„Hurra, der Çilli-Pass ist erreicht! Es geht wieder Richtung Heimat. Bisher ist alles gut gegangen. Macht euch keine unnötigen Sorgen. Bussi, Serge und Hugo.“
Diese SMS erhielten wir am 25. Juli 2008 von Hugo, unserem Sohn, und Serge, unserem aus Genf stammenden Schwiegersohn. Sie waren mitsamt ihren Wunderrädern, so nannten sie sie, nach Izmir geflogen und hatten auf ihnen die ganze Türkei von West nach Ost durchquert. Nun waren sie also am Wendepunkt ihrer Radreise angelangt. Und das war laut ihrem Reiseprogramm der 2110 Meter hohe Çilli-Pass am Westfuß des Ararat, des mit 5137 Metern höchsten Berges der Türkei.
Doch wie sich nur zu bald herausstellte, hatten wir, meine Frau und ich, bald sehr wohl Anlass, uns Sorgen zu machen. Und die waren alles andere als unnötig. Bisher hatten sie sich alle paar Tage gemeldet. Auf diese SMS folgte langes, lähmendes Schweigen. Was war passiert?
Auf die Antwort mussten wir lange warten.
Wie gesagt, die Passhöhe hatten sie erreicht. Ganz klar, dass sie, verschwitzt, wie sie waren, haltmachten, um ein wenig auszuruhen und sich umzuschauen. Der Gipfel war hinter einer Wolkenbank nur bruchstückhaft zu erkennen. Die Passhöhe selbst war ausgesprochen flach. Kahle, steppenartige, sanft ansteigende Hänge zu beiden Seiten der Straße. Keine Bäume, keine Sträucher, keine Blümlein. Abgesehen von vertrocknetem, grau-braunem, kümmerlichem Gras wurzelt, wächst, blüht im Sommer hier anscheinend nichts.
Das war doch direkt eine Einladung, hier ein bisschen herumzuspazieren. Noch dazu, wo in geringer Entfernung von der Straße eine aus schneeweißen Zelten bestehende Nomadensiedlung dazu verlockte, sie sich von der Nähe anzuschauen. Menschen waren keine zu sehen, nur weiße und schwarze Schafe.
Und da packte sie die Lust, einfach weiter himmelwärts zu steigen. Es war der pure Genuss, zumal die Aussicht mit jedem Schritt phantastischer und der von keinem Wald verstellte Blick zum Gipfel immer traumhafter wurde. Greifbar nahe schien seine weiße Haube.
Nur zu gerne wären sie bis dorthin emporgestapft, hätten sie nur genug Zeit und dazu die entsprechende Ausrüstung gehabt, zum Beispiel Bergschuhe, eine wärmende Jacke und eine lange Hose. Aber da wie üblich die Sonne von einem wolkenlosen Himmel brannte, hatten sie lediglich ein kurzärmeliges Hemd und eine kurze Hose an. Mitgenommen hatten sie zur Sicherheit nur ihre Pässe, obwohl dies wohl das Letzte war, was sie in dieser menschenleeren Bergregion brauchen würden. Nicht mitgenommen hatten sie leider etwas zu essen und zu trinken.
Irgendwann wurde es jedenfalls Zeit, an die Rückkehr zu denken, sogar wenn sie sich entschlossen hätten, auf der Passhöhe ihr Zelt aufzubauen und darin zu übernachten. Aber in dieser Höhe wären sie vermutlich glatt erfroren. Aber zuvor ließen sie sich auf den sonnenwarmen Boden nieder und erholten sich von den Mühen des Aufstiegs. Zugleich genossen sie die warmen Sonnenstrahlen. Jetzt erst im Sitzen spürten sie den scharfen, eisigen Wind.
Sie wollten sich gerade aufraffen, um zu ihren Rädern abzusteigen, da erstarrten sie vor Schreck. Wie vom Himmel gefallen oder aus dem Boden gewachsen, stand völlig unverhofft ein Mannsbild vor ihnen. Ein Mannsbild in olivgrüner Uniform. Über seiner Schulter baumelte ein gefährlich aussehendes Schießeisen. Vermutlich eine Kalaschnikow. Mit ausdrucksloser Miene glotzte er sie an. Wie in Schockstarre glotzten sie ihn an, statt sich auf der Stelle aus dem Staub zu machen.
Er sprach sie an, übrigens gar nicht unfreundlich, zuerst auf Türkisch, und als sie nur mit der Schulter zuckten, weil sie nichts verstanden, in schwer verständlichem Englisch. Höflich ersuchte er sie, ihre Reisepässe sehen zu dürfen.
Nun, die hatten sie ja eingesteckt. Nur, wozu braucht man in dieser Bergeseinsamkeit einen Reisepass? Sollten sie ihm sagen, er möge fuck off, oder wie das auf Türkisch heißt? Aber da hatten sie angesichts des Schießeisens Hemmungen. Also zeigten sie ihm brav ihre Pässe. Er blätterte sie durch, nickte und murmelte etwas daher, was so ähnlich klang wie „Austrialu“ und „I Schwyzerli“, so als würde er selber Schwyzerdütsch sprechen und Serge „ein Schweizerlein“ nennen.
Die Pässe gab er ihnen wieder zurück. Doch zugleich machte er eine nachdrückliche Kopfbewegung, die wohl bedeuten sollte: Mitkommen, aber dalli!
Na, dazu hatten sie weder Lust noch vor allem die Zeit. Sie sagten: „Güle güle!“; so viel Türkisch konnten sie schon. Es bedeutet: Auf Wiedersehen. Gleichzeitig erhoben sie sich von ihrem Hinterteil und machten Anstalten, das zu tun, was sie sofort hätten tun sollen, nämlich, sich eilig aus dem Staub zu machen.
Aber nun ergoss sich ein wilder, bedrohlicher Wortschwall über sie. Das allein hätte sie wohl nicht zurückgehalten. Doch zugleich richtete der Kerl sein Schießgewehr auf sie. Dies war nun ein absolut überzeugendes Argument. Und der Erfolg war, dass sie sich widerstandslos von ihm bergwärts treiben ließen.
Die Sonne stand schon verdächtig niedrig, als vor ihnen ein weiteres Zeltlager auftauchte. Darin konnten sie einige Mannsbilder erkennen, die ihnen durch Ferngläser entgegenblickten. Sie trugen alle dieselbe olivgrüne Uniform wie der verfluchte Kerl hinter ihnen. Sie sahen sogar Frauen, darunter junge, fast Kinder noch, genauso kostümiert wie die Männer.
Einer mit irgendwelchen Rangabzeichen auf Schulter und Brust begrüßte sie freundlich und sogar in halbwegs verständlichem Englisch als „Ehrengäste der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans“. Deren Ziel sei die Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates oder zumindest eines demokratischen autonomen Kurdistan innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen.
„Dafür kämpfen wir. Aber der türkische Staat versucht uns mit militärischer Gewalt auszulöschen.“
Und weiter: „Für eure Freilassung gibt es zwei Bedingungen: Erstens, die türkische Regierung muss ihren bewaffneten Kampf gegen die Kurden einstellen. Und zweitens, die deutsche Regierung muss ihre feindliche Politik gegenüber der PKK und dem kurdischen Volk beenden. Sobald das geschehen ist, werden Sie in die Freiheit entlassen.“
Na, das sind ja tolle Aussichten, dürften sich Hugo und Serge gedacht haben. Und: Was pflegt denn mit Geiseln zu geschehen, falls die Bedingungen der Geiselnehmer nicht erfüllt werden?
Nur, was konnten sie, was sollten sie dagegen tun?
Also schwiegen sie lieber und warteten, was als Nächstes geschehen sollte. Hoffentlich zunächst einmal etwas, was Hunger und Durst und, bitte schön, auch die zunehmende Kälte bekämpft.
Na also, da erschien ja eine der Uniformträgerinnen vor ihnen und drückte ihnen Fladenbrote in die Hand. Sonst nichts? Nein, sonst nichts. Aber gut, wie sagt der Volksmund? Dem hungrigen Bauch schmeckt alles gut. Zu trinken gab es allerdings nur ein Glas, genauer, ein Gläschen Çay, leider schon kalt.
Danach ließ man sie weitgehend unbeachtet, allerdings nicht unbewacht. Wohin sie sich auch wandten, immer waren sie umringt von vier unentwegt rauchenden Mannsbildern. Denn natürlich hielten sie ständig nach einer eventuellen Fluchtmöglichkeit Ausschau. Zugleich trieb sie die Sorge um, wie und wo sie wohl die Nacht verbringen würden. Und ob sie sie in dieser Höhe in so einem Zelt überhaupt lebend überstehen würden. Na gut, sagten sie sich, die Banditen, pardon, ihre edlen Gastgeber haben die Kälte bisher ja allem Anschein nach auch lebend überstanden, sogar die Weibsbilder unter ihnen.
„Oder“, so Hugo mit bitterem Lachen, „vielleicht haben wir Glück im Unglück, und die Sonne geht heute gar nicht unter, sondern kehrt um, damit wir nicht so frieren müssen?“
Aber nein, die Sonne ging gnadenlos unter. Und sofort machte sich Eiseskälte breit, und das bei scharfem Wind. Und sie waren natürlich nur für einen kleinen Spaziergang in der Tageshitze bekleidet – in der Tageshitze unter der prallen Sonne. Und die ist auf den Bergen bekanntlich doppelt so heiß, auch etwa im Winter. Das wissen alle Skifahrer, die sich jemals auf der Terrasse einer Skihütte in der Sonne geaalt haben.
Jetzt wurden die vier Wachhunde plötzlich aktiv und trieben sie mit roher Gewalt zu einer bestimmten Stelle abseits des Zeltlagers. Wollten sie sie jetzt schon liquidieren, weil nicht zu erwarten war, dass die Bedingungen der PKK jemals erfüllt werden? Im Übrigen roch es hier höchst merkwürdig, um nicht zu sagen, abscheulich. Riechen Exekutionsplätze immer so?
Nein, warum es hier so stank, und wozu man sie hierher getrieben hatte, wurde alsbald klar. Drei der Banditen stellten sich in einer schönen Reihe nebeneinander auf, öffneten ihre Hosentürln und förderten das Wachstum der kümmerlichen Gebirgsflora, indem sie einträchtig die ausgetrocknete Grasnarbe bewässerten. Dem Vierten war das anscheinend nicht genug. Er marschierte noch ein paar Schritte weiter. Und dort hockte er sich mit hinuntergezogenen Hosen hin. Und was er dort trieb, war in der Dunkelheit zwar nicht zu sehen, aber dafür umso deutlicher zu riechen.
Übrigens lechzte auch die Blase unserer zwei Helden schon längst danach, geleert zu werden. Die Erleichterung, die daraufhin eintrat, war also doppelter Natur, denn jetzt wussten sie, dass sie noch ein Weilchen weiterleben durften.
Na, und waschen kann man sich hier nicht?
O ja, konnte man. Denn als Nächstes zeigten sie ihnen noch das vollbiologische, sprich, naturbelassene Bad der Banditen: ein rauschendes Bächlein. An einer bestimmten Stelle war es durch Steine aufgestaut, so wie es Kinder oft zum Vergnügen praktizieren.
Aha, das war also das Bad der Banditen, komplett mit Kalt- und Warmwasser? Nein, das mit dem Warmwasser war natürlich nur ein Wunschtraum. Und das Kaltwasser war genauso kalt, wie man es sich in einer solchen Höhe erwarten würde. Das wussten auch die Banditen. Sie hatten offensichtlich mit einem solchen Kaltbad nichts am Hut. Sie steckten nicht einmal den kleinen Finger hinein, sondern warteten nur darauf, dass sich ihre Ehrengäste entkleiden und sich unverzagt ins eiskalte Wasser stürzen, wohlgemerkt, bei scharfem, eisigem Wind. Nein, das taten sie natürlich nicht. Sie machten ein bisschen Katzenwäsche, und fertig. Und das war schlimm genug.
Als Nächstes wurden sie zurück in Richtung Zeltlager getrieben, aber, wie sich herausstellte, nur bis zu einer Felswand an dessen Rand. Davor erhob sich ein langer Steinwall. Zwischen diesem und der Felswand war eine ebenso lange Plastikfolie gespannt.
Und wie? Da hinein? Im Ernst?
„Sleep?“, fragte Serge entgeistert.
„Sleep“, antwortete einer der Banditen.
„Bed?“, fragte Hugo.
„No bed“, lautete die Antwort.
Unter der Plastikfolie lagen Decken verstreut. Und hier sollten sie sich hinlegen und so die ganze Nacht verbringen? War das eine neuartige Methode, Geiseln zu liquidieren?
Zum Glück, falls man das überhaupt als Glück bezeichnen kann, hatten sie zwei Decken zur Verfügung, eine als Unterlage über dem rauen Erdboden und eine, wohlgemerkt, eine einzige, um sich zu zweit damit zuzudecken.
Ja, was tut man nicht alles, wenn es keine Alternative gibt?
Übrigens erging es ihren Zerberussen auch nicht besser. Sie mussten die Nacht rund um Hugo und Serge mitsamt ihren Kalaschnikows auf die gleiche Weise verbringen – eine höchst unerquickliche Situation, übrigens nicht allein wegen deren Anwesenheit als solcher, sondern auch deshalb, weil sie abscheulich gestunken haben. Klar, wenn man sich wochen- oder gar monatelang nicht wäscht … Und als hätte ihr Körpergestank nicht gereicht, qualmten sie hemmungs- und rücksichtslos ihre winzige Schlafstätte voll.
Nun gut, der Mensch kann sich offenbar an alles gewöhnen, sogar an den ärgsten Gestank. Nur an eines nicht: die Eiseskälte. Aber die drang unentwegt durch die Fugen des Steinwalls und auch von oben durch die dünne Plastikfolie ein. Wie soll man da schlafen können? Hugo und Serge konnten es nicht. Vielleicht, dass es ihnen ab und zu gelang, ein wenig einzudösen, nur um kurz danach zitternd und zähneklappernd wieder aufzuwachen und weiterzuleiden und auf die erlösenden Strahlen der Morgensonne zu warten. Doch ihre Hoffnung, dass die Sonne jemals wieder aufgehen könnte, schwand, je länger die Finsternis und die Eiseskälte andauerte.
Doch siehe da, das nächtliche Dunkel hatte irgendwann ein Ende. Nicht aber die Eiseskälte. Denn als es aufstehen hieß, merkten sie, dass der Boden hart gefroren war. Und was war mit den erlösenden Sonnenstrahlen? Auf die mussten die Armen noch lange warten. Sie befanden sich ja auf der Westseite des Ararat.
Ja, es war ein Horror. Wer hätte gedacht, dass sich dieser Horror noch steigern ließ? Dazu kam es aber erst in der übernächsten Nacht. Da entfesselte der kurdische Wettergott über dem Ararat ein heftiges Gewitter. Von seinen Blitzen blieb das Zeltlager zwar verschont. Nicht aber von dem dazugehörigen Wolkenbruch. Und da zeigte es sich, dass die Plastikfolie, die Hugos und Serges Schlafgemach schützen sollte, undicht war. Nicht genug also mit der Eiseskälte, unter der sie litten, wurden sie zu allem Überfluss noch nass von Kopf bis Fuß.
Und noch immer war der Horror steigerungsfähig. In der vierten Nacht überfiel sie alle beide etwas Unaussprechliches: Diarrhö, vulgo Flitzeritis, Dünnpfiff, Durchfall. Unbeschreiblich die Tortur, der sie dadurch ausgesetzt waren. Es war die Hölle. Diese Horrornacht wiederholte sich so oft, dass Hugo und Serge die Horrornächte nicht mehr zählen konnten. Und obwohl sie fast nichts zu essen und zu trinken bekamen, wollte besagter Horror nicht und nicht weichen.
Eines Abends, da waren bestimmt schon drei Wochen vergangen, und unsere zwei Helden konnten sich kaum mehr aufrecht halten, so geschwächt waren sie mittlerweile, da durften sie sich überhaupt nicht mehr niederlegen. Aber auch alle anderen blieben auf. Und mit Einbruch der Dunkelheit rotteten sie sich zusammen und marschierten ab, natürlich mit Hugo und Serge in ihrer Mitte, damit sie ja nicht auf dumme Gedanken kommen. Stockfinster war es übrigens nicht. Ihren Weg erleuchtete ihnen der fast noch volle Mond.
Wohin ging die Reise überhaupt? Das verriet ihnen natürlich keiner. Sie wussten nur: Es geht ostwärts. Das konnten sie am Mond ablesen. Und es geht ständig bergauf. Sie mussten sich sehr zusammennehmen, um nicht zusammenzuklappen und ohnmächtig liegen zu bleiben.
So erreichten sie schließlich eine weitere Zeltsiedlung. Hier bekamen sie ein richtiges Zelt zum Schlafen, freilich abermals mit stinkender und qualmender Bewachung inklusive Kalaschnikows. Und mit derselben, nein, noch schlimmerer Eiseskälte. Aber wie der nächste Morgen zeigte, befanden sie sich jetzt wenigstens auf der Ostseite des Ararat. Und das bedeutete: Die erlösenden Strahlen der Morgensonne erlösten sie rasch aus dieser Misere. Dafür allerdings begann die abendliche Leidenszeit deutlich früher als bisher. Denn jetzt verabschiedete sich die Sonne viel zu früh hinter dem Berg.
Hinzu kam hier allerdings ein weiterer Horror. Fast jede Nacht wurden die Schläfer jetzt durch ohrenbetäubende Explosionen terrorisiert. Was war da los? Nach und nach erfuhren Hugo und Serge die Ursache: Das türkische Militär mache sich einen Spaß daraus, die kurdischen Aufständischen mit Granaten zu beschießen. Es war reines Glück, dass das Kurdenlager nicht getroffen wurde. Da war die Erleichterung groß, dass die von der Verdauung ausgelösten einsamen nächtlichen Wanderungen mittlerweile nicht mehr unbedingt nötig waren.
Kein Wunder, dass die Banditen unter diesen Umständen eine weitere nächtliche Wanderung ins Auge fassten. Damit war jedoch für Hugo und Serge die Grenze des gerade noch Erträglichen erreicht. Sie begannen zu überlegen, wie sie sich all diesen Schrecknissen entziehen könnten. Außerdem saß ihnen, von Tag zu Tag stärker, die Angst vor dem sicheren Tod im Nacken.
Und so entschlossen sie sich schließlich zu türmen. Waren sie denn nicht immer und überall „kooperativ“ gewesen? Hatten sie jemals aufbegehrt, sich beklagt? Hatten sie jemals einen Ausbruchversuch unternommen? Na also! Da müssten doch die Banditen mittlerweile schon ein gewisses Vertrauen zu ihnen gefasst haben, oder nicht?
Also würden sie nächtlicherweile so tun, als hätten sie einen Rückfall erlitten und müssten ganz plötzlich dringend aufs Klo, alle beide.
Gesagt, getan. Es war eine trockene und sternklare Nacht, und es gab keinen Granatenbeschuss. Sie weckten ihre Zerberusse, und streckten ihnen die Klopapierrolle entgegen, um anzudeuten, dass es für beide äußerst dringend sei, und riefen in kläglichem Ton: „Very urgent!“. Und beteten zu allen kurdischen Gottheiten, dass die nicht darauf bestehen würden, dass nur jeweils einer austreten dürfe. Tatsächlich zögerten die Wächter und glaubten ein kleines Weilchen miteinander beraten zu müssen. Aber schließlich nickten sie und gaben ihnen den Weg nach draußen frei.
Na, da schauten sie aber, dass sie fortkamen. Nahmen die Beine in die Hand und rannten, was das Zeug hergab. Sie rannten, als ginge es um ihr Leben. Und das tat es ja wirklich. Und obwohl sie schon so lange nichts Ordentliches mehr gegessen hatten und schrecklich Hunger und Durst litten und überdies vor Kälte ganz steif waren, besaßen sie erstaunlicherweise – sie mussten selber staunen – mit einem Mal eine unglaubliche Energie und waren im Nu so beweglich wie die berühmten Marathonläufer aus Kenia.
Gut, sie rannten natürlich bergab. Und trotz der nächtlichen Eiseskälte wurde ihnen auf einmal warm – und im weiteren Verlauf sogar so heiß, dass sie bald in Schweiß gebadet waren. Trotzdem liefen sie mit voller Konzentration, um nicht zu stolpern und sich zu verletzen. Dabei erleuchtete ihnen kein Mond den Weg. Nur die Myriaden Sterne spendeten ihnen ihr schwaches Licht.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie endlich den Talboden erreichten und auf eine vielbefahrene Straße stießen. Unbeschreiblich ihre Erleichterung. Doch fast noch größer waren Erschöpfung und Angst. Angst, die Terroristen könnten sie noch immer schnappen und an die Wand stellen. Angst, ein Autofahrer, der sie einsteigen lässt, könnte sich als einer von denen entpuppen.
Nein, Gott sei Lob und Dank, es war ein freundliches Ehepaar aus Griechenland. Und unsere zwei Helden waren gerettet.
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"Eine unterhaltsame Art an Informationen über die Türkei zu kommen. Wiedereinmal ein tolles Sachbuch in dem man immer weiter schmökern kann." (Bücher-Ecke)
Texte: Karl Plepelits
Cover: Von ender gürel - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=107044767
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2023
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