergezogen.
Sollten wirklich sie diesen Mord begangen haben? Oder einer von ihnen? Mit dieser Frage quälten wir uns von nun an so lange herum, bis wir uns ein Herz nahmen und uns gemeinsam abermals zur Gendarmerie wagten, um zu fragen, ob der Mörder des Toten in der Au eigentlich schon gefasst sei. Darüber hatten der Rundfunk und die Presse nämlich noch nichts berichtet. Bekannt war bisher nur geworden, dass das Mordopfer
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Karl Plepelits
Cover: Stift Melk, vom Donauarm aus gesehen (Teleaufnahme). Von Uoaei1 - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=68653945
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3550-1
Alle Rechte vorbehalten