Weihnachtsmette in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 2007 in der Bergparzelle Laz in Nüziders nahe Bludenz, Vorarlberg. Im Hintergrund die Gebirgskette des Rätikons mit der Gemeinde Bürserberg.
Warum eigentlich nennt man Weihnachten das Fest der Liebe? Etwa, weil da die Menschen Geschenke austauschen, um irgendeiner vage gefühlten Pflicht zu genügen? Oder weil die Liebe innerhalb der Familien am Heiligen Abend aufblüht gleich einem Büschel Barbarazweige? (Dass vielfach das Gegenteil zutrifft, ist ja kein Geheimnis.) Warum aber dann?
Als ich noch ein holder Knabe im lockigen Haar war, vergnügte ich mich einmal am Nikolausabend – oder vielmehr versuchte ich mich damit zu vergnügen, als heiliger Nikolaus mit Bischofsmütze, Bischofsstab, weißem Rauschebart und einem Sack voller Früchte und Süßigkeiten durch die Straßen unserer Stadt zu ziehen, Familien mit kleinen Kindern zu besuchen und diese zu beschenken. Und dabei begleiteten mich mehrere Krampusse, schwangen die Rute und stießen gefährliche Laute aus, um den Kleinen den nötigen Respekt einzuflößen.
Unter diesen Familien war die eines seit Jahren heimlich von mir verehrten Mädchens. Es hieß Christl, war über alle Maßen schön und ging in eine Parallelklasse meiner Schule. Zu meinem Leidwesen war es mir noch nie gelungen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen – kein Wunder; ich war ja viel zu hässlich (dies antwortete mir zumindest das Spieglein an der Wand). Zudem war ich alles andere als ein Draufgänger. Als Heiliger hingegen, so sagte ich mir, könnte ich auf Christl vielleicht doch einigen Eindruck machen.
Nun, da besuchte ich also mit meinen wilden Gesellen Christls Familie und bedachte ihr Brüderchen mit Geschenken und salbungsvollen Worten und sie selbst mit sehnsuchtsvollen Blicken. Doch kaum waren wir wieder aus dem Haus getreten, trafen wir unversehens auf Konkurrenz und gerieten in eine höchst unangenehme Situation. Eine Horde wilder Teufel trieb auf der Straße ihr Unwesen, und soweit ich erkennen konnte, hatten sie nicht einmal einen Nikolaus bei sich. Sie begannen uns sofort zu belästigen und verfolgten uns bis in den nahen Stadtpark. Hatten wir jedoch gehofft, sie würden sich vor dessen Dunkelheit grauen, so erwies sich das als Irrtum. Gerade die Dunkelheit des einsamen und tief verschneiten Parks schien ihre Angriffslust ins Unermessliche zu steigern. Es dauerte nicht lange, da hatten sie uns umzingelt und gingen sogleich zum Angriff über, und es entbrannte eine heiße Schlacht zwischen den beiden höllischen Heerscharen, während ich nur erschüttert zuschauen konnte, wie sie gleich wild gewordenen Steinzeitkriegern mit ihren Ruten aufeinander losgingen.
Plötzlich fiel mir ein, dass ich ja in meinen Händen, zumindest im Vergleich zu den Ruten, eine regelrechte Wunderwaffe hielt. Also stürzte ich mich, meinen Bischofsstab schwingend, mitten ins Kampfgeschehen, ohne noch länger auf ein Vorweihnachtswunder zu warten. Und sogleich ging einer der feindlichen Teufel unter jammervollem Stöhnen zu Boden.
Seine Niederlage blieb jedoch nicht ungerächt. Mit barbarischem Geschrei stürzten sich die übrigen Feinde auf mich und hatten mir im Nu meine Wunderwaffe entrissen. Und nun begannen sie, genauer, nun begann einer von ihnen mit ihr auf uns einzudreschen. Meine eigenen Teufel konnte er auf diese Weise zwar nicht zur Strecke bringen, denn die nahmen wie die Dämonen bei einer Geisterbeschwörung augenblicklich Reißaus. Mich aber brachte er zur Strecke. Ich spürte einen dumpfen Schlag am Hinterkopf und sah sogleich die lieben Sternlein. Mir lösten sich (wie Homer sagen würde) auf der Stelle die Knie und das liebe Herz, und mir schwanden die Sinne.
Als ich wieder zu mir kam, dachte ich als Erstes, mir zerspringt der Schädel; so heftig schmerzte mich der Kopf. Gleichzeitig erschrak ich heftig über einen Entsetzensschrei. War das nicht Christls Stimme? Ich schlug die Augen auf und erkannte zu meinem Entzücken über mir Christls schemenhafte Gestalt. Sie schien vor mir zu hocken oder zu knien und machte ein Gesicht, als erlebte sie gerade den Weltuntergang. Dies erheiterte mich so sehr, dass ich trotz allem kichern musste. Doch ehe ich noch irgendetwas sagen konnte, sprach sie mich an; und ihre Stimme klang so erleichtert, wie wenn ich eben von den Toten auferstanden wäre.
„Du lachst? Also ist alles in Ordnung?“
„Aber ja“, brummte ich mit Todesverachtung, indem ich mich zunächst zu einer knienden Position aufrappelte; und ich sah, dass Christl ebenfalls im Schnee kniete. „Aber wieso bist du auf einmal da?“
„Weil ich das schauderhafte Gebrüll auf der Straße gehört habe. Und da dachte ich mir gleich, euch geht’s an den Kragen. Ich zog mich schnell an und rannte hinaus, euch nach. Kannst du aufstehen?“
„Aber sicher“, erwiderte ich im Brustton der Überzeugung. Und es gelang sogar, wenn auch nicht ohne Mühe und Christls tatkräftige Hilfe (die mich einerseits glücklich machte, andererseits aber beschämte). Dann erinnerte ich mich an meinen Bischofsstab und den Sack mit den Geschenken und begann die ganze Umgebung danach abzusuchen. Und jawohl, den Sack fand ich ganz in der Nähe, und übrigens, nicht ohne Wehmut, auch meine schöne Bischofsmütze aus Pappe und Papier, schwer ramponiert; und ich dankte ihr im Stillen dafür, dass sie meinem Kopf als Knautschzone gedient hatte. Mein schöner Rauschebart zierte noch immer mein Gesicht. Nur mein Bischofsstab, der war nirgends zu entdecken. Den hatten die bösen Feinde offensichtlich mitgenommen, wohl, um das Corpus delicti verschwinden zu lassen.
Dies alles erzählte ich Christl, damit sie nicht denkt, ich hätte plötzlich den Verstand verloren, und sie schrie erneut entsetzt auf, als sie hörte, in welcher Form sich meine eigene Wunderwaffe gegen mich gekehrt hatte. Und als ich ihr versicherte, mir sei aber nichts passiert außer einer kleinen Ohnmacht und einem bisschen Kopfweh, erklärte sie mich frank und frei zu einem großen Helden, was mich stolz und glücklich machte. Leider sei sie zu spät gekommen, um mein Heldentum zu verhindern. Sie sei dem Krach nachgegangen. Aber dann sei es plötzlich still geworden. Die Kämpfer hätten sich offenbar in Luft aufgelöst. Und sie sei dann einfach den Spuren im Schnee gefolgt.
„He, das finde ich aber super, ich meine, irrsinnig nett, dass du ...“, erwiderte ich gerührt.
Und damit versiegte mein Redefluss.
„Aber geh, das war doch überhaupt keine Frage, nachdem du eben erst bei uns ...“
Und damit versiegte auch ihr Redefluss, und ich wusste nichts mehr zu erwidern.
Wir hatten uns inzwischen in Bewegung gesetzt und wanderten schweigend zu ihrem Elternhaus zurück. Und obwohl ich spürte, dass Christl auf irgendeine Äußerung von mir wartete, wie es eben Kavaliere in Gegenwart von Damen tun, wollte mir nichts mehr einfallen, was ich sagen könnte. Nicht einmal die naheliegende Aufforderung, sich zum Schutz vor den nächtlichen Dämonen bei mir einzuhängen, brachte ich über die Lippen, traute mich auch nicht, ihre Hand zu ergreifen. Gleichzeitig schämte ich mich in Grund und Boden, weil ich mich als derartiger Feigling und Muffel zeigte.
Erst beim Abschiednehmen vor der Haustür brachte ich wieder den Mund auf. Ich drückte ihr meinen Sack mit den restlichen Geschenken in die Hand und trug ihr auf, ihn ihrem Brüderchen als speziellen Gruß vom Nikolaus zu überreichen. Mein Auftritt als heiliger Mann war für diesmal klarerweise beendet.
Und siehe da, in den nächsten Tagen sprach mich Christl in der Schule mehrere Male an. Und so sehr ich auch, in den Worten des Dichters, von ihrem Gruß beglückt war, jedes Mal zeigte ich mich als der gleiche Muffel. Und was war der Erfolg? Sie seufzte leise, wandte sich ab und gab schließlich ihre Versuche auf, mit mir ein Gespräch anzuknüpfen.
In meiner wachsenden Verzweiflung entschloss ich mich, nicht nur gegenüber meinen bösen Feinden, sondern endlich auch gegenüber meiner süßen Geliebten mich wie ein Held, na, sagen wir, wie ein Mann zu verhalten, um mein, das heißt, unser Liebesglück zu retten. Schließlich stand das Weihnachtsfest vor der Tür. Und nennt man es nicht das Fest der Liebe?
Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien machte ich mich also unauffällig an Christl heran, nahm all meinen Mut zusammen und fragte, ob sie vielleicht morgen am Heiligen Abend mit mir die Christmette besuchen wolle. Aber dabei drohten sich mir auf der Stelle die Knie und das liebe Herz zu lösen, ohne dass mein Kopf mit einem Bischofsstab Bekanntschaft gemacht hätte. Aber o Jubel, o Freud: Sie zögerte keinen Augenblick und bejahte meine Frage und schenkte mir ein strahlendes Lächeln und fand das Ganze sogar eine wunderbare Idee. Und ich fühlte mich, als hätte mich das Christkind geküsst.
Also gut. Nächster Tag. Heiliger Abend.
Ich hole Christl ab. Gemeinsam wandern wir zur Kirche. Wieder rühmt sie mich als großen Helden. Wieder weiß ich darauf nichts zu sagen. Und wieder herrscht ärgerlicherweise verlegenes Schweigen zwischen uns.
Wir erreichen die Kirche. Die Mette hat bereits angefangen. Wir finden uns nur noch einen Stehplatz inmitten der dichtgedrängten Menge. Wir stehen so eng beieinander, dass wir uns zeitweise berühren, natürlich unabsichtlich. Und da geschieht des großen Weihnachtswunders erster Teil: Die Erinnerung an die bösen Feinde gibt mir plötzlich unverhofften Mut. Zu meiner eigenen Überraschung ermanne ich mich und traue mich auf einmal Christls Hand zu ergreifen. Und o Jubel, o Freud: Sie entzieht sie mir nicht, schenkt mir sogar ein unbeschreiblich süßes Lächeln, lehnt sich gegen meine Schulter. Und dies offenbar in voller Absicht. Mein Herz schlägt wie das eines Skispringers, bevor er abhebt. Ja, ich glaube tatsächlich abzuheben und himmelwärts zu schweben. Meine Gedanken sind nicht mehr bei der heiligen Handlung, nicht mehr bei der Geburt des Erlösers, nicht mehr bei der Krippe, den Hirten und den himmlischen Heerscharen, sondern nur noch bei Christl und dem Zauber, den ihr Lächeln, ihre Nähe, ihre Berührung ausstrahlt.
Und da geschieht des großen Weihnachtswunders zweiter Teil: Der Zauber wirkt. Ich ermanne mich abermals. Ich schlinge meinen freien Arm um Christls köstlichen Leib, ziehe sie an mich und küsse sie. Und o Jubel, o Freud: Sie entzieht mir auch ihre Lippen nicht, im Gegenteil, sie erwidert meinen Kuss und blickt mich mit glückseligen Augen an; die Augen ihres Brüderchens im Angesicht des festlich geschmückten Lichterbaums können kaum glückseliger gestrahlt haben. Die frommen Menschen rund um uns sind zwar, so wie es aussieht, empört ob unseres angeblich unheiligen Benehmens. Aber uns berührt das nicht, und jener erste Kuss ist bei weitem nicht der letzte, den wir während dieser Christmette tauschen.
Und des großen Weihnachtswunders dritter Teil: Obwohl ich gerade jetzt schweigen sollte, weiß ich mit einem Mal unendlich viel zu sagen, das heißt, Christl zuzuflüstern. Zugleich weiß ich, dass soeben meine langersehnte Metamorphose vom Kind zum Mann stattgefunden hat.
Und weiß endlich auch, warum man Weihnachten das Fest der Liebe nennt.
Großes hat an mir getan der Mächtige
Bericht des Sonderkorrespondenten der Acta Diurna (Rom) aus Nazareth (Palästina)
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"Sehr gut!" (Franck Sezelli)
"herrlich intelligent geschrieben .... fühlte ich mich als Leser absolut bestens davon unterhalten" (Bleistift)
Das Wunder einer Weihnachtsnacht
https://www.bookrix.de/_ebook-karl-plepelits-das-wunder-einer-weihnachtsnacht/
"Eine wundervolle Geschichte!!!!!" (schnief)
"Eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte, sehr gut geschrieben" (katerlisator)
"Eine wirklich herzerwärmende Geschichte" (Loreley)
"Lieber Karl, eine wirklich berührende Weihnachtsgeschichte hast Du da geschrieben" (Franck Sezelli)
"Was für eine hochkarätig emotionale Weihnachtsgeschichte, die nur einem mit dem Herzen Lesenden ... so richtig unter die Haut geht ... Die Tinte, mit der diese Geschichte geschrieben wurde, besteht in der Tat aus Herzblut pur" (Bleistift)
Texte: Karl Plepelits
Cover:
Satz: Von Stevoeg - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8746839
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2022
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