Mailand. Sonntag, 23. Februar 2020.
Liebes Tagebuch!
Tiefblauer Himmel. Milde Temperatur für Februar. Auf dem riesigen Platz vor dem Mailänder Dom drängt sich eine unübersehbare Menschenmenge, sodass man Mühe hat, seine Schönheit zu bewundern. Ein ähnliches Gedränge herrscht in der berühmten Galleria Vittorio Emanuele II. Sie grenzt an den Domplatz, und wir müssen sie durchqueren, meine Frau und ich, um zur Scala, der weltberühmten Mailänder Oper, zu gelangen und eine Nachmittagsvorstellung zu erleben.
Nun gut. Wir betreten die Piazza della Scala, deren Zentrum inmitten einer kleinen Grünanlage das hohe Denkmal für Leonardo da Vinci beherrscht – und verhalten unvermittelt, wie vom Donner gerührt, unseren Schritt. Denn auch hier herrscht ein unglaubliches Gedränge, am dichtesten direkt vor dem Eingang zur Scala. Dorthin versuchen auch wir uns durchzudrängen.
Aber o Schreck: Der Eingang – fest verriegelt. Die Scala – geschlossen. Heute keine Vorstellung.
Melk. Montag, 24. Februar 2020.
Liebes Tagebuch!
Letzten Donnerstag, es war der 20. Februar, waren wir kurz nach acht Uhr früh mit dem Nachtzug in Mailand angekommen und hatten im nahe dem Dom gelegenen Hotel President eingecheckt. Unser längst gebuchtes Zimmer durften wir freundlicherweise sofort beziehen. Danach begannen wir sofort mit unserer Besichtigungstour. Meine Frau hatte sich, ich glaube, monatelang akribisch auf diese Reise vorbereitet und diente mir jetzt als Reiseleiterin und Fremdenführerin. Am häufigsten und intensivsten besuchten wir natürlich den Dom, die größte gotische Kathedrale der Welt und die mit Abstand bedeutendste Sehenswürdigkeit der Stadt. Ihn zu besuchen war übrigens gar nicht so einfach. Man musste jedes Mal geduldig in einer langen Schlange warten, bevor man eingelassen wurde. Eine besonders lange Schlange wartete vor dem Lift, der die Besucher aufs Dach befördert. Dort oben drängten sich daher die Massen besonders dicht.
Apropos dichtgedrängt: Ein gewaltiges Gedränge erlebten wir jedes Mal auch in der Metro, mit der wir an diesen vier Tagen kreuz und quer durch Mailand fuhren, um zu den vielen Kirchen und Museen und sonstigen Sehenswürdigkeiten zu gelangen, die meine Frau in ihr Besichtigungsprogramm aufgenommen hatte, darunter die zweitgrößte Sehenswürdigkeit Mailands, das weltberühmte Letzte Abendmahl von Leonardo da Vinci, aber auch das Castello Sforzesco mit der kaum weniger berühmten Rondanini Pietà von Michelangelo, und, was mich persönlich besonders interessierte, das archäologische Museum. Hier kann man quasi eine Zeitreise in das antike römische Mediolanum, kaiserliche Residenz im 4. Jh., machen.
Und es kam der Sonntag, der vierte und letzte Tag unseres Mailandabenteuers. Besichtigungen waren keine mehr vorgesehen, nur noch der Besuch einer Aufführung in der Scala am Nachmittag. Gegeben wurde Il Trovatore von Verdi. Beginn um drei Uhr. Eintrittskarten hatten wir uns längst zu Hause im Internet besorgt.
Aber was war das? Wir betraten die Piazza della Scala und trauten unseren Augen nicht. Vor dem Eingang wartete schon eine unübersehbare, dichtgedrängte Menge.
Aber es wurde immer später, und nichts ging weiter. Das Eingangstor war immer noch geschlossen. Wie sollten wir dann noch rechtzeitig hineinkommen, ehe sich der Vorhang hebt? Wir wurden nervös und versuchten uns zum Eingang durchzudrängen. Als wir nahe genug dran waren, sahen wir’s: Nicht nur am Tor selbst, sondern auch rundum an den Wänden hingen oder klebten weiße DIN-A4-Zettel, und auf denen stand zu lesen, dass die Scala heute geschlossen bleibt. Grund: Ausbruch der Corona-Epidemie in der Lombardei.
Ja, da war guter Rat teuer. Die Zeit bis zur Abfahrt des Nachtzuges nach Wien mussten wir irgendwie sinnvoll herumbringen. Wir entschieden uns für die nicht allzu weit entfernt gelegene Pinacoteca Ambrosiana, zu deren größten Schätzen der Früchtekorb von Caravaggio zählt.
Während wir am Abend am (ungeheizten, eiskalten) Bahnhof Porta Garibaldi (und merkwürdigerweise nicht an der Stazione Centrale) inmitten einer dichtgedrängten Menschenmenge darauf warteten, dass unser Zug bereitgestellt wird, spricht uns ein Herr aus Wien an, der ebenfalls auf unseren Zug wartet. Er teilt uns mit, dass das Coronavirus in einem Ort 60 km südlich von Mailand bereits ein Todesopfer gefordert hat. ´Daher waren wir sehr erleichtert, als wir endlich unser Schlafwagenabteil beziehen durften und konnten nur hoffen, dass wir in all dem Gedränge nicht schon selbst das Virus eingefangen hatten.
Liebe Grüße, Dein Karl
Nachtrag: Dienstag, 24. März 2020.
Liebes Tagebuch!
Unterdessen wissen wir, dass die Schreckensnachricht von der Stazione Garibaldi nur zum Teil richtig war. Am 23. Februar, so lasen wir, verfügte Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte die Quarantäne der 60 km südöstlich von Mailand gelegenen Kleinstadt Codogno und 9 weiterer Orte in der unmittelbaren Umgebung.
Erkannt wurde die Infektion zum ersten Mal am 20. Februar, unserem ersten Tag in Mailand. Bis dahin hat in Europa niemand an Corona gedacht, galt das Virus doch als rein chinesisches Problem. Aber an diesem Tag wurde im Krankenhaus von Codogno ein Patient mit einer auffällig schweren Lungenentzündung eingeliefert. Schon einige Tage davor hatte man bei ihm eine leichte Lungenentzündung diagnostiziert, ihm eine Schachtel Antibiotika in die Hand gedrückt und ihn wieder nach Hause geschickt. Doch dann verschlechterte sich sein Zustand so dramatisch, dass er in die Notaufnahme gebracht wurde. Auf seine Frage, ob er vielleicht Corona habe, erklärte ihm der Stationsarzt, dass das Coronavirus nicht einmal wisse, wo sich Codogno befindet. Das Virus wütete damals vermeintlich nur in Wuhan, Tausende Kilometer entfernt.
Aber eine Anästhesistin fand es merkwürdig, dass bei dem Patienten, einem sportlichen Marathonläufer, keine der üblichen Therapien eine Besserung bewirkt. Ungeachtet der Weisung des Gesundheitsministeriums, Coronatests nur bei Rückkehrern aus China vorzunehmen, machte sie bei ihm einen Rachenabstrich. Um 20 Uhr lag das Ergebnis vor: Positiv. Damit gilt er heute als Italiens Patient Nr. 1, „paziente uno“. Er starb nicht, lag aber 20 Tage im Koma. Es ging ihm immer schlechter. Er wurde auf die Intensivstation des Krankenhauses von Pavia verlegt, ins künstliche Koma versetzt und intubiert, das heißt, künstlich beatmet. Fast drei Wochen lang kämpften die Ärzte um sein Leben. Erst vor drei Tagen, also am 21. März, wurde er aus dem Krankenhaus entlassen, ist aber noch äußerst erholungsbedürftig. Bis heute ist ungeklärt, wie oder wo er sich mit dem Coronavirus angesteckt haben könnte.
Schon am Tag, nachdem der „paziente uno“ positiv getestet wurde, also am 21. Februar, starb in der Nähe von Padua der erste Europäer am Virus, und Italien stürzte in einen Alptraum. Ausgerechnet die Lombardei erwies sich als die am stärksten betroffene Region des Landes. Und Mailand, so liest man, ist heute praktisch lahmgelegt. Alles ist geschlossen: der Dom, die Scala, die Museen, die Schulen und Universitäten, usw. Und die Menschenmassen? Sind über Nacht aus dem Stadtbild verschwunden. Mittlerweile kämen wir gar nicht mehr nach Mailand, auch wenn wir wollten. Der Zugsverkehr mit Italien wurde, glaube ich, sofort eingestellt. Mit anderen Worten: Wir hatten Glück, noch rechtzeitig herauszukommen. Bei allem Jammer können wir also froh und glücklich sein, die vorläufig allerletzte Gelegenheit einer Reise nach Mailand genutzt zu haben.
Zum Abschluss bleibt mir nur noch eine Frage zu beantworten: Haben wir in Mailand bei all dem Gedränge uns selbst das Virus eingefangen? Meine Frau sagte: Ja, sicher. Ich sagte: Aber nein, nie. Die Sache ist nämlich die: Sofort nach der Heimkehr wurden wir beide krank. Wir hatten eine schwere Verkühlung mit Schnupfen und Husten, meine Frau sogar mit Fieber. Schließlich rief ich 1450, die Gesundheitshotline für Österreich, an. Kurz darauf bekamen wir Besuch von einem freundlichen Herrn, der uns testete. Tags darauf stand fest: Hurra, wir sind beide negativ!
Und das, mein liebes Tagebuch, war doch ein eher positives Ergebnis, oder was sagst du?
Liebe Grüße, Dein Karl
Texte: Karl Plepelits
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Tag der Veröffentlichung: 09.07.2022
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