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Mein Rußlandabenteuer

 

Montag, 24. Mai 1993.

 

Liebes Tagebuch!

Stell dir vor, von wo ich gestern abend heimgekehrt bin! Aus Rußland!

Ja, es war das erste und bestimmt das letzte Mal, daß ich dieses Land bereist habe, das bis vor kurzem noch Sowjetunion hieß und dazu noch, ich weiß nicht, wieviele sogenannte Sowjetrepubliken besetzt hielt, z. B. die Ukraine oder die drei baltischen Staaten. Die haben jetzt also die russische Besatzung endlich abgeschüttelt und sind von Moskau unabhängig geworden.

Dabei war Ruski (korrekt Russkii) das erste und damals noch einzige fremdsprachige Wort, das ich kannte. Ich lernte es kennen im Jahre 1945. Da war ich fünf, wußte aber, oder glaubte zu wissen, daß es eine abfällige Bezeichnung ist und daß man es nicht laut sagen darf. Richtig mußte es heißen: Sowjetmensch. Ich wohnte damals nämlich mit meiner Mutter zuerst in Wien und bald danach in Niederösterreich und damit in der russisch, pardon, sowjetisch besetzten Zone. Mein heißgeliebter Vater war im Krieg gefallen, irgendwo im „Osten“, sprich, von „Sowjetmenschen“ getötet. Daß meine Liebe zu ihnen seither nicht gerade überwältigend ist, versteht sich wohl von selbst.

Inzwischen gibt es keine Sowjetmenschen mehr, sondern nur noch Russen, Ukrainer usw. Es gibt auch keine Sowjetunion mehr, sondern nur noch Rußland, die Ukraine usw. Denn mittlerweile bin ich keine fünf Jahre mehr und betätige mich (unter anderem) als Reiseleiter. Und wurde nun mit einer Reisegruppe nach Rußland geschickt, konkret in die ehemalige Zarenstadt St. Petersburg, das bis vor kurzem noch Leningrad geheißen hat und als eine der schönsten Städte der Welt gilt. Die Reise war so gut gebucht, daß zwei Reisegruppen gebildet werden mußten. Die eine leitete eine liebe Kollegin, die andere ich.

Und hier hat es sich gelohnt, in der russischen Besatzungszone aufzuwachsen und nicht in der britischen wie sie. Denn während des Fluges hat sie sich noch vor mir aufgemacht, um die von der russischen Botschaft in Wien ausgestellten Listen der Teilnehmer aus ihrer Gruppe abzuarbeiten – zu welchem Zweck, habe ich nie ganz kapiert. Jedenfalls wanderte sie durch die Reihen und versuchte die Namen der Teilnehmer aufzurufen. Nur waren diese, die Namen nämlich, leider in kyrillischer Schrift geschrieben. An dieser Hürde drohte die arme Kollegin zu scheitern. Und war heilfroh, als ich aufsprang, um ihr beizustehen. Denn die kyrillischen Buchstaben sind für mich zum Glück kein Buch mit sieben Siegeln, weil ich in meiner Schulzeit, rein aus Interesse, Russisch als Freigegenstand besucht habe, die unser Geschichtsprofessor angeboten hat. Offenbar dachte er, die Bedrohung durch den Russischen Bären ist so akut (war’s ja auch), daß es sicher kein Fehler ist, ein bißchen Russisch zu verstehen oder wenigstens lesen zu können.

Nun, wir landeten am Sankt Petersburger Flughafen Pulkovo und wurden nach den langwierigen, noch verdächtig sowjetisch anmutenden Kontrollzeremonien von zwei jungen Fremdenführerinnen empfangen. Meine hieß Irena oder auch Irina. Diese Diskrepanz, erklärte sie mir sogleich, ist darauf zurückzuführen, daß sie in Polen geboren wurde und in Rußland aufwuchs. Irina ist russisch, Irena polnisch. Und sie fühlte sich allem Anschein nach noch immer mehr als Polin denn als Russin.

Irena war zwar alles andere als attraktiv, aber dafür sehr sympathisch, sehr freundlich, sehr charmant und vor allem sehr gut – soll heißen, kenntnisreich und fast perfekt im Deutschen. Und – was soll ich sagen – sie zeigte und erklärte uns alle wichtigen Sehenswürdigkeiten, allen voran die weltberühmte Eremitage (oder Ermitage; so heißt sie nämlich auf Russisch) und die nahe der Stadt gelegenen Zarenschlösser, aber auch z. B. den Tichwiner Friedhof mit seinen Gräbern von Dostojewski, Tschaikowski und vielen anderen weltberühmten russischen Künstlern. Sie verhehlte aber auch nicht, daß sich hinter den prachtvollen Fassaden düstere Gassen und Müllhalden verbergen, während historische Gebäude verfallen und sogar einstürzen.

Wenn ich sagte, Irena war sehr freundlich, sehr sympathisch und sehr charmant, so wurde mir bald klar, daß sie vor allem zu mir sehr freundlich usw. war. Faktum ist: Sie fühlte sich allem Anschein nach sehr zu mir hingezogen. Das erinnerte mich allerdings an die Aussage von Reiseleiterkollegen, die mir übereinstimmend versichert hatten, daß viele Russinnen alles tun würden, um sich einen EU-Bürger zu schnappen. Nun ja, sagte ich mir, zum Schnappen gehören immer zwei. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mir was mit Irena anzufangen, und wenn sie noch so attraktiv und sexy gewesen wäre. Schließlich habe ich daheim schon eine Ehefrau.

Untergebracht waren wir in einem hässlichen, düsteren Sowjet-Gewerkschaftheim irgendwo in der Pampa, jedenfalls weit außerhalb St. Petersburgs. Nach dem Abendessen, und nachdem alle meine Schäflein brav schlafen gegangen waren (ein anderes Vergnügen gab es hier halt nicht) plauderte Irena jeden Tag nächtelang mit mir und beklagte sich unter anderem gar heftig über die politische und wirtschaftliche Misere ihres Landes.

Was macht unseren Staat so kaputt, daß das Volk seit dem Ende der Sowjetunion im Elend versinkt, während sich einige wenige maßlos bereichern können? Zu den Ursachen, erklärte sie mir, zählt ohne Zweifel die allgegenwärtige Korruption und die unerträgliche Behördenwillkür. Auf die lukrativen Posten kommt angeblich nur, wer Dreck am Stecken hat. Da ist bestimmt was dran. Und vor allem sind die staatlichen Behörden, so scheint es, nur dazu da, die Bürger zu schikanieren, ja zu demütigen. Ihre Königswaffe heißt auf Russisch Schtraf, und jawohl, das bedeutet Strafe. Vermutlich eine Entlehnung aus dem Deutschen, und es wird auch so ausgesprochen und sogar geschrieben: Schtraf. Schtraf müssen wir pausenlos zahlen, speziell für Dinge, die wir nicht verbrochen haben. Mit einem Wort: Der Staat ist allmächtig. Dabei hört man doch ständig, jetzt hätten wir endlich die wirkliche Demokratie.

In diesem Sinne klagte mir Irena die Ohren voll.

Als sie einmal nichts mehr zu sagen wußte, erwähnte ich eine Beobachtung, die ich wiederholt in den Kirchen der Stadt gemacht hatte: Die sind nämlich anscheinend zu jeder Tages- und Nachtzeit vollgestopft mit Gläubigen. Sie küssen die Ikonen und bekreuzigen sich in einem fort. Und das kaum zwei Jahre nach dem Ende eines radikal atheistischen Systems, das seine Bürger mehr als siebzig Jahre lang zu indoktrinieren versucht hat.

Und was erwiderte Irena?

Herr Karl, Sie haben recht. Aber ich kann diese merkwürdige Diskrepanz leider auch nicht erklären. Dabei hat sich die orthodoxe Kirche noch nie besonders um ihre Schäflein gekümmert. Viel wichtiger als Gottes Segen war und ist ihr der Geldsegen. Und ja, der fließt auch reichlich. Dazu muß man sagen, daß es bei uns keine Kirchensteuer gibt so wie bei Ihnen. Man bewundert die Kirche wegen ihres wirtschaftlichen Erfolges und nicht so sehr in spiritueller Hinsicht. Na ja, man praktiziert halt einfach Untertanentreue, bekreuzigt sich, hält die Fastentage ein und spendet fleißig. Doch in Sinn- und Wertfragen des Daseins traut man den Popen nicht. Kein Wunder, denn die Kirche verwirft strikt die westliche Auffassung von den Menschenrechten und plädiert für Autoritätshörigkeit gegenüber dem Staat.

So plauderte Irena, wie gesagt, stunden- und nächtelang mit mir, stets charmant, stets freundlich lächelnd – ob mit Hintergedanken, konnte ich natürlich nicht wissen. Interessierte mich aber auch nicht. Zudem erweckte sie in mir keinerlei erotische Gefühle. Bei ihr scheint das anders gewesen zu sein. Denn am Ende der Reise geschah beim Abschied auf dem Flughafen etwas völlig Unerwartetes.

Irena verabschiedete sich von mir mit einem langen, warmen Händedruck und verdächtig glitzernden Augen. Sobald ich die neuerlich äußerst langwierige Paßkontrolle glücklich passiert hatte, blickte ich zurück. Und was sah ich da? Ich glaubte zu träumen: Irena stand regungslos an der Sperre, blickte mir nach und heulte hemmungslos. Ich konnte nur dastehen und ihr hilflos zurückwinken. Sie schickte mir mit der Hand einen angedeuteten Kuß, wandte sich abrupt um und rannte davon wie ein ertappter Dieb. Zum Glück war ich als Letzter durch die Kontrolle gegangen. Alle anderen waren längst vorausgegangen, um die Duty-Free-Läden zu stürmen, sodaß keiner diese möglicherweise kompromittierende Szene beobachten konnte.

Ja, das wär’s. Bis bald, Karl

 

Postscriptum 1994.

Heuer wurde diese Reise wiederholt. Aber es gab nur eine Reisegruppe, und die leitete meine Kollegin. Und siehe da, bei der Rückkehr hatte sie eine große Überraschung für mich: einen Kunstband aus der DDR, also in deutscher Sprache. Auf dem Vorsatzblatt entdeckte ich eine persönliche Widmung. Sie lautet:

Mit vielen Grüßen aus Petersburg

Irena

 

Lesegenuss mit deutlich weniger schüchterner Russin bietet der kostenlose Roman:

 

 

 

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"Eine schöne Geschichte. Die Wortwahl verzaubert einen nahezu und die Prise Humor macht die Geschichte richtig lesenswert. Die Geschichte ist gut erzählt und es macht Spaß sich in den Roman zu verlieren." (Viktoria L.)

 

Angaben zum Autor

 Geboren 1940 in Wien, wuchs Karl Plepelits in Melk an der Donau auf, besuchte das Gymnasium im berühmten Benediktinerstift Melk, studierte Klassische Philologie, Alte Geschichte und Anglistik in Wien und Innsbruck, plagte Schüler mit Latein, Griechisch und Englisch, vertrat die Österreichische Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thesaurus linguae Latinae in München, leitete Reisende in alle Welt (oder auch in die Irre), z. B. 1993 nach St. Petersburg, veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel auf dem Gebiet der Latinistik, Gräzistik und Byzantinistik, übersetzte griechische Romane der Antike und des Mittelalters (erschienen im Hiersemann Verlag, Stuttgart). Und angeregt durch einige von ihnen, die unglaublich spannend und ergreifend sind, widmet er sich seit Jahrzehnten auch dem aktiven Literaturschaffen.

Impressum

Texte: Karl Plepelits
Cover: By Alex 'Florstein' Fedorov, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=34291049
Tag der Veröffentlichung: 05.09.2022

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